Nah am Leben, in your face und laut – diese Trias umfasst die zentralen Dogmen dieser Sprechtexte. Vor allem laut. Um diese quer zu allen traditionellen Genre liegenden Texte zu kommentieren, bräuchte man nur das Lexikon eines Marvel Comics: Wham! Thud! Plop! Arrgh! Zap! Bonk!
Das Werk und Leben von Nora Gomringer bildet eines der vielen wesentlichen Momente in der Erneuerungsbewegung innerhalb der europäischen Literatur. In ihr fließen die Poetiken des 20. Jahrhunderts wie in einem Schmelztiegel ineinander: vom Dadaismus über die Pop-Art, dem Neuen Hörspiel, dem politischen Gedicht bis zum postepischen (Musik)Theater.
›Sprechtexte‹ meint hier keineswegs eine unscharfe Gattungsbezeichnung; der Begriff zielt auf die prima causa ihrer Ästhetik: nämlich die Stimme. Die Niederschrift ist für sie ein Behelf, um das Lyrische schlechthin zur Erfüllung zu bringen. Denn das Gedicht lebt in den Stimmbändern und den Gehörknöchelchen, auf der Zunge ist es und in der Ohrmuschel, von dorther erfasst es das limbische System, von dorther erhöht es den Pulsschlag—nicht umgekehrt.
Ein Wort, das ankommt
»Ich könnte sagen: Ein Wort, das bist auch Du. / Du bist ein Wort, der Klang dahinter«: Ihre Ästhetik will das Antlitz des Anderen, ein Gegenüber, ein klangvolles Du. In dem Gedicht ›Wie soll ich das beschreiben?‹ beispielsweise hadert das lyrische Ich mit den Namen der Dinge. Was es beschreiben will, spricht es aus – sich immerfort nur metaphorisch annähernd, dreimal nähert es sich konjunktivisch: »Ich könnte sagen«. Das (gesprochene) Wort wird erst zum Igel und dann zum Boot, um schließlich als »Du Universum miniature« die Stimme des Gedichts selbst verblüfft feststellen zu lassen: »bist Überraschung und Verwirrung für die, / die deinen Namen sprechen«.
Der Reiz dieses Buchs ist die Texte laut auszusprechen, um ihren Ton zu finden, ihnen Nuancen zu geben, sie zu modulieren: denn die eigentliche Aura und Attitüde des Sprechtextes wird erst als Stimme existent. Mehr als eines Rezipienten bedürfen diese Texte eines Rezitators. Dies gilt sowohl für die herrlich ins Sprachmaterial vergnügten Texte wie etwa ›LAUT! Lesen!‹ (»Boing / Peng / Glibber / So«) als auch für die eher narrativ angelegten Hörspielskizzen wie z.B. ›La Lanterna. Genua speculativa‹.
Vielleicht hat man diesen Sachverhalt in ihrer Arbeit bisher unterschätzt: Während die kombattanten vergangener Epochen und ihre heutigen Epigonen Poesie als gewaltsamen Überzeugungsakt praktizierten, ist das Reizvolle an Gomringers Sprechtexten, dass sie die Zuhörer nicht nötigen Komplizen zu sein, sondern mit ihnen einen Resonanzraum teilen.
Peter von Matt kommentierte einmal im Hinblick auf ihr Werk treffsicher: »[…] ästhetische Militanz, die gelegentlich selbst doktrinär werden konnte, ist Nora Gomringer fremd. Sie mag ihre Vorgänger, kennt weder vater- noch muttermörderische Reflexe. Ihre Modernität ist heiter, beweglich, ohne Verbissenheit«.
Das verletzliche Selbst – sein Flüstern, der Schrei
Ohne Verbissenheit. Diese Haltung ist allerdings nicht mit bemühter Friedlichkeit zu verwechseln, denn die Sprechtexte verhandeln häufig Ausnahmezustände: existenzielle Fragilität, dramatische Kernschmelzen des Selbst. So rückt ihr 2015 erschienener Gedichtband ›Morbus‹ fünfundzwanzig somatische und psychische Gebrechen in den Mittelpunkt des Interesses—nicht als Krankheitsbilder, sondern als Krankheitserfahrungen; auch die Texte im Vorgängerband ›Monster Poems‹ greifen mit unterschiedlichen lyrischen Konzepten Phobien, Traumata, Momente des Entsetzens und Grauens auf.
Beide Bände, der als Trilogie angelegten M-Serie (›Monster Poems‹, ›Morbus‹, ›Mode‹), präsentieren Rollengedichte, die gerade in ›Monster Poems‹ oft als die fiktionale Rede einer Figur eines populären Horrorfilms inszeniert sind – etwa die imaginierte Rede der im SciFi-Film ›Formicula‹ (1954) sonst stummen Riesenameisen: »Seit wir mit einem Schlag und einem Licht und einem Knall / größer als die Häuser über unseren Häusern / geworden sind, / wurden die Blüten, die Blätter, die Früchte zu klein«.
Die Stücke in diesem Band hingegen vollziehen eine radikale Wende. Jeder Text in ›achduje‹ ist ein Kabinettstück der Intimität. Im Gegensatz zu ihren monothematischen Büchern, wird hier ein Potpourri an Themenfeldern offeriert. Gleichwohl scheint das ›Ich‹ dieser Sprechtexte häufig alle Masken abzulegen, sich im riskanten Diskurs der Liebe zu bewegen. Zweifel, Unsicherheiten, rasende Wut, Verletzungen bis hin zu Verzweiflung und Irrsinn – dieser Sturzflug von turbulenten Emotionen wird durch stark narrativ strukturierte Stücke geführt, die zwischen Selbstaufgabe und Selbsthabe schwanken.
Schrecklich nette Familien
In Zusammenarbeit mit der Komponistin Helga Pogatschar entstand das Opernprojekt ›Drei fliegende Minuten‹, zu dem Nora Gomringer das Libretto verfasste (Erstaufführung Roxy Theater, Basel 2013). Hierbei verfolgt sie eine für das postdramatische Musiktheater typische Mischung von Sprechweisen bzw. Textsorten wie dem Soliloquium, der liedhaften Lyrik, der Auflistung, dem Kinderspiel, dem Dialog, dem Reverie, der Konstatierung usf. Obwohl dem Stück durch die Einfügung eines Pro- und Epilogs ein narrativer Rahmen gegeben scheint, lässt sich das Libretto im Grunde in unterschiedliche Szenen gliedern. Da Gomringer darauf verzichtet, das Sprachmaterial unterschiedlichen Rollen zuzuweisen, eröffnet sie der Regie zahlreiche Optionen, mit wie vielen Personen das Stück aufgeführt werden kann.
»Hallo, ist das hier an? Halloooo. Hört mich jemand? Auch ganz hinten? Kann man mich hööören? Kann man mich verstehen?« Was hier als vortragspragmatische Geste dargeboten wird, was hier als eine Serie von praktischen Fragen mit iterativen Elementen (z.B. Hallo … Halloooo … Hört … hinten … höören) einsetzt, ist in ›Drei fliegende Minuten‹ zugleich eine dramatische Exposition.
In einem fast monomanischen Duktus nun stellen Erzählstimmen ein kompliziertes, keineswegs eindeutiges Geflecht an Familienbeziehungen vor. Typologisch werden Mitglieder vorgestellt und ihr Verhältnis zueinander skizziert. Aber die Relationen sind keineswegs klar, vielleicht nicht einmal dem fiktiven Subjekt des Stücks, das sich zunehmend als eine Art unzuverlässiger (oder doch nur unschlüssiger) Erzählerin entpuppt. Ein Spiel der Behauptung und Infragestellung des Behaupteten öffnet Zeile um Zeile immer größere Interpretationshöfe: »Unser Leben war riesig in einem kleinen Haus / in einem roten Haus, / einem blauen / einem weißen Haus auf einer Wiese / in einer Straße / in einem Land nach dem Krieg / in einem Land, das Leben«.
Eingestreut sind diesen konstatierenden Segmenten sodann lyrische Passagen, die auch als solche angekündigt werden, wie etwa »Lied vom missglückten Ernstgenommenwerden« oder »Lied von der ersten Präsentation im Shoppingkanal«. Oder der narrative Rahmen in ›Drei fliegende Minuten‹ wird unterbrochen, um ein populäres Kinderspiel anklingen zu lassen: »Ich packe meinen Koffer …«.
Was also mit dem scheinbar bloß rhetorischen »Kann mich jemand verstehen?« einsetzt, wird zunehmend als eine Exegese des Selbst durch all seine Stimmungen hindurch erkennbar und schließt in einem ärztlichen Behandlungszimmer: »Sage ich zu meiner Ärztin / Die lächelt und sagt, ja sicher / Wenn sie das wollen«.
Was zur Disposition steht, ist– wie etwa auch in dem märchenhaften ›Es ist alles eitel‹ oder dem protokollarischen ›Haus bestellt‹ – die Familie, aus der man kommt oder jene, die aus einem entsteht.
Laut gedacht: »Tippen mit schnellen Spinnenfingern«
Sprechtexte stellen in ihrer Literarizität die Literatur selbst in Frage. Nirgends wird das auf diesen Seiten vielleicht deutlicher als in ›Vorbei bin ich‹. Wieder handelt es sich um eine Sprache der Liebe. Wieder erhalten wir nur einen Snapshot einer leicht als Drama (oder Komödie) vorstellbaren Konstellation.
Als Strukturprinzip dient hier eine minutiös geführte Chronologie von knapp neun Stunden, die um 22:38 mit »Dich nicht anrufen« beginnt und um 7:11 mit dem männlichen Ehrentitel »Arschloch« endet. Das Thema ist, wie gesagt, die Liebe. Der Handlungsrahmen sehr klassisch ist eine Ménage-à-trois.
Ménage-à-trois in Zeiten von SMS oder Whatsapp allerdings. Denn einerseits erzeugen moderne Kommunikationsmedien eine Art skriptural verbürgte Simultanarchivierung der Existenz; aber diesem zitierbaren Bestand an erregter Humanität wird nun andererseits ein innerer Monolog gegenübergestellt.
Paradoxerweise wird also ebenjene literarische Strategie, mit der z.B. James Joyce oder Arthur Schnitzler erstmals das Unlesbare lesbar machten, gegen eine omnipräsente Protokollierung der Welt in Stellung gebracht. Was eigentlich textuell zwischen diesen Menschen liegt, bleibt unlesbar; und was ohne skripturale Gestalt ist, wird zum eigentlichen literarischen Fakt.
Die Liebende in ›Vorbei bin ich‹ scheint in nicht überlieferten Kurznachrichten ihre Hingabe mitzuteilen und doch bleibt jenem Herren das Wesentliche ihres Mitteilungsbedürfnisses verschwiegen: »So hörte es sich an, wenn der Schrei von Munch eine Audiofile wäre« heißt es um 22:56 Uhr. Wie in so vielen anderen Sprechtexten dieses Bandes, erforscht die Dichterin hier die emotionale Wahrheit des Subjekts, vielleicht sollte man präzisieren und sagen: Sie erkundet die Gefühlsprägung westeuropäischer Weiblichkeit.
Was die Dichterin von ihren Expeditionen festhält, ähnelt allerdings nicht Kleists Penthesilea, die ja einst entsetzt und final feststellte: »Der Würfel, der entscheidet, liegt, er liegt«; vielmehr ist das, was sich in den Sprechtexten hier ausspricht, eine allen Apokalypsen zum Trotz immerfort ernstlich vergnügte Selbstironie: »When waiting, a woman is funny«.