Goppel erscheint als letzter. Dafür ist er der Aufgeregteste, der Aufgedrehteste von uns. Ob wir es schon gesehen hätten? Natürlich wissen wir alle, die Mischkulik, Kirschbaumer und ich, wovon er spricht. Die Bilder, die Goppel hüpfen, die ihn die Arthrose vergessen lassen, all jenes, was ihn niederdrückt, ihn mehr niederdrückt als jeden von uns, was sich in den vergangenen Jahrzehnten angestaut und verdichtet hat und ihn von allen Seiten bedrängt und die Luft zum Atmen nimmt, wir haben sie natürlich bereits gesehen, die Bilder. Die Misch kramt ihr Smartphone aus der Tasche, sie ist die einzige von uns, die so ein Ding besitzt, drückt und wischt hier und da, und schon erscheint er wieder auf dem kleinen Bildschirm, der dicke Zwycieski Banor.
Wie feist er geworden ist in letzter Zeit, wie sehr die ihn auspolsternde Körpermasse nach oben gequollen ist und seinen Hals verschluckt hat. Es hindert ihn jedoch nicht daran, Ministerpräsident, so nennt er sich wie zum Hohn immer noch, zu geifern. Während neben ihm, links und rechts vom Sockel des kleinen Rednerpults, Mädchen in den grünweißen Landesfarben stehen, hübsch allesamt, schlank, langbeinig, großbusig, kurzberockt, mit Blumenkränzen im Haar allesamt, poltert er. Banor ist im zweiten Teil seiner Tirade angelangt, wo er, nachdem er im ersten Teil seinen Zuhörern Angst gemacht hat, den Verlust ihrer vermeintlichen Freiheit, ihres angeblichen Wohlstandes, ihrer scheinbaren geistigen Unabhängigkeit, sogar ihrer körperlichen Unversehrtheit heraufbeschworen hat, nun eine imaginäre Sense schwingt und alle hinwegsenst, es androht, es verbal schon einmal vorexerziert, die sich gegen die, nach Banors speichelsprühend geschleuderten Worten, legitimen Großmachtansprüche seiner Kulturnation, letztlich gegen ihn selbst, weil zwischen ihn und der Kulturnation, die er zu lieben vorgibt wie sein Leben, kein Unterschied bestehe, zu stellen sich anmaßen. Er werde das nicht zulassen, ruft er, und die Menge auf dem mit Fahnen ringsumher geschmückten Stadtplatz, die Kamera zeigt rote, aber entzückte Gesichter, vor Jubel aufgerissene Münder, johlt wie mit einer Stimme begeistert auf. Er werde, ruft Banor, die Gegner, die sich den legitimen Ansprüchen des stolzen Volkes, dem vorzustehen er die Ehre habe, zerquetschen wie lästige Fliegen. Er werde Schluss machen mit dem Krätze verbreitenden Geschmeiß. Er werde es zusammentreiben und dann mit dem Flammenwerfer der Vorsehung in die Brut der Niedertracht hineinhalten. Der selbsternannte Przewodnik wiederholt, einen Beifallssturm seiner Anhänger abwartend, auskostend, die Formulierung Flammenwerfer der Vorsehung und zieht dabei aus seinem zu engen Jackett ein Messer hervor, wie er es vielleicht bei seinen Touren in der Hohen Pustka, bei denen er sich so gerne, in Gebirgsbächen badend, in ein Wurstbrot beißend, filmen lässt, dabei hat. Er werde, ruft er, ausmerzen, und klappt das Messer auf, was ausgemerzt gehöre, sagt es, hat es noch nicht vollständig ausgesprochen, als er mit dem Messer in der Rechten ausholt und sich mit dem Messer, offenbar ein scharfes, ein spitzes Messer, in die linke Hand sticht, seine linke Hand mit dem Messer durchbohrt und sie auf dem kleinen Rednerpult festnagelt.
Die Kamera hat die Szene detailgenau eingefangen, das aus der Hand hervorsickernde Blut, den aufschreienden Banor, derweil vom entzückten, entrückten Publikum unten kaum einer mitbekommen haben dürfte, begriffen haben dürfte, was soeben geschehen ist. Das Kreischen ihres Przewodnik werden die meisten als Ausdruck seines patriotischen Furors gewertet haben. Erst als zwei Sicherheitsriesen, einer von links, einer von rechts, auf Banor zustürzen, einen Anschlag vermutend ihn abschirmen, ihn in Deckung und also unter das Pult zu drücken versuchen, was aber nicht möglich ist, weil die Hand im Holz feststeckt, bricht sich die Erkenntnis auf dem Stadtplatz Bahn, dass etwas Außergewöhnliches, womöglich Erschütterndes passiert ist, fährt ein Schock mit Eiseskälte in die erhitzte Menge und lässt sie verstummen.
Goppel dagegen ist überhaupt nicht stumm. So glühend, so berauscht habe ich ihn lange nicht mehr erlebt. Vielleicht hat er nachgeholfen, bevor er sich aufgemacht hat zu unserem Mittwochstreffen im Ernesto. Habt ihr das gesehen, fragt er uns mit sich überschlagender Stimme und blickt der Reihe nach Misch, Kirschbaumer und mich an mit einer Miene, die seine Begeisterung übertragen möchte. Ich glaube, er schaut auch Raspel an auf dessen leeren Stuhl. Zack, rein, ruft Goppel und imitiert mit einem imaginären Messer in der Hand die Banorsche Selbstaufspießung. Wie ein angestochenes Schwein hat er geschrien, ruft Goppel. Er schaut uns alle an, als wolle er jeden Moment aufspringen und die Arme in die Höhe reißen, was uns animieren soll, es ihm gleichzutun.
Mit einem Mal ist er wieder jung. Wir alle sind mit einem Mal wieder jung. Vielleicht nicht in dem Maße wie Goppel, der schon immer mit einem kindlichen Gemüt gesegnet gewesen ist, dem wir immer schon seine Naivität vorgehalten haben, aber immerhin. Aus Misch viel zu großen kugelrunden Augen, früher sind sie groß und kugelrund gewesen, ob sie es in den vergangenen Jahren noch gewesen ist, kann ich gar nicht sagen, weil sie mit gesenktem Kopf durch die Welt gegangen ist und einen, selbst wenn sie mit dir gesprochen hat, kaum angesehen hat, leuchtet es. Sie leuchten wieder, diese Mischaugen, die ich immer bewundert habe. Sie sind wieder groß und kugelrund wie früher und vielleicht glänzen sie sogar feucht.
Kirschbaumer seinerseits grinst. Wann habe ich Kirschbaumer zuletzt so grinsen gesehen? Er grinst wie jemand grinst, der sich Weihnachten eines, schon was die Ausmaße betrifft, voluminösen Geschenks sicher ist, der im tiefsten Herzen weiß, dass er sich dieses Geschenk verdient hat, dann aber, als die Bescherung ansteht, ein Päckchen zugedacht bekommt, in das bestenfalls eine Walnuss hineinpasst, der sich die Enttäuschung tunlichst verkneift, auf die neckenden Sprüche, die rings um ihn her ausgesendet werden, mit Lässigkeit reagiert, der später, reichlich später, als die Gesellschaft sich erhebt, um zum Essenstisch zu gehen, vor einen Vorhang geführt wird, dem vor diesem Vorhang Moment mal, Freundchen gesagt wird, dem dieser Vorhang vor der Nase weggezogen wird, tataaa, und er sieht, dass hier sein Geschenk, das voluminöse, das einzig wahre, auf ihn wartet, und er grinst, und sein Grinsen will sagen, er habe es doch immer gewusst, nicht nur erhofft, sondern gewusst. So grinst Kirschbaumer.
Während Kirschbaumer also selig grinst, gerät Goppel, wie man so sagt: aus dem Häuschen. Das letzte Mal, dass dies der Fall gewesen ist, liegt, wenn ich die Zeitspanne richtig ermesse, ach ja: die Zeit, mehr als zehn Jahre zurück. Damals hat er sich mit der Arbeitsgruppe Menschenrechte, alle sind, schon damals, viel jünger gewesen als Goppel, vor der wolwodischen Botschaft angekettet. Zwanzig Stunden in einer Arrestzelle hat ihm das eingebracht und eine Geldstrafe in Höhe von zehn Tagessätzen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, doch das, hat er damals gesagt, noch Wochen später hat er das gesagt, damals als wir uns noch im Gottsmannsgrüner getroffen haben mittwochs, habe sich mehr als gelohnt. Irgendwann nach Ablauf der besagten Wochen, muss Goppel gedämmert sein, dass es sich doch nicht gelohnt hat, und er hat sich wieder zurückgezogen in das besagte Häuschen. Habe ich ihn gebeten, mich bei den Recherchen für mein Projekt über Arbeiterlieder zu unterstützen, habe ich mir laue Ausflüchte anhören müssen, die Goppels tatsächlichen Beweggrund, nämlich keine Lust zu haben, schon gar keine Lust auf so etwas, nur mühsam kaschiert haben. Selbst Misch, mit der er zu Schulzeiten ein Paar gewesen ist, ein Verhältnis, das später in eine Durchdickunddünnfreundschaft übergangen ist, hat sich zuletzt Absagen eingehandelt, wenn sie Goppel aufgefordert hat, ihr beim Verteilen von Handzetteln oder bei der Essensausgabe für fredische Flüchtlinge zur Hand zu gehen. Haben wir uns mittwochs getroffen und sind ins Reden gekommen, ich glaube, er hat zuletzt Angst davor gehabt, ins Reden zu kommen, lasst uns ein paar Partien Rommé spielen, hat er gesagt, das Billard, bei dem er durch Hinterlegung einer Münze bereits seine Ansprüche angemeldet hat, sei jetzt frei, hat er gesagt, wenn wir diskutiert haben, was hier bei uns sich ereignet und in der Welt überhaupt, wie dies bei uns mit der Welt im Zusammenhang steht und was dagegen zu tun sei, was dagegen von uns getan werden kann, hat er, Goppel, immer häufiger in letzter Zeit Was sollʼs gesagt, Was bringtʼs, und ist aufgestanden, um sich an der Theke ein weiteres Bier einschenken zu lassen.
Jetzt aber, nachdem wir zum zweiten Mal auf Mischs kleinem Display mitangesehen haben, magisch angezogen davon und nicht in der Lage, die Augen zu wenden wir allesamt, wie Banor inmitten seiner geifernden Ansprache das Messer zieht und es sich mit Wucht, als Zuschauer ist man als moderner Mensch an einiges gewöhnt und nimmt, weil an einiges gewöhnt, kaum mehr etwas für ernst und echt, in die Handfläche und durch diese hindurchrammt, dass es keinen Zweifel am Ernst und Echt geben kann, ist alles vergessen. Vielleicht hat sogar Kirschbaumer vergessen, für einen Moment vergessen, was er nicht vergessen kann, auch nicht vergessen will, wie ich glaube, was ihm, wie ich glaube, tagtäglich vor Augen steht, nämlich wie sein bester Freund Raspel erschossen wird, damals in Chuquisaco, mehr als vier Jahrzehnte ist das her, wo sie, als sogenannte Entwicklungshelfer unterwegs, den Silberminenarbeitern vorgebetet haben, welches Geheimnis hinter der ursprünglichen Akkumulation steckt und was es heißt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Wir sind, wie wir da gesessen sind all die Zeit jeden Mittwochabend, zuerst im Gottsmannsgrüner, später dann im Ernesto, verschanzt hinter unseren Rommékarten, wie Pflaumentoffel gewesen, Zwetschgenmännchen. Wie diese ungelenken schwarzen Gestalten sind wir gewesen mit den aufgeklebten spaßigen Gesichtern, mit dem Pappzylinder auf dem Kopf, dem Leiterchen in der Armbeuge, die uns als Schornsteinfeger, mit dem karierten Kopftüchlein und dem winzigen Korb, die uns als Marktweiblein ausgewiesen haben, so sind wir gewesen. Als Kinder haben wir die Pflaumentoffel geschenkt bekommen, eine Süßigkeit, eine Spezialität, zum Naschen gemacht, aber statt sie wegzuschmausen, sind sie ins Regal gestellt worden, wo sie hinter Büchern, hinter Nippes geschoben und dann vergessen worden sind, übersehen worden sind, wo sie eingestaubt sind und mehr und mehr verschrumpelt, wo sie mit der Zeit ungenießbar geworden sind.
Pflaumentoffel sind wir gewesen und haben aus unserem Regal kaum mehr herausschauen können all der Dinge wegen, die sich vor uns angesammelt haben. Bis wir den kahlen Nywele haben schreien hören mit seiner tiefen Stimme, die sonst immer nur gebrummt hat, wenn er die Knossa hat abschlachten lassen, wenn er die Blutdiamanten verkauft hat, wenn er zu Gast gewesen ist bei den Präsidenten und Kanzlern der sogenannten freien Welt, von ihnen umschmeichelt worden ist, weil er etwas zu bieten gehabt hat, Yttrium, Samarium, Gadolinium, was die anderen gebraucht haben. Aber mit einem Mal hat er geschrien, der kahle Nywele, und seine tiefe, vibrierende Stimme ist umgekippt dabei ins Grelle und Zackige. Mit seiner Gabel hat er sich bei einem Empfang zu seinen Ehren, hat es sich im Elyseepalast oder auf Schloss Drottningholm zugetragen, egal, ins Auge gestochen. Es mag Loup de mer mit Langostinos auf Spargel in Champagnersoße und Gratintaler serviert worden sein, es mag sein, dass man sich auf angenehmste Weise ausgetauscht, vielleicht Anekdoten zum Besten gegeben hat, die man mit nicht anwesenden Namhaftigkeiten selbst erlebt hat, es mag sein, dass man auf das Wohl von diesem und jenem angestoßen hat, Genaueres hat die Presse nicht übermittelt, doch wohl, von einigen wenigen, immer den selben Bildern begleitet, wer hat wohl geistesgegenwärtig oder einfach aus purer Gewohnheit sein Handy gezückt, dass sich der kahle Nywele seine vor Speisenschmiere glänzende Gabel ins Auge gerammt hat. Mit kein Zögern zulassender Vehemenz, so ist es der Weltöffentlichkeit mitgeteilt worden, habe der schwere, der stämmige Mann sich das zinkige Besteck, gerade habe er seinem Nebenmann an der Tafel noch auf eine Launigkeit geantwortet, ins Auge, in sein linkes, gebohrt. Er, der kahle Nywele, sei daraufhin aufgestanden, hochgefahren sei er und mit dem silbrigen, dem funkelnden, dem den Kronleuchterschein reflektierenden Teil im großen dunkelbraunen Schädel für zwei, drei Sekunden regungslos dagestanden, erst dann habe er zu brüllen begonnen vor Schmerz, vor Schock, erst dann sei er, mit den mächtigen Armen sinnlos in der Luft hantierend, zusammengebrochen, erst dann sei Dienstpersonal, seien Personenschützer ihm beigesprungen und hätten, die Hilflosen, zu helfen versucht. Wir, tief hinten in unserem Regal, haben ihn schreien gehört, den kahlen Nywele. Wir haben uns angesehen in unserer spaßgesichtigen Erstarrung, dafür hat es gereicht, und wie Hunderttausende andere auch haben wir uns gefragt, ob verstanden werden kann, Drogen, Gift, ein Attentat, es ist wild spekuliert worden, was wir nicht verstanden haben.
Einige Wochen später, als sich Diederick Pieterszoon ins Bein geschossen hat, haben wir Mittwochsorakler im Ernesto geglaubt, es schon besser zu verstehen. Im Gegensatz zum Nywelevorfall hat es von der Pieterszooninzidenz bewegte Bilder gegeben, die in rasanter Weise kopiert und auf allen Kanälen wieder und wieder abgespielt worden sind. Wieder und wieder haben wir sie uns angesehen, die Parade zum Jahrestag der Hystrixrevolution, die Kampfjets, die über den Platz der Erhebung gedonnert sind, die gewienerten Panzer und Haubitzen, die mobilen Abschussrampen mit ihrer imposanten Raketenfracht und natürlich in Reih und Glied, perfekte Menschenquader bildend, die schnieken Infanteristen, die mit geschulterten Gewehren, die Beine in die Waagrechte werfend, stechschrittig vorbeidefiliert sind an der Haupttribüne, in dessen Mitte, eingerahmt von ordenbehangenen Militärs mit viel zu großen Mützen auf den Köpfen, Diederick Pieterszoon gesessen ist und das Geschehen, gelangweilt, mit Wohlwollen, wer weiß, verfolgt hat. Wir haben gesehen, wie der Kapdiktator seinem neben ihm sitzenden Verteidigungsminister die glänzend schwarze Pistolentasche, die dieser am Gürtel getragen hat, öffnet, wie er, Pieterszoon, die Lasche mit dem Druckknopf, vielleicht ist es ein Druckknopf gewesen, nach oben biegt und die Pistole, schwarz und glänzend auch die, herauszieht, wie er die Pistole, wie nicht wissend, was das eigentlich ist, was er damit soll, für einige Momente in der Hand hält, wie sein Verteidigungsminister ihn entgeistert ansieht, herrlich dieser Blick, und wie Pieterszoon dann die Sicherung an der Waffe löst, sich diese mit dem Lauf auf den eigenen Oberschenkel aufsetzt und abdrückt. Obwohl es laut gewesen ist, eine Militärkapelle dröhnend, blechern und ohne Unterlass gespielt hat, ist der Schuss auf den Aufnahmen deutlich zu hören gewesen. Als hätte alles ringsumher, akustisch zumindest, mit einem Mal seine Bedeutung eingebüßt, hat der Schuss alles überlagert, hat nur noch dieser Schuss gezählt, hat alles scheinbar, wir Betrachter ganz sicher, im Nachhall des Schusses den Atem angehalten, als wäre nicht länger verbürgt, dass es überhaupt in irgendeiner Weise weitergeht nach diesem Schuss.
Pieterszoon hat geschrien so wie vor ihm der kahle Nywele geschrien hat und wie nach ihm Zwycieski Banor schreien sollte. Pieterszoon hat seinen schmallippigen Mund aufgerissen und geschrien vor Pein, die ihn angesprungen hat wie ein Raubtier. Die Tribüne ist in Aufruhr versetzt gewesen, in diejenigen, die sie bevölkert, die andächtig die Parade bewundert haben, ist zuckende, Panik ahnen lassende Bewegung gekommen. Alles ist hingezogen worden auf diesen Pieterszoonschrei, auf diesen Pieterszoonmund, der dunkle Abfluss, in dem alles auf dieser Tribüne zu verschwinden gedroht hat, ehe die in allen Nachrichtensendungen verbreiteten Aufnahmen abgebrochen sind.
Bis zu uns ins Ernesto ist dieser Schrei vorgedrungen. Schon der Nyweleschrei hat uns aufmerken lassen. Der Pieterszoonschrei aber ist uns wie ein Stromstoß in die Glieder gefahren. Was zusammengesunken gewesen ist, hat sich wieder aufgerichtet. Die Gesichter, die verkniffene gewesen sind, haben sich geglättet, die von Goppel und Misch und auch mein eigenes. Kirschbaumer hat, als der Schuss von Pieterszoon ins eigene Bein publik geworden ist, als erst der Schuss und dann sein Schrei den Planeten für einen Moment haben erzittern lassen, den roten Stern wieder angesteckt ans Revers. Misch, das hat sie uns am Abend im Ernesto mädchenhaft feixend erzählt, hat bei sich zu Hause die zu einer Demonstration gegen die Abholzung des Bachhammer Forstes aufrufenden Flugblätter in die Luft geworfen, dass diese tatsächlich geflogen sind. Etwas wie Hoffnung auf Gerechtigkeit, ein Zipfelchen dieser Hoffnung, ist von uns irgendwo in der Ferne ausgemacht worden. Obwohl niemand von uns an eine höhere Instanz glaubt, ich denke, das mit Fug behaupten zu dürfen, obwohl jeder von uns mit den Systemen der Gängelung, die mit der Postulierung einer höheren Instanz einhergehen, vertraut ist und diese mit Entschiedenheit als menschenverachtend von sich weist, habe ich gespürt, damals als Pieterszoon geschrien hat, dass jeder von uns, Goppel, Misch, Kirschbaumer, ich auch, sogar Raspel auf seinem leeren Stuhl, sich nicht hat enthalten können, einen wie auch immer gearteten Weltgeist aufleben zu lassen, der sich entschließt, endlich entschließt, uns mit seiner Gegenwart zu beglücken und die in Schieflage geratenen Dinge geradezurücken.
Inzwischen weiß ich, dass dem nicht so ist. Inzwischen hat sich Banor selbst aufgespießt, und ich weiß, wer dafür verantwortlich ist. Wer den kahlen Nywele veranlasst hat, die Gabel gegen sich zu wenden, wer Pieterszoon verleitet hat, die Pistole gegen sich zu richten, ich weiß es. Was ich nicht weiß, ist, ob die anderen es hören wollen. Goppel fuchtelt der Bedienung und bestellt, zur Feier des Tages, eine Runde Dirndlbrand. Misch glänzt, und ab und zu kichert sie, ohne Grund scheinbar, aber natürlich gibt es einen Grund für ihr Kichern und wir kennen ihn. Kirschbaumer überlegt, wer als nächster an der Reihe sei, wer sich aus dem fliegenden Flugzeug stürzt, ohne Fallschirm wohlgemerkt, wer sich in der eigenen, mit goldenen Armaturen bestückten, geschmückten Badewanne ertränkt, wer seinen Kopf auf die glühende Herdplatte legt. Hengstler, Kobrack, Wolko, sagt Kirschbaumer, was wir meinen würden, Wolko, Hengstler, Kobrack, wiederholt er und gackert wie ein Pennäler, der zum ersten Mal ein Pornoheft in die Finger bekommt.
Als wir mit den dickwandigen Schnapsgläschen angestoßen haben, als wir die Gläschen, stumm in Richtung auf Raspels leeren Stuhl blickend, einen Moment vor uns ausgestreckt gehalten und ihren Inhalt dann in uns hineingekippt, als wir die Gläschen geräuschvoll zurück auf den Ernestotisch gestellt haben, verkünde ich der Runde, dass ich etwas zu sagen habe, etwas sagen muss, dass ich möchte, dass mir alle, so aufgedreht sie auch sein mögen, für ein paar Minuten zuhören. Vielleicht denkt Goppel, ich würde einen Sinn-, einen Denkspruch zum Besten geben, ein Loblied auf die Internationale, auf Brüderlichkeit und Aufrichtigkeit, vielleicht leckt er sich deshalb die eh feuchten Lippen. Ich aber frage, ob sie, meine Mittwochsbrüder und Mittwochsschwester, meine Gleichgesinnten und mit mir Zurückgebliebenen, sich erinnern können, dass ich ihnen von Tobi erzählt habe, Tobias Hausner, einen achtjährigen Jungen, der zweimal die Woche, dienstags, donnerstags, seine Abende bei mir verbringt? Weil sie das natürlich nicht tun, ich annehme, dass sie das an diesem Abend ganz sicher nicht tun, weil ihr Kopf mit anderem angefüllt ist als mit Details aus meinem welken Alltag, weil es summt in ihren Köpfen vor Überschwang, repetiere ich.
Ich berichte, hört her, sage ich, hört mir zu, sage ich, von Tobis Mutter, einem jungen Ding, die bei mir im Mietshaus mit ihrem Jungen unterm Dach lebt. Ich habe sie gegrüßt, wie ich alle Hausbewohner grüße, mehr lange Zeit aber auch nicht. Ich habe irgendeinen hohlen Unsinn zu dem Jungen gesagt, wie geht’s, habe ich gesagt oder: alles klar, als ich noch nicht gewusst habe, dass er Tobias heißt. Wenn ich ihn seinen Rucksack die Treppen habe hochschleppen sehen, habe ich ihn angesprochen. Okay, hat er dann geantwortet oder: passt schon. Mehr nicht, mehr nie. Ich habe gewusst, irgendwie habe ich es bald gewusst, dass er allein oben in der Wohnung ist nach der Schule, alleine sich sein Essen wärmt, alleine seine Hausaufgaben erledigt, alleine all das macht, was Jungen in seinem Alter machen. Denn seine Mutter ist immer erst gegen fünf nach Hause gekommen.
Du hast ihr nachspioniert, sagt Kirschbaumer mit aufstachelndem Unterton, du hast am Türspion gehangen und ihr nachspioniert. Ich will entgegnen, dass ich das nicht habe, aber weil dafür nun nicht der Zeitpunkt ist, weil ich meine, jetzt anderes sagen zu müssen, lasse ich es bleiben. Ich hebe nur abwehrend die Hand. Ich winke ab. Ich erbitte mir, solche Einwände zurückzustellen. Alles mit der selben, der rechten Hand.
Ich bin, sage ich, mit der Mutter des Jungen ins Gespräch gekommen. Ich habe mir, sagen wir es so, sage ich, nach einiger Zeit erlauben dürfen, mich nach den Umständen zu erkundigen, in denen sie mit ihrem Jungen lebt. Wie heißt sie? Jetzt ist es Goppel, der meint, mich unterbrechen zu müssen: Wie lautet ihr Name, ihren Vornamen wollen wir wissen, sagt er und schaut mit einem Clownsgesicht, groß die Augen, groß der Mund, die anderen an, Misch schaut er an und Kirschbaumer, ob nicht auch sie der Auffassung sind, sie als Zuhörer hätten sich den Vornamen der Dame vom Dach, Goppel spricht von der Dame vom Dach, verdient. Also gut, sage ich und dass sie Franziska heißt, Franzi, dass ich sie bald schon Franzi habe nennen dürfen, Franzi die Mutter und Tobi den Sohn, also gut.
Worauf ich hinauswill, sage ich, um eure befleckte Fantasie nicht weiter zu strapazieren, um also zur Sache vorzudringen, ist, dass die alleinerziehende Franziska zweimal in der Woche, wie gesagt dienstags und donnerstags, zusätzlich und um über die Runden zu kommen, nachts kellnert und dass ich mich bereiterklärt habe, den Jungen an diesen Abenden zu mir zu nehmen. Manchmal spielen wir etwas nach dem Abendbrot, meistens schauen wir fern. Er sagt nicht viel, sage ich. Er stört ja nicht. Er ist ein Nichtstörer. Ihr müsst ihn euch als Nichtstörer vorstellen, sage ich. Ein kleines, dünnes, blasses Kerlchen ist er. Einer, der nicht auffällt. Einer, der übersehen wird. Der, sage ich, ich weiß es nicht, aber ich stelle es mir vor, sich in der Schule nie meldet, der allerdings auch nie aufgerufen wird, weil der Lehrerin, dem Lehrer gar nicht bewusst ist, dass einer wie Tobi überhaupt Teil der Klasse ist. So einer, sage ich.
Wie dem auch sei, sage ich. Und dass wir, der Junge und ich, nicht selten zusammen Nachrichten und Politmagazine geschaut haben. Zu Beginn habe ich ihn noch gefragt, ob das für ihn in Ordnung sei, ob ihn das nicht langweile, ob er etwas anderes sehen möchte? Aber der Junge hat immer verneint. Es sei okay, hat er gesagt. Wenn ich das sehen möchte, Nachrichten, Politmagazine, dann schaue er sich gerne die Nachrichten und Politmagazine an. Dass er mich dabei studiert hat, sage ich, mich dabei studiert haben muss, mich wenigstens beobachtet, aber wahrscheinlich studiert haben muss, habe ich lange Zeit nicht bemerkt. Vielleicht weil ich mich zu oft, bei dem, was wir zu sehen bekommen haben, aufgeregt habe. Schaut man sich die Nachrichten oder sogar Politmagazine an, sage ich zu Goppel, Misch und Kirschbaumer, dann regt man sich auf, das muss ich euch nicht erzählen. Vielleicht bin ich bei einem Bericht über die Machenschaften des kahlen Nywele laut geworden. Aufgeregt habe ich mich mit Sicherheit, und Tobi wird es registriert haben.
Warum ich euch das schildere? Weil der Junge, Tobi, als sich Pieterszoon ins Bein geschossen hat, als abends die Bilder in den Nachrichten gelaufen sind, wie er sich ins Bein geschossen hat, ich in meinem Wohnzimmer auf- und abgegangen bin und die Arme in die Höhe geworfen habe, als ich gelacht habe und wahrscheinlich auch die eine oder andere Bemerkung der Genugtuung geäußert habe, plötzlich gesagt hat, ganz nebenbei hat er es gesagt, dass er es getan hat. Ich habe, sage ich, zuerst gar nicht auf ihn gehört. Zuerst habe ich, was der Junge gesagt hat, gar nicht eingeordnet, es nicht auf Pieterszoon bezogen. Wie hätte ich das auch tun sollen? Und außerdem hat die Ungeheuerlichkeit, die man da in den Nachrichten zu sehen bekommen hat, für den Moment alles andere in den Hintergrund gedrängt. Aber Tobi hat gesagt, er hätte es getan. Ich habe es getan, hat er gesagt, sage ich.
Erst später, als längst etwas anderes, ein Krimi wahrscheinlich, was sonst, gesendet worden ist, als ich neben ihm gesessen bin, mich halbwegs wieder beruhigt habe, habe ich ihn gefragt, was er vorhin gemeint habe mit seiner Aussage, er hätte es getan. Etwas bei ihnen oben in der Wohnung, etwas in der Schule, habe ich gefragt, mich daran erinnernd, dass ich für den Jungen der für die Geständnisse Zuständige sein sollte, der Verständnisvolle, der nach Möglichkeiten ein gutes Wort Einlegende. Nein, hat Tobi geantwortet und mich dabei nicht angeschaut, sondern wahrscheinlich den Krimi verfolgt, das mit dem Mann, der Kapdiktator genannt worden ist, das hätte er getan. Natürlich habe ich das nicht ernst genommen, sage ich. Wer hätte dergleichen ernst genommen? Mehr im Spaß habe ich den Jungen gefragt, wie er, was er getan haben will, denn getan habe. Einfach so, hat er gesagt. Einfach so? Einfach so. Und warum hast du es getan, habe ich ihn gefragt. Um dir, also mir, eine Freude zu machen, hat er gesagt, sage ich.
Natürlich habe ich die Sache wieder vergessen. Nicht Pieterszoons Beinschuss, aber Tobis Behauptung, etwas damit zu tun zu haben. Kinder in seinem Alter denken sich solche Dinge aus, hätte ich denken können, aber ich habe gar nichts gedacht. Ich habe es einfach vergessen. Bis heute in den Fünfuhrnachrichten Banor sich das Messer durch die Hand rammt. Als ich gesehen habe, wie Banor sich das Messer durch die Hand rammt, habe ich an Tobi denken müssen, wie er sagt, er hätte es getan. Plötzlich habe ich an nichts anderes mehr denken können, als an Tobi, wie er ganz ruhig und beiläufig sagt, er hätte es getan. Ich bin hoch gegangen, mehr gelaufen als gegangen, sage ich, hoch zu Tobi. Ich habe geklingelt, und der Junge hat geöffnet. Seine Mutter ist noch nicht von der Arbeit zurück gewesen. Hallo, hat er gesagt, sage ich. Nicht mit sich kämpfend, irgendetwas zu verbergen, wie Kinder in seinem Alter es tun, wenn sie etwas zu verbergen haben, nicht drucksend, nicht verlegen, hat er einfach Hallo gesagt. Er hat sich gefreut, mich zu sehen, wie er sich immer in seiner zurückgenommenen Art freut, wenn er mich sieht, mehr aber auch nicht. Ich bin zu ihm hinein, sage ich. Ich habe ihn gefragt, ob er etwas mit Banor zu tun hat. Dem bösen Mann, hat Tobi zurückgefragt. Ich habe genickt. Und er hat genickt. Er hat mich offen und ruhig, jedenfalls nicht davon aufgewühlt, etwas Ungeheuerliches getan zu haben, angesehen und genickt.
Wie, habe ich gefragt, sage ich. Einfach so, hat er gesagt. Einfach so? Einfach so. Zeige es mir, habe ich ihn aufgefordert, jetzt gleich. Zeige es mir. Und während ich zum zweiten Mal Tobi auffordere, es mir zu zeigen, ihn dazu bringen will zuzugeben, dass seine Behauptung haltlos ist, die Spinnerei eines fantasiebegabten Jungen, der zu viel, zu lang alleine ist jeden Tag, greife ich in die Brusttasche meines Hemdes. Ich will nicht in die Brusttasche meines Hemdes greifen, wo, wie immer, wie Tobi es zig Male beobachtet haben dürfte, wenn ich mir eine gedreht habe, das Einwegfeuerzeug sich befindet. Ich will es nicht, aber ich tue es. Ich hole das Feuerzeug hervor, sage ich. Ich will es nicht, sage ich, aber ich lasse eine Flamme aufspringen. Ich halte mit der Rechten das brennende Feuerzeug, als gäbe es in der Dunkelheit etwas zu beleuchten. Ich halte mit der Rechten das brennende Feuerzeug, obwohl ich gar nicht weiß, dass ich es halte. Dann nähert sich meine flache linke Hand, seht ihr, sage ich, diese linke Hand, und strecke ihnen meine mit einem Verband umwickelte Linke entgegen, der Flamme, verharrt über der Flamme, bis ich aufschreie vor Schmerz.
Alle, Goppel, Misch, Kirschbaumer, sogar, denke ich, Raspel auf seinem leeren Stuhl, sehen mich an, als wäre ich mit einem Mal komplett von einer dünnen, transparenten Schicht überzogen, die aus mir einen anderen macht, einen, den sie nicht kennen.