„Zehntausend Doppelzimmer mit Meersicht“

Die elegischen Dokumente der Muriel Pic

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Wir erstick­en in Ver­gan­gen­heit. Zugle­ich zählt zur Sig­natur der Mod­erne, der Ver­such, den Blick aufs Ver­gan­gene aus dem Mythis­chen, aus dem Anek­do­tis­chen, aus dem Pro­pa­gan­dis­tis­chen her­auszuheben, zu über­führen in die Evi­denz der Doku­mente, die Analyse von Urkun­den, die Kon­tex­tu­al­isierung von Arte­fak­ten oder die Struk­turen der Diskurse. Mächtige Schulen der His­to­ri­ogra­phie üben ihre san­fte Herrschaft aus übers Ver­gan­gene als eine Dialek­tik aus Prä­ter­i­tum und Plusquam­per­fekt.

So ver­wan­delte sich der Staub zum Sinnbild der nüchter­nen Arbeit von His­torik­ern, an deren Ende graubär­tige olymp­is­che Erzäh­lun­gen der unverk­lärten Rückschau ste­hen, Büch­er: mehr Pilaster als Schlusssteine der Archive. Doch in diese Nüchtern­heit stürzen plöt­zlich die Blicke ein­er Dich­terin: der 1974 in Niz­za gebore­nen Muriel Pic. Bere­its bei ein­er Mono­gra­phie über W.G. Sebald, die die Rezep­tion des Schrift­stellers maßge­blich in Frankre­ich bee­in­flusst hat, beschäftigt sie sich mit dem Ver­hält­nis von Bild und Text.

In dem von Muriel Pics »Lebens- und Arbeitspart­ner« Lukas Bär­fuss ins Deutsche über­set­zten Gedicht­band „Elegis­che Doku­mente / Élé­gies doc­u­men­taires“ sieht man sich kon­fron­tiert mit der unab­weis­baren Tat­sache, dass die Tat­en von Men­schen immer­fort, auch in der wie auch immer vernün­ftig und kon­trol­lierten Rezep­tion, Gefüh­le wal­ten, sich Inter­pre­ta­tio­nen regen, die mehr nach Sin­nrich­tung als nach Deu­tung der Geschichte ver­lan­gen. Ein selt­sames Erleb­nis ist es schon, wenn die Dich­terin zunächst ein Kon­vo­lut an Fotografien, Fak­sim­i­les, Wan­derkarten oder Grun­dris­sen, teil­weise von unbekan­nten Fotografen, vor­legt, um aus diesen heimelig mono­chromen Doku­menten die Ide­olo­gien, Ver­brechen, Wider­sprüche, Sehn­süchte und Utopi­en des 20. Jahrhun­derts ins Sicht­feld ihrer Poe­sie zu rück­en.

„Ich bin der Zeuge dessen / was nicht vor­beige­ht“

Zunächst zeigt sie Doku­mente im Umfeld des von den Nation­al­sozial­sten erbaut­en „Kraft durch Freude“ See­bads Pro­ra auf der Insel Rügen. Ver­flocht­en, nicht ein­fach beige­ord­net, sind diesen his­torischen Doku­menten Elegien, wie sie einem z.B. von freirhyth­mis­chen Gedicht­en aus Paul Celans „Mohn und Gedächt­nis“ oder „Von Schwelle zu Schwelle“ ver­traut sind. In der fün­ften Elegie Pics heißt es über diese mon­u­men­tale Freizeitar­chitek­tur: „Die kolos­sale, boden­lose Entspan­nung.“ Und ohne die per­verse Logik der KdF-Bauher­ren aus den Blick zu ver­lieren, hält die Dich­terin Rückschau im Präsens: „Der Touris­mus ist immer das Gle­iche / immer die gle­iche Insel / das gle­iche Salz, die gle­iche Sonne / die gle­ichen Gesten. […] Der Touris­mus, das ist die Indus­trie des Gle­ichen.“

Inter­essiert am Ver­hält­nis von Bild und Text, spielt die Lit­er­atur­wis­senschaft­lerin Muriel Pic in ihren Elegien unge­niert mit den Tem­pi und Modi, als sei die Geschichte keine ein­fache Gespielin der Gram­matik, als seien Sehen und Bild (Aug und Augen­wei­de) alle Zeit­en und alle Sprech­weisen gle­ichzeit­ig: Kon­junk­tivis­che Hypothe­sen in der drit­ten Per­son „Wenn Pro­ra stattge­fun­den hätte […] / [ihre] blauwandi­gen Ver­sprechen gehal­ten hätte / es wäre ein Ferien­lager / des Drit­ten Reichs gewe­sen“ fließen über in Pas­sagen, darin ein Ich ihr Entset­zen beken­nt: „Ich habe von ein­er Insel geträumt / mit einem uner­messlichen Auge darüber / wie eine ver­faulte Sonne. / Sein Lid schlug nicht mehr. / Ich wollte, dass es aufhöre mich zu betra­cht­en / denn selb­st beim Scheißen, Pis­sen, Weinen betra­chtete es mich.“

Schnitt. Muriel Pic öffnet nun über­raschen­der­weise Archivbestände der Kib­buz­im und Franz Kafkas. Und so sehr die total­itäre KdF-Utopie von „Keine Arbeit ohne Urlaub“ bedrohlich wie die Epi­gramme über den Konzen­tra­tionslagern wirkt „Arbeit macht frei und Kraft durch Freude. / In meinen Träu­men gerät es über Kreuz“, so sehr scheint auf den utopis­chen, basis­demokratis­chen und kollek­tivis­tis­chen Gemein­schaften, die sich die ide­al­is­tis­chen Grün­der der Kib­buz­im ersehn­ten, ein Schat­ten zu liegen. Fotografien unbekan­nter Autorschaft und genauer Datierung: „Kib­buz Ein Har­od: Bienen­züchter mit Rah­men in der Hand“ oder „Honig­duf­ten­der Raut­en­strauch – Kib­buz Kfar Blum [um1950]“, dazwis­chen ein Fak­sim­i­le von „Kafkas Wörter­buch deutsch/hebräisch“ und eine mehrteilige Foto­se­quenz des israelis­chen Umweltschützers Azaria Alon mit z.B. „Der Imk­er Julius Cohen.“

„Him­mel und Grapholo­gie“

Aus diesen Bestän­den entwick­elt Muriel Pic eine Serie von Elegien, deren Schön­heit und Dichte ihres gle­ichen suchen. Die Dich­terin arbeit­et wieder nach der Meth­ode eines wahrnehmungsökonomis­chen Palimpses­ts – mit unglaublich­er Wucht über­lagert sie sozial­is­tis­che Utopie mit der Naturgeschichte von Bienen­völk­ern, der biographis­chen Sehn­sucht des Lit­er­at­en Franz Kafkas mit ein­er bluti­gen Inven­tur der Pogrome und Ver­fol­gung der Juden in Europa und Rus­s­land. Doch gle­ichzeit­ig ver­ket­tet die Dich­terin auch dieses Archiv der Kib­buz­im mit dem Archiv des KdF in der Vorstel­lung der Arbeit. Nach und nach entwick­eln die Elegien den Ein­druck, dass auch das Bienen­volk hier­ar­chisch und durch Zwang organ­isiert ist, dass auch diese Utopie der Arbeit nicht ohne Makel ist. Muriel Pic ver­ar­beit­et Zitate von dem zion­is­tis­chen Denker Aaron David Gor­don: „Die Arbeit? Unsere Reli­gion! / […] /Und kann man Honig ohne Bienen her­stellen? Unser vornehm­lich­es Ide­al / muss die Arbeit sein. / Wir müssen uns alle an die Arbeit machen.“ Doch wie eine Antwort ein­er um die levi­tis­che Recht­gläu­bigkeit besorgten Rab­biner­in auf die rev­o­lu­tionäre Vere­in­nah­mung der Reli­gion heißt es dann in jen­er Elegie: „In den Papieren der Kib­butzniks emi­gri­eren / Marx­is­mus und Absage ans Opi­um des Volkes / ins Heilige Land. / Das Para­dox bringt manch einen durcheinan­der.“

Muriel Pic beherrscht die Kun­st, sich den Doku­menten aus kri­tis­ch­er Sicht zu näh­ern, son­dern aus elegis­ch­er Sorge. Dabei geht es der Dich­terin immer um die exis­ten­zielle Dimen­sio­nen der Wahrnehmung. Wenn sie beispiel­sweise die Archive der Astronomie öffnet verknüpft sie nicht ein­fach­hin den Schreck­en der Wel­traum­raketen und des Atom­ic Age, son­dern schöpft auch aus den Vorstel­lun­gen, von denen der Drang zur Tech­nik unter­spült ist: Auf die – auch mit der Reli­gion eng ver­bun­dene Frage – nach der Herkün­ftigkeit und uni­versellen Aus­dehnung der Dinge, der Wirk­lichkeit. So ist vielle­icht das Sinnbild dieser Dich­terin der Ori­on „der Stern des Forsch­ers / der Stern des Jägers“ dessen Betra­ch­tung einen „Épisto(stel)laire“ her­vor­bringt: „Auf seinem Umkreis hin­ter­lässt der Stern / einen Geruch / eine Geruchsspur / sicht­bar gemacht danke ein­er Meute / […] / Er macht die Hin­weise sein­er Ankun­ft / sichtbar/ wie das Pul­ver des Krim­i­nal­is­ten / den Fin­ger­ab­druck des Mörders.“