Gestern und Übermorgen oder Geschichte einer Geschichte

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Einen groben Plan habe ich schon: Tul­lio Kezich, wie der Held mein­er in Tri­est spie­len­den Geschichte heißt, ist Bankangestell­ter und arbeit­et in ein­er Bank in der Via Roma. Ein biss­chen laut hier, weil’s im Stadtzen­trum liegt. Die Kassen­halle, in der Tul­lio Kezich arbeit­et, ist aus der lang ver­gan­genen Kaiserzeit: Mar­morsäulen, Pulte aus Mahag­o­ni, Lam­p­en mit Kupfer­schir­men – der ganze alte Glanz.

Vierzig Jahre lang hat Tul­lio sich jeden Tag von sein­er Woh­nung in der Via Laz­zaret­to Vec­chio auf den Weg gemacht, das ist die erste Par­al­lel­straße zum Kai. Täglich, vierzig Jahre lang, ist Tul­lio von der Via Laz­zaret­to Vec­chio zur Bank gegan­gen, vor­bei an der Alt­stadt, am römis­chen Amphithe­ater ent­lang, vor­bei an der Börse und über den Cor­so d’Italia.

Ehrlich gesagt, heimge­gan­gen ist Tul­lio nie so direkt. Bei schönem Wet­ter sah er sich manch­mal ver­führt, am Cor­so Rich­tung Piaz­za Grande abzuschwenken, einen Blick aufs Meer zu wer­fen oder ein wenig den Wolken zuzuschauen, wenn da welche waren. Nicht dass Tul­lio speziell ein Naturlieb­haber gewe­sen wäre. Doch nach der Stick­igkeit der Bank, dem kün­stlichen Licht und der Arbeit am Pult liebte er es, seine Nase in die frische Seeluft zu steck­en, seine Augen im Him­mels­blau ruhen zu lassen, auf den bald gold­e­nen, bald wieder grün oder vio­lett über­laufe­nen Wolken, die der Wind Rich­tung Gebirge trug, Rich­tung Duino. Um die Sache abzu­run­den, set­zte er sich manch­mal auf einen Cam­pari ins Café degli Spec­chi. Und dann schaute er auf die Uhr.

Bei schlechtem Wet­ter war das Rit­u­al ein wenig anders: Es gibt da einen kleinen Wein­auss­chank in der Via del­la Cat­te­drale, sie führt steil nach San Gius­to hin­auf und zur Burg. In dem engen, düsteren und eher kahlen Raum find­en sich gut aufgelegte Män­ner um die aufge­bock­ten Rotwe­in­fäss­er zusam­men – eine Frau sieht man nur sel­ten hier. Den Hut nach hin­ten geschoben, den Man­tel geöffnet, so dass der Bauch Platz hat, gesellt man sich zur Runde, die die zwei Pulte in der Mitte des Raums umste­ht, oder man stellt sich an die Bar, wo man auch seine Tasche abstellen kann.

Zu essen gibt es hier nichts, außer ein­gelegten Zwiebeln oder saurem Tin­ten­fisch. – Die Zeit ver­fliegt, und schaust du auf deine Uhr, ist es immer zu spät.

Kommt Tul­lio vom Auss­chank in der Via del­la Cat­te­drale heim, herrscht meist schlechte Stim­mung im Haus. Augus­ta, seine altge­di­ente Ehe­frau, schw­er zu sagen, wie lang sie schon ver­heiratet sind, ste­ht im Durch­gang zur Küche, die Arme über der Brust ver­schränkt, und schaut ihm zu, der Mühe hat, sich zu bück­en und die Schuhe auszuziehen: Die Spaghet­ti sind schon eine ganze Stunde fer­tig!

(Als ich die Stadt die ersten Male besuchte, wohnte ich stets im Hotel Cit­tà di Paren­zo, in der Via Artisti, eine kurze und sehr enge Straße par­al­lel zum Cor­so, gle­ich unterm Burghügel. Es war her­rlich, nach­mit­tags in der Küh­le des Zim­mers zu liegen, zu träu­men und zu den grü­nen Pinien am Abhang des Hügels hinzuschauen. Damals sagte mir der Name Cit­tà di Paren­zo nichts. Erst als sich das Hotel mit immer mehr Albanern zu füllen begann, die ihre Heimat in den let­zten Jahren der kom­mu­nis­tis­chen Herrschaft ver­lassen hat­ten, wurde mir klar, dass es eine Stadt namens Cit­tà di Paren­zo auf der Land­karte nicht mehr gab, dass die Stadt, die ein­mal diesen Namen getra­gen hat­te, jet­zt Porec heißt.)

Am Woch­enende, das heißt, meist nur am Son­ntag, ging Tul­lio das Auto holen, das son­st in ein­er Garage beim alten Güter­bahn­hof abgestellt war: Sie bere­it­eten einen Aus­flug vor, eine Aut­o­fahrt. Und während Augus­ta eine Decke fürs Pick­nick vor­bere­it­ete und einen Korb reich­lich mit Lebens­mit­teln pack­te, wandte Tul­lio sich, anstatt direkt zur Via Laz­zaret­to Vec­chio zu fahren, hin­auf zu den Andrea-Ter­rassen, um sich dort vor eins der Cafés zu set­zen und den jun­gen Mäd­chen nachzuschauen. Natür­lich nur so lange es brauchte, den Kaf­fee zu trinken; dann eilte er hin­unter zum Auto und war daheim rechtzeit­ig zur Stelle.

Oft fuhren sie über Mil­je nach Kop­er und weit­er nach Izo­la – doch niemals weit­er. An einem bes­timmten Punkt bogen sie von der Haupt­straße ab und hiel­ten dann auf der Anhöhe eines Hügels. Dort, mit dem Blick aufs Meer, saßen sie nebeneinan­der auf der Decke, Tul­lio offen­bar, oder auch wirk­lich, in seine Zeitung ver­tieft, während Augus­ta, sie hat­te den Rock aus­ge­zo­gen und über einen niederen Bau­mast gehängt, vor sich hin­träumte.

Ursprünglich kam Augus­ta ja von Rovi­g­no her, das heute Rov­inj heißt, und da, lang her, traf sie ihren Tul­lio: Mit­glied ein­er aus­ge­lasse­nen ital­ienis­chen Urlaub­s­ge­sellschaft trat er als küh­n­er Segler auf. Sie waren am Kap Savu­dria vor­beige­segelt und über Umag nach Rov­inj.

Augus­ta und ihre Fam­i­lie mussten die Stadt nach dem Krieg ver­lassen. Sie bracht­en nur ein paar Kof­fer mit, das war alles, und zuerst lebten sie in den alten Spe­icher­häusern beim Haupt­bahn­hof. Und dort holte ihr Tul­lio sie her­aus.

Tul­lio, unter uns gesagt, hätte es im Grund vorge­zo­gen, die Gren­ze nach Slowe­nien nicht zu über­schre­it­en. Eher wäre er schon in den Karst gefahren, zum Beispiel nach Baso­viz­za oder Rich­tung Zgo­nik oder Con­tovel­lo. Ein kurz­er Spazier­gang durch einen Wald von niederen Eichen und Föhren, ein Nick­erchen auf ein­er der mit weichem, smaragdgrünem Gras bedeck­ten Lich­tun­gen, ein Gespräch mit Augus­ta über irgen­dein Haushalt­sprob­lem oder den Kon­to­stand ihrer drei Spar­büch­er: Und schon war es an der Zeit, in eins der Wein­bauerndör­fer zuzukehren, unter den grü­nen Buschen: Dort, sehr zum Miss­fall­en von Augus­ta, sang Tul­lio gern mit den slowenis­chen Bauern oder den jun­gen Leuten aus dem Dorf:

In una osmiz­za oscu­ra
Las­cia mi riposar ...

Während in der Gegend von Zgonik/Gabrovizza der Rotwein, genan­nt Ter­an, vorherrscht, gibt es in der Gegend ums Rosan­dra-Tal in der Haupt­sache Weißwein: Für Tul­lio Kezich also waren diese Aus­flüge im Prinzip Aus­fahrten zum Rot- oder zum Weißwein; wenn auch Augus­ta vom Reiz der Land­schaft redete oder von etwas Ähn­lichem.

(Später ein­mal lebte ich für län­gere Zeit in der Vorstadt Servola/Ronco, in einem Wohn­block, dessen Fen­ster sich auf eine hof­fungs­los laute Straße zum Hafen hin­unter öffneten. Meine Nach­barn waren Eisen­bah­n­er, Hafe­nar­beit­er und Arbeit­slose. Der Lärm trieb mich öfter in die kleinen Bars von Dolina – oder ich wan­derte ent­lang der aufge­lasse­nen Eisen­bahn­lin­ie nach San Lorenzo/ Sveti Lovrenc. Dort kam ich eines Abends mit einem alten Slowe­nen ins Gespräch, einem Wein­bauern aus dem Dorf, der mir auf die Frage, weshalb er denn so gut Deutsch spräche, ganz gelassen antwortete, das habe er in einem Konzen­tra­tionslager in Deutsch­land gel­ernt.)

Eines schö­nen Tages erscheint Tul­lio früh mor­gens, um zehn, gle­ich nach­dem sie auf­machen, im Wein­auss­chank in der Via del­la Cat­te­drale. – Was ist los, Tul­lio, fragt der fette Wirt, unrasiert und noch nicht ganz wach. Es ist sofort klar, dass irgen­det­was nicht stimmt, Tul­lio ist unrasiert. Anstelle ein­er Antwort fällt er dem Wirt um den Hals und fängt fürchter­lich zu weinen an: Augus­ta ist gestor­ben! Heute Nacht. Abends hat er noch im Bett mit ihr gere­det, und am Mor­gen war sie tot.

Um seinem raschen Zusam­men­bruch vorzubeu­gen – Tul­lio ließ auch die Arbeit in der Bank sein, mehr oder weniger aus Mitleid set­zte man ihm eine Rente aus – um sein Abrutschen in Trunk und Hoff­nungslosigkeit aufzuhal­ten, Tul­lios und Augus­tas Tochter, ihr einziges Kind, wohlver­heiratet mit­tler­weile mit einem Ver­sicherungsagen­ten, sie leben in Cor­mons in der Nähe von Görz – kurz gesagt, die Tochter nimmt ihn zu sich. Da lebt er jet­zt, im eige­nen Zim­mer, ein etwas hin­fäl­liger, alter Mann, die Hemd­krä­gen, sie sind ihm zu weit gewor­den, flat­tern um seinen Nack­en. Nach­mit­tags geht er spazieren und trinkt seinen Cam­pari in der Cafébar auf dem run­den Platz vor dem Dom, oder draußen, wenn gutes Wet­ter ist. Und wenn er genug hat, trinkt er noch einen.

(Später ent­deck­te ich, dass das einzige Konzen­tra­tionslager auf ital­ienis­chem Boden in Tri­est war, in der Reis­fab­rik von San Sab­ba; errichtet und betrieben von der SS, unter dem Kom­man­do von Odi­lo Globoc­nik, einem Kärnt­ner. – Eines Tages ging ich hin, durch die dun­klen, stick­i­gen Lager­hallen, und schaute mich um. – In meinem Stamm­lokal, zu der Zeit war das ein Café auf der Piaz­za Ver­di, nicht weit weg vom Revi­er meines Helden Tul­lio, gle­ich hin­ter dem The­ater, ver­sicherte man mir abends dann in bre­it­em Tri­estin­er Dialekt, die Öster­re­ich­er seien doch die Größten, die Besten – und natür­lich und speziell wieder die Wiener! – „Francesco Guiseppe – il nos­tro Kaiser! Ha fat­to tut­to bene!“ – Na, bitte sehr!)

Ger­ade in let­zter Zeit komme ich wieder öfter nach Tri­est, meist auf ein paar Tage. Die Stadt flo­ri­ert jet­zt, ist her­aus­geputzt, hat wieder Kon­junk­tur. Die Gren­zen sind offen, Europa funk­tion­iert hier offen­bar. – Ob ich die Geschichte von Tul­lio endlich fer­tigschreiben werde? Mir kommt vor, er passt nicht mehr recht hier­her, in die Stadt, in all den neuen Glanz und bun­ten Betrieb. Im Übri­gen: Er lebt nicht mehr, Tul­lio, der Schlag hat ihn getrof­fen, in Cor­mons dort, vor seinem Cafè, an dem kleinen Tis­chchen auf der Straße, mit­ten in der Sonne.