„Als Betrieb war die Kunst so gut wie immer feudal“

Stefan Gmünder im Gespräch mit dem Schriftsteller und Fotografen Peter Truschner.

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Laut der Frank­furter All­ge­meinen Zeitung han­delt es sich bei Peter Truschn­er um einen Vertreter „jen­er ausster­ben­den Kün­stler­spezies, die stets aufs Ganze gehen muss“. Und in der Tat ist dieser 1967 in Kärn­ten gebore­nen Autor, Fotograf, Essay­ist und Dra­matik­er, der seit 1999 in Berlin lebt und sich in unter­schiedlichen Sparten und the­o­retis­chen Kun­st­diskursen bewegt, nicht leicht zu fassen. Bekan­nt wurde Truschn­er mit seinen bei Zsol­nay erschiene­nen Roma­nen Schlangenkind, Die Träumer und Das fün­fund­dreißig­ste Jahr, par­al­lel dazu ver­fasste er Libret­ti und The­ater­stücke. Er war Regieas­sis­tent bei Mar­tin Kusej und hat­te eine Dozen­tur an der Uni­ver­sität der Kün­ste in Berlin inne. Vor eini­gen Jahren wandte sich Truschn­er vor allem der Fotografie zu, etwa mit dem Text- und Foto­band Bangkok Strug­gle für den er einige Monate in den Hin­ter­höfen des „Arbeit­slagers Asien“ lebte und dort den Über­leben­skampf in den Vierteln der Händ­lerin­nen, Handw­erk­er und Arbeit­er doku­men­tierte. Es fol­gte das Foto­pro­jekt She stood there a Loaded Gun, in dem er mit dem Mod­el Anna Pet­zer ver­schiedene Facetten ein­er kom­plex­en weib­lichen Per­sona aus­lotete und den Fotografien Gedichte von Emi­ly Dick­in­son beis­tellte. Ver­gan­ge­nes Jahr erschien Truschn­ers Essay­band Die Maske abgenom­men. Kün­stler und Mod­ell im 21. Jahrhun­dert bei Vit­to­rio Kloster­mann. Im Moment schließt Truschn­er ger­ade ein neues Foto­buch und einen Roman ab.

STEFAN GMÜNDER: Sie sitzen ger­ade über den finalen Kor­rek­turen ihres näch­sten Romans. Soviel ich weiß, haben Sie schon 2014 damit begonnen?

PETER TRUSCHNER: Stimmt, ich war län­gere Zeit schw­er­er erkrankt, der Text kam mir darüber regel­recht abhan­den. Außer­dem gibt es beim Schreiben bei mir eine heik­le Phase: Ich habe mich an ein möglich­es Ende herange­tastet, und wenn ich das let­zte noch fehlende Teil finde, ist der Text fer­tig. Bei mir bre­it­et sich ab diesem Zeit­punkt ein gewiss­es Desin­ter­esse am Text aus. Ich habe fest­gestellt, dass mich die Energie, die im Auf­brechen und bei der darauf­fol­gen­den Arbeit ins Offene frei wird, per se immer mehr ange­zo­gen hat als das Ankom­men. Diese Ein­stel­lung lässt sich auf meine gesamte kün­st­lerische Arbeit über­tra­gen. Im Schreiben habe ich mich nach der Prosa dem The­ater, der Oper und dem Essay zuge­wandt. Dazu kam par­al­lel die Fotografie, zuerst auf der Straße, danach im Stu­dio.

GMÜNDER: Ihr lit­er­arisches Debüt heißt Schlangenkind. In der Tat wird man den Ein­druck nicht los, dass Häu­tung ein wichtiges Wort für Sie und Ihr Werk ist.

TRUSCHNER: Man kann schon sagen, dass das pro­gram­ma­tisch für die Art ist, wie ich an meine Arbeit herange­he. Immer wieder eine neue Haut auszuprä­gen, mich in anderen Kon­tex­ten und For­mat­en noch mal neu ken­nen­zuler­nen. Die Kun­st ist für mich dabei weniger ein zu erler­nen­des Handw­erk, auch wenn das Ler­nen so, wie ich vorge­he, nie aufhört. Sie ist vielmehr eins mit mein­er Lebens­führung. „Extim­ität“ nen­nt Lacan dieses ineinan­der Überge­hen von Externem und Intimem.

Kon­ven­tionell insze­nierte Schön­heit kann unglaublich öde sein. Etwa beim einst sehr erfol­gre­ichen „Pirelli-Kalen­der“, wo bedeu­tungss­chwanger drein­blick­ende Frauen in ein­er Vulkan­land­schaft nackt in Pumps herum­ste­hen, und kein­er weiß, warum.

GMÜNDER: Hat Ihnen die Viel­seit­igkeit im Kun­st­be­trieb eher genützt oder geschadet?

TRUSCHNER: Viel­seit­igkeit ist nicht erwün­scht. Der Kun­st­be­trieb ist so spezial­isiert wie andere Beruf­szweige auch. Ver­lage, The­ater und Gale­rien wollen zuver­läs­sig beliefert wer­den. Man soll zu ein­er Marke mit Wieder­erken­nungswert wer­den. Besten­falls, dass es zu Syn­ergieef­fek­ten kom­men kann wie bei Sibylle Berg, die Prosa und Stücke schreibt. Da bleibt es aber wenig­stens beim Text. Wenn man jedoch zwis­chen den Kün­sten wech­selt, hat man nur Schwierigkeit­en. Ich habe kaum Leute im Betrieb gefun­den, die das bere­ich­ernd find­en. Natür­lich auch, weil Spezial­is­ten viel über den eige­nen Bere­ich, aber nur wenig über andere wis­sen. Das verun­sichert dann.

GMÜNDER: Dazu muss man aber auch sagen, dass Sie kein Kind von Trau­rigkeit sind, in Ihren Artikeln und Tex­ten beziehen Sie stre­it­bar Stel­lung und bieten Anlass zu Diskus­sio­nen.

TRUSCHNER: Ich habe eine gewisse Freude an Schar­mützeln und Spek­takeln, die ich durch Dinge, die ich mache oder schreibe, immer wieder her­vorzu­rufen in der Lage bin. Eine Seite von mir ist extro­vertiert genug, um daran Vergnü­gen zu find­en. Aber über meine eigentliche kün­st­lerische Arbeit tausche ich mich nur mit weni­gen aus. Ich habe schon immer darauf geachtet, dass nicht alle alles von mir mit­bekom­men, dass ich einen großen Spiel­raum habe, mich frei zu bewe­gen, nicht fest­gelegt zu wer­den.

Peter Truschner: She stood there a Loaded Gun

Peter Truschn­er: Aus der Serie „She stood there a Loaded Gun“

GMÜNDER: Das hört sich jet­zt aber arg harm­los an, immer­hin üben Sie in ihrer Kolumne „Fotolot“ auf Per­len­tauch­er regelmäßig scharfe Kri­tik an Betrieb­s­größen und etablierten Insti­tu­tio­nen.

TRUSCHNER: In den ver­gan­genen drei Jahren habe ich das „Fotolot“ zur meist gele­se­nen deutschsprachi­gen Online-Kolumne über Gegen­warts­fo­tografie gemacht – auch, weil ich präzis benenne, was andere in ihrem Umfeld nur schw­er aussprechen kön­nen. Die aus­geprägte Ver­seilschaf­tung des Kul­turbe­triebs und der Rekurs auf Zeit­geist­nar­ra­tive machen es vie­len schw­er, ohne Rück­sicht­nahme auf herrschende Empfind­lichkeit­en und die eigene Kar­riere zu sagen, was sie wirk­lich denken, und nur das zu machen, was sie für ange­bracht hal­ten. Man kann sagen: Die autonome, freie Kun­st erlebt ger­ade eine Krise. Eben­so wie das Indi­vidu­um in Zeit­en aktueller Iden­tität­spoli­tiken, die zwin­gend über Grup­pen­zuge­hörigkeit funk­tion­ieren. Kün­st­lerisches Han­deln ist heute für den Nach­wuchs mit so vie­len Aufla­gen ver­bun­den, es gilt so viele „Must Have’s“ und „No Go’s“ zu beacht­en, aus­sagekräftige Ref­eren­zen zu sam­meln und sich dabei auch noch selb­st zu ver­mark­ten, dass es sehr schw­er ist, nach­haltig zu sich selb­st zu find­en. Aber nur dann find­et man auch zur Kun­st, und zwar in ein­er Weise, die unab­hängig macht von ökonomis­chem Erfolg, der Mei­n­ung der anderen und der Angst, zu scheit­ern.

GMÜNDER: Neben dem Roman haben Sie par­al­lel an Ihrem neuen Foto­buch She stood there a loaded Gun und am Essay Die Maske abgenom­men. Kün­stler und Mod­ell im 21. Jahrhun­dert gear­beit­et. Der Essay, in dem Sie eben­so auf eigene Erfahrun­gen zurück­greifen wie auf the­o­retis­che Schriften, ist let­ztes Jahr erschienen. Kann man sagen, dass es darin – auch – um den frag­würdig gewor­de­nen männlichen Blick auf den nack­ten weib­lichen Kör­p­er geht?

TRUSCHNER: Siebe­nund­vierzig Jahre ist Lau­ra Mul­veys ein­flussre­ich­er Essay zum „Male Gaze“ inzwis­chen schon wieder alt. Es ist wichtig, über die his­torischen Imp­lika­tio­nen dieses Blicks Bescheid zu wis­sen, wenn man als Kün­stler mit Frauen arbeit­et, die sich vor der Kam­era ausziehen. Weshalb mein Buch auch his­torische Abrisse zur Geschlechter­poli­tik bein­hal­tet – man kann im Jahr 2022 davor nicht die Augen ver­schließen. Der gesellschaftliche Kampf­platz weib­lich­er Kör­p­er, weib­liche Schön­heit und Sex­u­al­ität bleibt im Hin­ter­grund präsent, auch wenn sich das dann im Laufe der Zusam­me­nar­beit ver­liert, da die Indi­vid­u­al­ität des Gegenübers stärk­er zum Aus­druck kommt.

GMÜNDER: Das heißt?

TRUSCHNER: Wenn ein Gegenüber in der Sit­u­a­tion ankommt, von sich aus zu exper­i­men­tieren begin­nt, Risiken einge­ht und Dinge zum Vorschein kom­men, die für das Gegenüber selb­st über­raschend sind, begin­nt der kün­st­lerisch inter­es­sante Bere­ich – erst recht, wenn man, wie ich, der Arbeit gegenüber dem Ergeb­nis den Vorzug gibt. Es ist immer das Beson­dere, sprich­wörtlich Eigen­tüm­liche, das inter­es­sant ist. Alles andere ist oft nur begabte Knipserei. Schon die Frauen­fig­uren mein­er Romane sind kom­plex und ambiva­lent. Ich habe ein starkes Inter­esse am Sich-Zeigen eines facetten­re­ichen Sub­jek­ts, erst recht durch die Nack­theit hin­durch, was defin­i­tiv nicht ein­fach ist.

GMÜNDER: Die Kon­stel­la­tion Kün­st­lerin und männlich­es Mod­ell schein eher sel­ten, oder täuscht das?

TRUSCHNER: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Frauen vom weib­lichen Kör­p­er eben­so besessen sind wie Män­ner, weshalb Frauen, die sich selb­st oder andere Frauen fotografieren, deut­lich in der Überzahl sind. Frauen sind his­torisch so sehr auf ihren Kör­p­er fest­gelegt wor­den, dass der weib­liche Kör­p­er und die weib­liche Sex­u­al­ität allein vom diskur­siv­en Stand­punkt her viel mehr Anschlussmöglichkeit­en bieten als der het­ero­sex­uelle männliche Kör­p­er. Der musste bei der Arbeit und im Krieg funk­tion­ieren und einen Erben liefern, mehr war im Grunde nicht.

Peter Truschner: The Gorgon

Peter Truschn­er: Aus der Serie „The Gor­gon“

GMÜNDER: Sie beschreiben in Ihrem Essay eine eigen­tüm­liche Dialek­tik zwis­chen Ober­fläche und Tiefe, unter dem, was man zu sehen glaubt, befind­et sich jede Menge Unsicht­bares.

TRUSCHNER: Die Ober­fläche ist das Sicht­bare, auf das es mal mehr, mal weniger nahe liegende, wenn nicht kalkulier­bare Reak­tio­nen gibt. Das führt oft zu einem eindi­men­sion­alen Ergeb­nis. Men­schen wollen gut ausse­hen, stark und sou­verän wirken, das ist das grundle­gende Bedürf­nis. Die pro­fes­sionelle Fotografie ist davon abhängig, dass die Leute mit dem Ergeb­nis zufrieden sind. Das hat aber mit Kun­st nichts zu tun. Kon­ven­tionell insze­nierte Schön­heit kann unglaublich öde sein. Etwa beim einst sehr erfol­gre­ichen „Pirelli-Kalen­der“, wo bedeu­tungss­chwanger drein­blick­ende Frauen in ein­er Vulkan­land­schaft nackt in Pumps herum­ste­hen, und kein­er weiß, warum. Es müssen sich in der Arbeit Bruch­si­t­u­a­tio­nen ergeben, wo auf den Men­schen, dem dieser nack­te Kör­p­er ange­hört, Rückschlüsse möglich scheinen: auf seine Gefüh­le, seine inneren Kon­flik­te, seine Ver­gan­gen­heit. Gün­stig­sten Falls erzählt das Gegenüber von allein über sich, dann begin­nt die wirk­lich span­nende, aber auch gefährliche Zeit eines Pro­jek­ts. Manch­mal kann das Gegenüber hin­ter­her das Gefühl haben, es habe zu viel von sich preis­gegeben.

GMÜNDER: Das also meinen Sie mit der abgenomme­nen Maske?

TRUSCHNER: Rilke hat gesagt, Rodin habe dem nack­ten Kör­p­er die Maske des Gesichts abgenom­men, weil sich im Gesicht die Per­sön­lichkeit zeigt. Wobei es nicht nur ein physis­ches, son­dern auch ein gesellschaftlich­es Gesicht gibt, ein öffentlich­es und ein pri­vates, das man zu wahren ver­sucht. Ein Gesicht gibt oft einen ersten Hin­weis darauf, ob etwas nicht stimmt, ob man sich unwohl fühlt oder erregt ist. Wenn man das bei­seite schiebt und auf den nack­ten Kör­p­er fokussiert, wo gefühlt die Pro­por­tio­nen oft nicht ide­al­typ­isch stim­men – der eine fühlt sich zu klein, die andere zu groß, der eine zu dick, die andere zu dünn –, dann ist das Gegenüber auf seinen Kör­p­er fest­ge­nagelt. Das ist auch der Grund, warum auf Plat­tfor­men wie Insta­gram so ein Wahn herrscht, was die Darstel­lung von Gesichtern und Kör­pern bet­rifft. In diesen Medi­en im falschen Moment abgelichtet zu wer­den, mit unvorteil­haftem Aus­druck, erst recht nackt, ist ein absolutes No-Go. „Body Pos­i­tiv­i­ty“ ist in diesem Zusam­men­hang eine begrüßenswerte Bewe­gung, aber kün­st­lerisch lei­der irrel­e­vant, da Zweck und Inhalt dabei eben­so deter­miniert sind wie beim „Pirelli“-Kalender. Ist ein State­ment von Beginn an das Ziel, beraubt man sich wichtiger Momente kün­st­lerischen Han­delns wie Wider­sprüch­lichkeit und Vieldeutigkeit

GMÜNDER: Kön­nte man sagen, dass die heutige Zeit trotz aller Expliz­ität auf eine andere Weise prüde ist?

TRUSCHNER: So wie die Prüderie und die Scham­gren­zen früher vor allem religiöse Wurzeln hat­ten, haben sie heute etwas mit dem kap­i­tal­is­tis­chen Zwang zur Selb­stop­ti­mierung zu tun, den nicht wenige verin­ner­licht haben. Nur das Bild zu zeigen, das von Vorteil erscheint, nur nicht auf ablehnende Kom­mentare stoßen. Glatt, unverdächtig, erfol­gre­ich. Wenn auf der anderen Seite eine Influ­encerin ihren Super-Hin­tern in End­los-Schleife zeigt, geht das in Ord­nung, denn die harte Arbeit, die darin steckt, und das Geld, das sie dann damit ver­di­ent, fol­gen der Logik kap­i­tal­is­tis­ch­er Wert­steigerung.

GMÜNDER: Ein Back­lash also?

TRUSCHNER: Eher ein Fortschritt in punc­to Überwachungs­ge­sellschaft. Man ist erfol­gre­ich, wie Byung Chul Han in Anlehnung an Hegel sagt, wenn man das Arbeit­slager in sich trägt, wenn man zugle­ich sein eigen­er Gefan­gener und Wärter ist. Viele sind, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewe­gen, gefühlt immer online. Das heißt, sie sind in ein­er Art und Weise poten­ziell sicht­bar, dass eine Kam­era oder ein Smart­phone Bilder von ihnen machen und sie danach im Inter­net verteilen kön­nte, auf die sie jeden Moment gefasst sein müssen. Was unter­schwellig einen Druck erzeugt und zugle­ich eine Selb­stver­ständlichkeit mit sich bringt, überwacht zu wer­den, weil man die Überwachung schon verin­ner­licht hat. Die Ver­wirk­lichung des Ben­tham­schen Gefäng­niss­es nicht nur im Raum, son­dern auch in der Zeit.

Die ruinierten afrikanis­chen Viehzüchter inter­essieren nie­mand, wed­er in der EU-Kom­mis­sion noch im Postkolo­nial­is­mus-Sem­i­nar in Cam­bridge. Mit Achille Mbe­m­be am Trin­i­ty Col­lege über Die Ver­dammten dieser Erde zu par­lieren, ist da ungle­ich attrak­tiv­er.

GMÜNDER: Wenn man der The­o­rie glaubt, sollte sich die Kun­st kri­tisch mit den jew­eili­gen Herrschaftsver­hält­nis­sen auseinan­der­set­zen?

TRUSCHNER: Zur aktuellen Neo­feu­dal­isierung der Kun­st gehört zwin­gend ihre Feigen­blat­t­funk­tion fürs herrschende Sys­tem. Wenn ein For­mat wie das Stadtthe­ater, das in unseren Bre­it­en­graden poli­tisch völ­lig irrel­e­vant ist, proklamiert, wir arbeit­en unseren Sex­is­mus und Ras­sis­mus auf, dann wäre das in Zeit­en, als das Estab­lish­ment noch reak­tionär war und bleierne Ver­hält­nisse herrscht­en, ein Aufreger gewe­sen. Heute dient so ein Pseu­do-Aktivis­mus ein­er glob­al­isierten Ökonomie und ein­er Poli­tik, die ihr den Steig­bügel hält, als Feigen­blatt. Von der Kluft zwis­chen dem Gehalt eines Inten­dan­ten und ein­er jun­gen Schaus­pielerin ganz zu schweigen – sie ist poli­tisch befördert und ste­ht sym­bol­isch für die größer wer­dende Kluft zwis­chen Reich und Arm. Während vorder­gründig Sol­i­dar­ität mit #black­lives­mat­ter zele­bri­ert wird, gibt es eine EU-Land­wirtschaft­spoli­tik, die die hiesi­gen Milch­bauern an den Rand der Verzwei­flung bringt, weil sie Über­schüsse pro­duzieren müssen, von denen sie kaum leben kön­nen, damit Fir­men wie Nestlé und Danone diese Über­schüsse zu preis­lich unschlag­barem Milch­pul­ver ver­ar­beit­en und exportieren kön­nen, was dann in Län­dern Afrikas die Milch­wirtschaft samt Viehzüchtern ruiniert. Diese Black Lives inter­essieren selb­stver­ständlich nie­mand, wed­er in der EU-Kom­mis­sion noch im Postkolo­nial­is­mus-Sem­i­nar in Cam­bridge. Mit Achille Mbe­m­be an einem son­ni­gen Tag im schö­nen Innen­hof des Trin­i­ty Col­lege über Die Ver­dammten dieser Erde zu par­lieren, ist da ungle­ich attrak­tiv­er.

Sie kön­nten die Direk­tio­nen der Wiener Staat­sop­er, der Berlin­er Schaubühne, des Städel­mu­se­ums Frank­furt, des Deutschen Lit­er­a­turin­sti­tuts Leipzig und so weit­er mit einem Schlag ent­lassen – der Schaden für die Kun­st läge ziem­lich genau bei null.

GMÜNDER:  Sie meinen also, die Gegen­wart­skun­st sei big­ott?

TRUSCHNER: Die Kun­st nicht, aber der Kul­turbe­trieb. Die Kun­st ist nie iden­tisch mit ihrem Betrieb und dessen Per­son­al gewe­sen. Das Pub­likum und der kün­st­lerische Nach­wuchs sollen das nur glauben. Sie kön­nten die Direk­tio­nen der Wiener Staat­sop­er, der Berlin­er Schaubühne, des Städel­mu­se­ums Frank­furt, des Deutschen Lit­er­a­turin­sti­tuts Leipzig und so weit­er mit einem Schlag ent­lassen und die Läden bis auf weit­eres schließen – der Schaden für die Kun­st läge ziem­lich genau bei null. Als Betrieb war die Kun­st so gut wie immer feu­dal. Während der Fürst in sein­er Prachtvil­la in der Stadt den neuesten Tiz­ian präsen­tiert hat, hat er am Land in einem Ver­ließ seine poli­tis­chen Geg­n­er gefoltert, und alle wussten das.

GMÜNDER: Und heute?

TRUSCHNER: Das meiste Geld, das in den let­zten dreißig Jahren in den inter­na­tionalen Kun­st­be­trieb geschleust wurde, kommt wie im Fußball außer von den üblichen Verdächti­gen im West­en von Super­re­ichen aus Asien, Südameri­ka und der ara­bis­chen Hal­binsel, die davon leben, Ressourcen nicht sel­ten auf Kosten ander­er auszubeuten. Natür­lich muss man, um diese schmutzi­gen Betrieb­sver­hält­nisse zu kaschieren, sich Nar­ra­tive aneignen, die die Leute glauben lassen, in der Tate Gallery oder im MoMA gin­ge es um Men­schen­rechte oder gesellschaftlichen Wan­del. Es gilt dabei das­selbe wie für die deutsche und öster­re­ichis­che Staatskul­tur: Per­so­n­en wer­den aus­ge­tauscht, Geschlechter langsam gle­ichgestellt, dazu ange­sagte Nar­ra­tive samt stillschweigend akzep­tierten Sprechver­boten und -geboten instal­liert – aber die Machtver­hält­nisse und Verteilungsstruk­turen dahin­ter bleiben weit­ge­hend diesel­ben. Alles schaut ganz neu aus wie die „Tagesschau“-Sprecherin mit famil­iären Wurzeln in Syrien – und bleibt im Kern doch so, wie es immer war, nicht anders als bei Konz­er­nen wie Ama­zon, wenn sie Bilder glück­lich­er Peo­ple of Col­or in ihre Wer­bung ein­speisen, die aber dann als Paket­boten auf­grund des Prof­it­drucks unter­wegs in Plas­tik­flaschen pinkeln müssen.

GMÜNDER: Wäre es über­trieben, zu sagen, dass Ihr Blick stets auch ein sozi­ol­o­gis­ch­er ist?

TRUSCHNER: Ich habe mich immer gern als Emphatik­er gese­hen, aber mein Inter­esse an kle­in­sten und fein­sten Leben­säußerun­gen, die durch Gesten oder Worte entste­hen kön­nen, bewirkt, dass ich vom gewis­ser­maßen Dion­y­sis­chen schließlich abwe­iche und ins Mikrosozi­ol­o­gis­che überge­he. Im Detail ahnt man das Ganze, in schein­bar Neben­säch­lichem und Periph­erem. Let­ztlich hat Bour­dieu eine ganze Gesellschaft­s­the­o­rie auf den feinen Unter­schieden aufge­baut. Mit ein Grund, warum etwa Mrs. Dal­loway von Vir­ginia Woolf zu meinen Lieblings­büch­ern gehört, in dem alles – Erin­nerun­gen, Pol­ster­bezüge, Hand­schuhe, Blicke, Blu­men, Vorhänge, Trä­nen – miteinan­der ver­woben ist, in Beziehung ste­ht.

In der Coro­na-Zeit ist zudem offen­sichtlich gewor­den, wie wenig große Teile der hiesi­gen Staats-Kun­st den Leuten fehlen. Ver­ständlicher­weise.

GMÜNDER: Ja, die feinen Unter­schiede. Ander­er­seits hat man den Ein­druck, dass heute der Anpas­sungs­druck an den Main­stream größer gewor­den ist?

TRUSCHNER: In ihrer Studie kommt Car­olin Amlinger zum erwart­baren Ergeb­nis, dass bei Kün­stlern und Kün­st­lerin­nen am Ende weniger das Tal­ent als die „soziale Pas­sung“ zum Erfolg führt. Nicht zu heftig, nicht zu rechts, nicht zu links, nicht zu exper­i­mentell, nicht zu ero­tisch – alles nicht „zu“. Oder wie der Büh­nen­bild­ner Bert Neu­mann ein­mal sagte: „Geil soll es sein und irgend­wie anders – aber stören darf es nicht“. Der deutschsprachige Kul­turbe­trieb ist dementsprechend vom Haut­gout der Harm­losigkeit durch­drun­gen. In der Coro­na-Zeit ist zudem offen­sichtlich gewor­den, wie wenig große Teile der hiesi­gen Staats-Kun­st den Leuten fehlen. Ver­ständlicher­weise. Schließlich ist bei uns ist so gut wie alles „Mid­cult“, wie das Moritz Baßler nen­nt, eben jene Harm­losigkeit, die per­fekt zur Pas­siv­ität der Merkel-Jahre passte, in denen eine Gen­er­a­tion von Erben ein­fach gehofft hat, dass sie mit Mut­ti und ein­er Decke über dem Kopf gut durch die Zeitläufte kommt.

Die Büch­er und Stücke, die bei uns zu wirk­lich „heißen“ Kom­plex­en wie Recht­sex­trem­is­mus, Ras­sis­mus, Islamis­mus, Migra­tion oder all­ge­gen­wär­tiger Kor­rup­tion geschrieben wer­den, sind viel zu harm­los.

GMÜNDER: Kom­men wir zum Schluss noch mal zu Ihrem neuen Roman.

TRUSCHNER: Er spielt im Polizis­ten- und Sol­daten­m­i­lieu, han­delt unter anderem von trau­ma­tisierten Afghanistan-Rück­kehrern, recht­en Chat­grup­pen, Demon­stra­tio­nen, ille­galen Schießstän­den, Ver­haf­tun­gen. Aber auch von unter diesen Umstän­den schwieriger Liebe. Kurz: es geht um aktuelle Dinge. Ich bin davon überzeugt, dass man als Kün­stler in der Ver­ant­wor­tung ste­ht, sich nicht nur in der Gegen­wart anzusiedeln, son­dern in ihren wun­den Stellen herumzus­tochern. Die Büch­er und Stücke, die bei uns zu wirk­lich „heißen“ Kom­plex­en wie Recht­sex­trem­is­mus, Ras­sis­mus, Islamis­mus, Migra­tion oder all­ge­gen­wär­tiger Kor­rup­tion geschrieben wer­den, sind viel zu harm­los. Man scheut davor zurück, in Roma­nen, am The­ater und im Fernse­hen wirk­lich schlimme, heftige, dazu ambiva­lente Dinge auf eine forciert kün­st­lerische Weise zu ver­han­deln, bei der eventuell nicht sofort klar wird, was heute ganz wichtig ist: dass alle sofort erken­nen, dass man selb­stver­ständlich auf der richti­gen Seite ste­ht.

In der Lit­er­atur gibt es wie über­all natür­lich Aus­nah­men. Sie wer­den jedoch immer sel­tener von großen Ver­la­gen pub­liziert und sind in ihrer Sub­stanz durch das um sich greifende Sen­si­tiv­i­ty Read­ing bedro­ht.

GMÜNDER: Sie denken, Büch­er und Stücke dieser Art gibt es nicht mehr?

TRUSCHNER: Film, Muse­um und Stadtthe­ater sind in Bezug auf ihr inno­v­a­tives Poten­zial dank herrschen­der Kul­tur­poli­tik so gut wie tot. Die Lit­er­atur hat gesellschaftlich mas­siv an Bedeu­tung einge­büßt und ist darüber zu ein­er Kuschelver­anstal­tung verkom­men, in der es um Stu­di­en­plätze, Stipen­di­en, Preise und um eine Anbiederung an ange­sagte Nar­ra­tive unter dem Ein­fluss des „Sen­si­tiv­i­ty Read­ing“ geht. Viele bedeu­tende Werke wur­den erst lange nach ihrem Erscheinen (wieder-)entdeckt, Das Schloss oder Moby Dick. Woyzeck wurde fün­fund­siebzig Jahre nach Büch­n­ers Tod zum ersten Mal aufge­führt – aber nur, weil der Lit­er­atur eine Deu­tung­shoheit in Bezug auf ihre Zeit zuge­s­tanden und nach ihr gesucht wurde. Angesichts heutiger Zustände wird es später wohl nur wenige Wis­senschafter geben, die glauben, dass es aus­gerech­net im deutschsprachi­gen Raum Leute gab, die abseits des Betriebs für das Ver­ständ­nis ihrer Zeit ger­adezu Unverzicht­bares geleis­tet haben, dass akribisch danach zu suchen sich lohnen würde.

Die kün­st­lerische Lit­er­atur ist bei uns zu ein­er Beschäf­ti­gung für Insid­er gewor­den, in der es zuerst um Stu­di­en­plätze und Stipen­di­en, danach um Preise, Dozen­turen und ein gedeih­lich­es Ein­vernehmen mit dem geht, was vom Feuil­leton übrig ist.

GMÜNDER: Welche Auswirkun­gen wer­den der aktuelle Krieg und eine mögliche Rezes­sion für die Kun­st haben?

TRUSCHNER: Deutsch­land und Öster­re­ich sind Län­der, die geprägt sind von der Besitz­s­tandswahrung und der Angst vor Wohl­standsver­lust. Wenn das Szenario dahinge­hend bedrohlich­er wird, wer­den die meis­ten alles tun, um nach­haltig an den (Förder-)Trögen zu verbleiben oder dahin zu gelan­gen und dabei alles unter­lassen, was sich in irgen­dein­er Weise als nachteilig für die Kar­riere erweisen kön­nte. Das Mot­to hiesiger Staatskün­stler lautet seit jeher ohne­hin nicht „Frei­heit der Kun­st“, son­dern „Ran an den Speck“. Wer geglaubt hat, noch bie­der­meier­lich­er kann es hin­ter der Maske des Aktivis­mus und des Wan­dels im Kul­turbe­trieb nicht zuge­hen, darf sich auf die näch­sten Jahre freuen. Die autonome Kun­st wird dabei wieder zum Feind aller: der ide­ol­o­gisch verko­rk­sten Linken, der von Abstiegsäng­sten bewegten Mitte und der gewalt­bere­it­en Recht­en.

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