Der milde Wilde – Ken Russel

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Ken Rus­sell, 1927 – 2011, war ein­er der wichtig­sten Film­regis­seure des 20. Jahrhun­derts. Dieses Porträt ent­stand im Früh­jahr 1986 für das Frank­furter All­ge­meine Mag­a­zin. Der Text ist nie erschienen, da der Foto-Redak­teur des Mag­a­zins die wun­der­bare Foto­strecke von Lil­lian Birn­baum, die meinen Text begleit­en sollte, als „zu wenig insze­niert“ abgelehnt hat. Den Beitrag heute, in den 20er Jahren des 21. Jahrhun­derts zu lesen, gle­icht gewis­ser­maßen ein­er Reise mit der Zeit­mas­chine.

Er sieht ganz wie ein Musik­er aus.

Jet­zt summt er, im Taxirück­sitz, leise vor sich hin.

Kom­pon­is­ten, Diri­gen­ten, Opern­sänger zählen zu seinem Fre­un­deskreis.

Er kann keine Noten lesen.

Rock­stars zählen zu seinem Fre­un­deskreis.

Er sieht Beethoven auf­fal­l­end ähn­lich, bilde ich mir ein.

Mahler, Strauß, Elgar und Delius, Tschaikowsky und Liszt sind die Helden sein­er Träume. Träume, die er in üppige, über­mütige Kom­pon­is­ten­filme ver­wan­delt hat, im Laufe der let­zten zwanzig Jahre.

Teufels­be­sessene Non­nen, per­vertierte Priester, Sadis­ten, Masochis­ten und andere Psy­chopa­then sind die Helden sein­er Alp­träume – zu Licht­spielfig­uren hat er auch sie gemacht, in Fil­men wie ‚The Dev­ils‘, ‚Tom­my‘, ‚Altered States‘, ‚Chi­na Blue‘.

Som­mer­fest­spiele in Edin­burgh, wir steck­en im Verkehrsstau. „Wech­seln sie doch endlich in die andere Spur!“, befiehlt Ken Rus­sell dem müden, über­forderten Taxi­chauf­feur, der, Flüche murmel­nd, der Anweisung Folge leis­tet.

Rus­sell insze­niert bisweilen auch sein Pri­vatleben: als er vor zwei Jahren, während der Drehar­beit­en zu ‚Chi­na Blue‘ (Orig­inalti­tel: ‚Crimes of Pas­sion‘) zum zweit­en Mal heiratete, fan­den die Feier­lichkeit­en an Bord des ehe­ma­li­gen Oze­an­dampfers Queen Mary statt, der heute als Hotel und Luxu­s­restau­rant vor der Küste Hol­ly­woods ankert. Die Gäste erschienen in weißen Marine­u­ni­for­men, an denen große, glitzernde Medaillen prangten, eine Kapelle spielte die Krö­nungsmusik für die englis­che Köni­gin, und Antho­ny Perkins, in die Priesterkutte gek­lei­det, traute das Paar. Perkins hat­te sich mit sein­er Evan­ge­lis­ten­rolle in ‚Crimes of Pas­sion‘ näm­lich so sehr iden­ti­fiziert, dass er sich – noch vor Drehschluss – von ein­er kali­for­nischen Sek­te zum Priester wei­hen ließ.

Ken Rus­sell summt friedlich vor sich hin. Von dem Cab­bie, der uns nun im Herzen Edin­burghs, an der Ecke Princes‘ und Loth­i­an Street abset­zt, ver­ab­schiedet er sich beson­ders höflich. Seine plöt­zliche San­ftheit und Milde über­rascht mich, sie ste­ht so gän­zlich im Wider­spruch zu Rus­sells unwirsch­er, zynis­ch­er Laune dieses Vor­mit­tags: im Rah­men des Edin­burgher Film­fes­ti­vals war ‚Crimes of Pas­sion‘ gezeigt wor­den – nach­dem der Vorhang fiel, stellte sich der im eige­nen Land beson­ders unbe­liebte Regis­seur den Fra­gen des Pub­likums. Gab miss­mutig Antwort, seine Züge spiegel­ten gelang­weilte Men­schen­ver­ach­tung wider. „Genug jet­zt – lassen wir das!“, so reagierte er auf kri­tis­che Fra­gen, wollte die Diskus­sion bere­its nach weni­gen Minuten abbrechen.

Wir suchen, unter dichtem Laub­w­erk, auf einem kleinen Fried­hof, nach dem Grab Thomas De Quinceys, des Autors der ‚Con­fes­sions Of An Eng­lish Opi­um Eater‘. De Quincey, ein Fre­und der Dichter Wordsworth und Coleridge, lebte vor ein­hun­dert­fün­fzig Jahren im nahegele­ge­nen Lake-Dis­trict, in jen­er Land­schaft Nor­deng­lands, in der Ken Rus­sell heute zuhause ist. Die Baumkro­nen bilden uns ein dun­kles Dach, welch­es den Niesel­re­gen auf­fängt – nach langer Suche find­en wir zu des Opi­um-Essers Begräb­nis­stätte, und Rus­sell offeriert dem Toten, mit tiefer Ver­beu­gung, einen Strauß ver­welk­ter Blu­men, gefled­dert vom Grab­stein des Nach­barn. Tänzel­nd bewegt er sich dann weit­er, von Fried­hof­s­rei­he zu Fried­hof­s­rei­he.

Er lehnt am ver­rosteten Git­ter eines Mau­soleums, ruht sich ein wenig aus. „Die Kirche von Eng­land, der Protes­tantismus englis­ch­er Prä­gung“, sagt Rus­sell, „ist hohl, bedeu­tungs­los; von Hen­ry VIII. gegrün­det, diesem Erz­gauner, kein Wun­der, dass sie lächer­lich und unglaub­würdig bleibt. Ihr fehlt jed­er Funke Gottes – und ihre Klöster und Abteien bleiben leer und ver­stauben immer mehr…“ Als junger Mann kon­vertierte Rus­sell zum Katholizis­mus, nur in der römis­chen Ausle­gung des Evan­geli­ums glaubte der 1927 in Southamp­ton geborene Sohn eines Schuhgeschäft­in­hab­ers, sei das See­len­heil zu find­en. Ein Schritt, diese Kon­ver­sion, der im Lauf seines Lebens an Bedeu­tung ver­lieren sollte, der aber für diesen Mann kon­stan­ter Wand­lun­gen beze­ich­nend ist. „In Cum­bria, in jen­em Seenge­bi­et, in dem ich lebe, in dieser ganz verza­uberten Land­schaft, habe ich mich vom Katholizis­mus doch nach und nach wieder abge­wandt – dort bin ich zum Pan­the­is­ten gewor­den…“

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Abreise aus Edin­burgh, nach Keswick im Lake-Dis­trict. Ken Rus­sell sitzt im ersten Wag­gon des Zuges, allein in seinem Abteil. Außer ein­er kleinen Kof­fer­tasche hat er nur einen Plas­tik­sack mit Schallplat­ten bei sich, von jed­er Reise bringt er klas­sis­che Konz­ert- und Oper­nauf­nah­men mit nach Hause, sam­melt von seinen lieb­sten Stück­en jew­eils die unter­schiedlich­sten Inter­pre­ta­tio­nen.
Er bre­it­et sich aus, in seinem Coupé, arbeit­et an der Drehbuch­fas­sung der Nov­el­le ‚St Mawr‘ von D. H. Lawrence, noch heuer soll diese Geschichte, von einem Hengst, dem der Gott Pan innewohnt, ver­filmt wer­den, mit Glen­da Jack­son, Rus­sells Lieblingss­chaus­pielerin, in ein­er der Haup­trollen.1 Die Adap­tion eines anderen Lawrence-Werks begrün­dete den Wel­truhm des Regis­seurs: ‚Women in Love‘ eroberte im Jahr 1969 die Licht­spiel­häuser – auch damals war Mrs. Jack­son eine der Pro­tag­o­nistin­nen.
Auf hal­ber Strecke, am Rande ein­er großen Schaf­farm, bricht unsere Loko­mo­tive zusam­men; aus Carlisle muss Ersatz her­beigeschafft wer­den. Rus­sell ist äußerst glück­lich über diese zwei Stun­den gewonnen­er Zeit, in der Eisen­bahn schreibt er beson­ders gerne, kann sich hier weit bess­er konzen­tri­eren, als an jedem anderen Ort.

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„Sehen sie dort, diese kleine Insel?! Dort haben wir Gus­tav Mahlers Holzhütte aufge­baut, in der er seine Sech­ste Sin­fonie kom­poniert hat! “,2 erzählt Rus­sell, wir wan­dern durch hohen Schlamm und nasse Wiesen, klet­tern über rutschige Felsvor­sprünge. Tief unter uns der See Der­went­wa­ter, und die schöne Ortschaft Keswick, run­dum die san­ften Kup­pen der Cum­bri­an Moun­tains. „Viele Szenen aus meinen Fil­men habe ich hier und in der näheren Umge­bung gedreht – ich kam Mitte der Sechziger Jahre zum ersten Mal hier­her, für meinen BBC-Film über den präraphaelitis­chen Maler Dante Gabriel Ros­set­ti. Er hat auf einem dieser Berge, so erzählen die Biografen, seine Geliebte mit Gin­flaschen bewor­fen, ich wollte mir natür­lich anse­hen, wo sich das abge­spielt hat…Spät Nachts kam ich damals in meinem Hotel an, in der Fin­ster­n­is war nichts zu erken­nen. Als ich dann aber am näch­sten Mor­gen die Fen­ster­lä­den öffnete, da erst erkan­nte ich die ganze Pracht dieser Berge, dieser Land­schaft. Das war wie ein Schock!“

Sogle­ich stand sein Plan fest, hier­her, in die regen­re­ich­ste Gegend Eng­lands zu über­siedeln, und bald hat­te er auch schon ein kleines Haus gefun­den, das er wenig später kaufte. „Aber Shirley, meine erste Frau – wir haben fünf Kinder miteinan­der – wollte nicht in diese Ein­samkeit ziehen. ‚God’s cre­ation man­i­fest‘, so beze­ich­nete der Dichter Coleridge einst diesen Land­strich; ich war früher niemals auf einen Berg gestiegen, alles rund um Southamp­ton im Coun­ty Hamp­shire, wo ich herkomme, ist vol­lkom­men flach! Inzwis­chen kenne ich hier jeden Gipfel, jede Kuppe, nahezu jede kleine Erhe­bung.“

Der Lake-Dis­trict ist ein Ort, an dem Rus­sell zu sich selb­st zurück­find­en kann – nach monate­langer Arbeit in Hol­ly­wood etwa, nach Monat­en des lär­menden Chaos ein­er Stu­dio­pro­duk­tion. Rus­sell erin­nert sich an die Drehar­beit­en zu ‚Altered States‘, einem Film, der im Jahr 1980 ent­stand und die Geschichte der Affe-Wer­dung eines Evo­lu­tions­forsch­ers erzählte. „Ich wollte nach diesem Erleb­nis nie wieder einen Film machen, ich schwor mir das!“, sagt Rus­sell, außer Atem, während wir steil bergauf klet­tern, von immer höher­er Warte aus ins Umland sehen. „Die Stre­it­igkeit­en mit Pad­dy Chayef­sky3, dem Autor des Films, waren so scheußlich, dass ich schließlich darauf beste­hen musste, dass Pad­dy, der doch in Hol­ly­wood immer das Sagen gehabt hat­te, vom Set ver­ban­nt werde. Er zog sich, nach lan­gen Kämpfen, tat­säch­lich nach New York zurück. Kurze Zeit später – wohl nicht zulet­zt unser­er Kon­flik­te wegen – ist Pad­dy vor Gram gestor­ben.“

Wir erre­ichen eine Stelle des Fal­con-Craig-Bergs, zu der Ken Rus­sell oft zurück­kehrt: ein Baum­stamm wuchs hier hor­i­zon­tal in das Gestein eines Fels­blocks hinein und spal­tete ihn. Holzs­tamm und Felsstein hal­ten einan­der nun am Rand des Abhangs fest, „wie in ein­er lei­den­schaftlichen Liebes­beziehung“, sagt Rus­sell, „während sich der Eine mit aller Kraft an den Anderen fes­tk­lam­mert, zer­stören sie einan­der. Und erhal­ten einan­der aber zugle­ich auch am Leben! Und langsam, langsam wer­den sie einan­der ver­nichtet haben…“

Weit­er über Stock und Stein: An einem Wasser­fall, den er beson­ders liebt, summt Mr. Rus­sell eine Opernar­ie. Das Rauschen ver­schluckt die Melodie, ver­schluckt aber in der Folge auch die leisen Worte, die er an mich richtet, ich ver­ste­he nur Bruch­stücke. Auch nahe Southamp­ton besitze er, in der Land­schaft sein­er Kind­heit, ein Haus. Auf großer Wiese wei­den dort die Pferde. Oft sitze er vor seinem Cot­tage und höre laute Musik – mit seinem Walk­man. Oder meinte er: hin­ter ihm, im Wohn­sa­lon, spiele der Plat­ten­spiel­er eine Opernar­ie, ein Konz­ert, und die Musik werde in die Land­schaft hin­aus­posaunt?

Musik und Natur, diese bei­den Pole bilden den leben­snotwendi­gen Aus­gle­ich zu den Zwangsvorstel­lun­gen und sug­ges­tiv­en Mächt­en, die Ken Rus­sells Phan­tasie bedrän­gen. Das Bild aber, das ich mir vor unser­er Begeg­nung von diesem Inszena­tor grell-orgiastis­ch­er, komisch-vul­gär­er Cin­e­maw­erke machte, war grund­falsch. Ich war auf einen exaltiert-stör­rischen Dik­ta­tor gefasst und begeg­ne nun einem stillen, sehr san­ften Mann, der seinen Plan­eten mit schelmis­chen Bube­nau­gen neugierig-konzen­tri­ert betra­chtet. Ein Eulen­spiegel ist er den­noch. Als ich ihn vor Monat­en erst­mals um ein Gespräch bat, er insze­nierte damals an der Wiener Staat­sop­er Charles Goun­ods Oper ‚Faust‘, lautete seine fre­undliche Antwort: „Ich drehe bald in Eng­land einen Film – rufen sie ein­fach bei ‚News of the World‘ an, in Lon­don, die wer­den ihnen genauestens Bescheid geben.“ In der Annahme, hin­ter diesem Namen ver­berge sich Rus­sells Agen­tur, rief ich prompt bei ‚News of the World‘ an. Und wurde von ein­er schrillen Mäd­chen­stimme aus­gelacht: die ‚News‘, eine Wochen­zeitung, ist Großbri­tan­niens ver­pön­testes Revolverblatt.

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Vor der Ein­gangstür zu seinem schlicht­en Haus in Bor­row­dale, nahe Keswick, bleibt Ken Rus­sell eine halbe Minute lang schweigend und unbe­weglich ste­hen. Medi­tiert er? Ist dies ein mir unbekan­nter Druiden­brauch? „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagt er dann, den großen Kopf leicht nach vorne geneigt, „unsere Schuhe sind doch voll von Schlamm?! Vivien, meine Frau, wird wütend sein, wenn wir ihr diesen Schmutz in die Küche tra­gen.“ Der Gast­ge­ber spielt bere­its sichtlich mit dem Gedanken, umzukehren, doch plöt­zlich lautet seine Regiean­weisung: Schuhe und nasse Strümpfe vor der Haustür auszuziehen, die Küche bar­fuß zu betreten.

Rus­sell bietet eis­gekühlten Cham­pag­n­er an. Als Bub sei er sehr still und sehr schüchtern gewe­sen, erzählt er, daran habe sich auch kaum etwas geän­dert, als man ihn, noch kurz vor Kriegsende, in die Roy­al Navy einge­zo­gen habe. Nach der Ent­las­sung aus dem Mil­itär wollte er seinen Jugend­traum ver­wirk­lichen: Filme zu machen. „Ich lief zu allen Stu­dios und bet­telte: gebt mir eine Chance, bitte, lasst mich für euch arbeit­en! Aber in mein­er Scheu kon­nte ich das nicht überzeu­gend genug vor­brin­gen, kein­er nahm mich ernst. Nichts geschah. Ich war desil­lu­sion­iert. Ich suchte nach Möglichkeit­en, wenig­stens auf Umwe­gen doch noch zum Film zu kom­men. Wurde zunächst Tänz­er, später Schaus­piel­er, schließlich Fotograf. Und machte Mitte der Fün­fziger Jahre, auf eigene Faust, meine ersten Ama­teur­filme; führte die dann den Leuten bei der BBC vor.“

Zwölf Jahre nach seinem Ver­such, bei den großen Stu­dios Auf­nahme zu find­en, stellte ihn Eng­lands Fernse­hge­sellschaft ein: „Das Selt­same war, dass die BBC in der Zwis­chen­zeit beina­he all jene Stu­dios aufgekauft hat­te, bei denen ich damals abge­blitzt war. Manche existierten auch gar nicht mehr. Und aus­gerech­net dort fing mein Arbeit­en also an. Das befriedigte mich, das muss ich zugeben.“

Zahlre­iche Doku­men­tarfilme, Semi-Doku­men­ta­tio­nen und erste Spielfilme ent­standen im Lauf der näch­sten Jahre, für größtes Auf­se­hen sorgten Rus­sells erste Kom­pon­is­ten­bi­ografien. Seine Devise, dass Kun­st und bad taste, schlechter Geschmack, unbe­d­ingt siame­sis­che Zwill­inge seien, wurde schon damals zu seinem Marken­ze­ichen. „Heute gibt es ja für junge Cineas­t­en, die den Ein­stieg in die Film­branche suchen und Gewagtes aus­pro­bieren wollen, einen recht ein­fachen Weg, ver­glichen mit meinen Anfän­gen: es gibt die Video­clips4.“ Rus­sell selb­st hat erst jüngst solche Clips für Inter­pre­ten wie Cliff Richard und Elton John insze­niert, grün­dete überdies vor kurzem eine eigene Pro­duk­tions­fir­ma für Musikvideos. Er gilt als Vater dieses Gen­res, sein­er in den Siebziger Jahren ent­stande­nen Ver­fil­mung der Rock­op­er ‚Tom­my‘ von The Who wegen.

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„Ich nehme mir Kri­tiken nie zu Herzen“, behauptet Rus­sell, er sitzt am Steuer seines Sta­tion-Wag­ons, unter­wegs zu einem Heilig­tum der Mega­lith-Kul­tur, das er mir zeigen möchte, unweit von seinem Haus. „Wenn man mit einem Pro­jekt ein ganzes Jahr lang zusam­men­gelebt hat, bis in den Schlaf hinein, und dann erzählt einem irgen­dein­er, der sich höch­stens ein paar Stun­den damit auseinan­derge­set­zt hat, was er davon hält, dann kann ich das wirk­lich nicht ernst nehmen. Überdies weiß man ja selb­st sehr genau, ob einem eine Sache nun gelun­gen sei, oder nicht. Ich weiß zum Beispiel: ‚Valenti­no‘, mein Biopic über den Stumm­film­star, ist mit Sicher­heit der schlecht­este Film, den ich je gemacht habe!“

Der Cast­lerigg Stone Cir­cle, ein großer Kreis von Men­hiren, befind­et sich auf einem Hoch­plateau – nach allen Seit­en reicht hier der Blick, weit über das Hügel­land hin­weg. Keine Spur von Bun­ga­low-Row­dy­tum ist hier zu erken­nen, außer­halb der Ortschafts­gren­zen herrscht strik­testes Bau­ver­bot. Über das Land sehend, mit einem Blick, als sei dies alles sein Eigen­tum, sagt Rus­sell: „Das Filmemachen bringt die größten Ent­täuschun­gen mit sich, immer und immer wieder…“ Er schmiegt sich an einen der Men­hire des Steinzirkels an, vor dreiein­halb Tausend Jahren hier errichtet, sein weißes Haar flat­tert im Wind. Und zum ersten Mal sehe ich Rus­sell nun erschöpft. Er wirkt trau­rig, als er zahlre­iche sein­er Film­pro­jek­te erwäh­nt, die, zumin­d­est vor­erst, gescheit­ert seien: „Für mein Gersh­win-Pro­jekt war das Geld nicht und nicht aufzutreiben. Oder ‚Evi­ta‘5: ich war an diesem Stoff sehr inter­essiert, bloß mit der Haupt­darstel­lerin, die mir die Pro­duzen­ten vorschlu­gen, war ich nicht ein­ver­standen, also platzte die ganze Sache. Eben­so ein Film über Beethoven - ich hat­te da eine The­o­rie, wen er mit seinem Liederzyk­lus ‚An die ferne Geliebte‘ gemeint hat, aber die Finanzierung kam nicht zus­tande. Einen Film über die Callas wollte ich machen, mit Sophia Loren, doch die Plat­ten­fir­ma, die die Rechte an ihrer Stimme besitzt, ging auf unser Pro­jekt nicht ein. Und so geht es weit­er. Auch aus ‚Cleopa­tra‘ wird vor­läu­fig nichts. Das Drehbuch schrieb ich mit mein­er Frau zusam­men, wir woll­ten endlich ein­mal eine lustige Cleopa­tra auf die Lein­wand brin­gen. Eine mit Humor und Frech­heit. Wir woll­ten fortkom­men von dem Bild der hehren, todern­sten Köni­gin. Hätte sie denn, ohne komisch zu sein, sowohl Cae­sar, als auch Mark Anto­nius so wun­der­bar becircen kön­nen? Nun, gut, ich will nicht weit­er jam­mern…“

Eine Schafherde grast in unser­er Nähe. An jedem Tag, den er hier ver­bringe, betont Ken Rus­sell, begeis­tern ihn die san­ften Kup­pen­for­men der Berge von Neuem. Sie seien bis ins Mit­te­lal­ter bewaldet gewe­sen, nach­dem man anf­ing, sie abzuholzen, sei der Baumbe­stand nie wieder nachgewach­sen. „Aber mir gefällt das sehr: sozusagen das Skelett der Berge erken­nen zu kön­nen. Damals, 1980, als ich beschloss, niemals wieder einen Film zu drehen, ent­stand schon wenig später meine Doku­men­ta­tion über den Lake­land-Dichter Wordsworth und seinen Fre­und Thomas Hardy. Da wusste ich: zur Wieder­her­stel­lung meines seel­is­chen Gle­ichgewichts brauche ich, vor allem anderen, diese Land­schaft hier. Und, natür­lich: die Dich­tung des William Wordsworth…“