Der Vorhörer

Von

Würde ich, was gesprochen wird, was mehr oder weniger rhyth­misch tönt und klingt, was um mich her piept und schnar­rt und schnieft und rat­tert und radaut ein paar Momente später, also mit Verzögerung hören, als es der Fall ist, oder kor­rek­ter aus­ge­drückt: als es bei Exem­plaren der men­schlichen Spezies, des üblichen Hörens mächtig, üblich ist, und nur dies, das Übliche, kann ja als rel­e­vant in Betra­cht gezo­gen wer­den, dann würde ich, dieser Gedanke hat mich bere­its diverse Male, früher und auch hier in Biar­ritz, beschäftigt, beun­ruhigt und in gewiss­er Weise getröstet zugle­ich, als gestört und behin­dert gel­ten. Man würde sich mein­er annehmen, meinen Hörap­pa­rat mit aller zur Gebote ste­hen­den Sorgfalt inspizieren, mir Elek­tro­den ankleben und meine Hirn­ströme messen, um der Ursache der unsachgemäßen Rei­zleitung auf den Grund zu gehen, um diese Störung im Sys­tem nach Möglichkeit zu beheben. Als Nach­hör­er wäre ich in einem ein­schließen­den Sinn defekt. Doch würde ich, trotz oder ger­ade wegen dieses Defek­ts, dazuge­hören, als Anhang zwar, als Mitschleif, als Unnut­zlast, aber als solch­es immer­hin. Ich wäre Teil.

Ich bin es nicht. Als Vorhör­er kann ich es nicht sein. Als Vorhör­er bin ich aus­geschlossen und muss es bleiben. Ein Vorhör­er stellt eine solch radikale Ander­sar­tigkeit dar, dass ein Here­in­holen in den Kreis der Gemein­schaft unmöglich erscheint. Die Welt des Vorhör­ers ist von der der Übri­gen geschieden. Sie mögen ähn­lich erscheinen, diese bei­den Wel­ten, zum Ver­wech­seln ähn­lich sog­ar, aus den gle­ichen Molekülen sich zusam­menset­zen, nach den gle­ichen Geset­zmäßigkeit­en funk­tion­ieren und fortschre­it­en, und sind doch, ich weiß, wovon ich spreche, von ein­er Dis­par­ität, die unüber­brück­bar ist und es bleiben muss. Die Zeit ver­hin­dert eine Berührung der bei­den Wel­ten. In diesem, in meinem Fall heilt sie keine Wun­den, son­dern hakt und spreizt sich in diese hinein, damit nur ja sich nichts schließen kann.

Ich erin­nere mich genau, wann diese Wunde in mir, dass es sich um eine in mir, von mir aus­ge­hende, aus mir her­auswach­sende han­delt und nicht um eine von außen mich umfassende, ste­ht außer Frage, aufgeris­sen ist. Ohne Vor­war­nung ist es geschehen, ohne dass, ich habe mir das wieder und wieder verge­gen­wär­tigt, habe die Tage und Wochen davor immer aufs Neue reka­pit­uliert, etwas auf sie zuge­führt, sich etwas ange­bah­nt hätte, das in diese Wunde hat mün­den müssen. Ich bin am fün­fundzwanzig­sten April vorigen Jahres um siebzehnuhrzehn im Kun­den­bere­ich des Auto­haus­es Matt gesessen, habe in einem Mag­a­zin geblät­tert, nur geblät­tert, um mich abzu­lenken, mich zu beschäfti­gen, nicht gele­sen habe ich, und gewartet, dass mein Name aufgerufen, mir an der Theke mit­geteilt wer­den würde, mein Wagen wäre nach der Inspek­tion abhol­bere­it. Hier die Rech­nung und hier Ihr Schlüs­sel, würde die Dame hin­ter der Theke zu mir sagen, im Hin­ter­grund liefe jemand im blauen Over­all vor­bei, nach Gum­mi würde es riechen, wom­öglich käme der Chef, Herr Matt, der umgängliche der bei­den Mat­tbrüder, aus seinem Büro und würde mich grüßen, würde sich nach mein­er Frau erkundi­gen, fra­gen, ob alles zu mein­er Zufrieden­heit wäre, wom­it er, Matt, das Auto­haus Matt Betr­e­f­fende meinen würde, weil sich unsere Bekan­ntschaft auf das Auto­haus Matt Betr­e­f­fende beschränkt, ich würde lächeln, meine Karte der Dame hin­ter der Theke reichen, um die Rech­nung zu begle­ichen, und Alles bestens zu Matt sagen und: Wie nicht anders gewohnt.

Um siebzehnuhr hätte mein Wagen bere­it­ste­hen sollen. Um siebzehnuhrzehn, ich habe auf die Uhr gese­hen, ich habe nach Hause fahren, duschen wollen, meine Frau hat Gäste ein­ge­laden gehabt für diesen Abend, habe ich gehört, wie an der Theke mein Name gerufen wird. Ich bin aufge­s­tanden, um einen feuer­roten, für ein Motoröl wer­ben­den Löwen, der als Pap­pauf­steller dort platziert gewe­sen ist, herumge­gan­gen und habe die weni­gen Schritte zur Theke gemacht. Die Dame dahin­ter hat mich fra­gend ange­se­hen und ich habe sie fra­gend ange­se­hen. Ich habe sagen wollen, sie hätte meinen Namen gerufen und hier sei ich nun, der ich auf diesen Namen höre. Ich bin nicht dazu gekom­men, das zu sagen, weil in diesem Moment ein Mann im blauen Over­all aus dem Werk­statthin­ter­grund aufge­taucht ist, mir zugenickt hat und der Dame hin­ter der Theke die meinen Wagen betr­e­f­fend­en Unter­la­gen samt meinem Autoschlüs­sel gebracht hat. Die Dame hin­ter der Theke hat meinen Namen rufen wollen, aber dann real­isiert, dass der auf den Unter­la­gen verze­ich­nete Träger des Namens bere­its vor ihr ste­ht. Sie hat ver­legen gelächelt, vielle­icht irri­tiert, ich weiß nicht mehr, weil ich selb­st irri­tiert gewe­sen bin. Irri­tiert, weil ich die Dame hin­ter der Theke, als sie mich fra­gend anblickt, noch ehe sie die meinen Wagen betr­e­f­fend­en Unter­la­gen ent­ge­gen­nimmt, noch ehe sie ver­legen lächelt, Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagen höre. Ich höre sie es sagen, obwohl sie es gar nicht sagt. Erst als ich über­lege, ob ich mich ver­hört habe, ob jemand anderes in den Büros, ich sehe mich um, Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent gesagt haben kön­nte, ob ich mir einge­bildet habe, dass jemand Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagt und es in Wirk­lichkeit gar nicht sagt, weil ein Geräusch aus dem Werk­statthin­ter­grund oder von draußen, von der Viel­be­fahren­heit draußen ähn­lich gek­lun­gen haben mag, von mir fälschlicher­weise dahinge­hend umge­hört wor­den ist, dass es gek­lun­gen hat, als würde jemand Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagen, sagt die Dame hin­ter der Theke: Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent. Das heißt: sie öffnet den Mund, um Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent zu sagen, aber für mich, den Adres­sat­en dieser Mit­teilung, kommt nichts Akustis­ches her­aus aus diesem dezent geschmink­ten Mund, weil das mitzuteilende Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent längst mit­geteilt wor­den ist. Statt Macht vier­hun­dertzweiund­siebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagt die Dame hin­ter der Theke, sagt es mit schon wieder geschlossen­em Mund, bauchred­ner­isch gewis­ser­maßen, obwohl, wie ich jet­zt weiß, das nichts mit Bauchred­nerei zu tun hat: Dann einen schö­nen Abend noch. Das wün­sche ich Ihnen auch, antworte ich. Ich antworte es, obwohl die Dame hin­ter der Theke noch gar nichts gesagt hat, das mein­er Antwort Sinn ver­lei­hen würde. Sie lächelt, nun nicht mehr ver­legen, son­dern eher ver­stört und sagt, mir meine Karte reichend, sagt es, ohne dass ich höre, was sie sagt, aber ich weiß, dass sie es sagt, weil sie es ja bere­its gesagt hat: Dann einen schö­nen Abend noch.

Ich bin, glaube ich, hin­aus­ge­taumelt aus dem Auto­haus Matt am fün­fundzwanzig­sten April vorigen Jahres gegen siebzehnuhrfün­fzehn, mehr über­rascht und über­rumpelt als schock­iert. Den meinen Weg queren­den Matt, den umgänglichen, nicht den ver­rück­ten der bei­den Mat­tbrüder, habe ich, glaube ich, obwohl er, glaube ich, mich gegrüßt hat, obwohl er, glaube ich, ein unverbindlich­es, die Kun­den­bindung stärk­endes Wort an mich hat richt­en wollen, links liegen lassen. Ich bin in meinen inspizierten, frisch geschmierten, aufs Rei­bungslose hin eingestell­ten Wagen gestiegen und habe nichts anderes erst ein­mal gedacht, als schle­u­nigst fortzukom­men. Die Bestürzung, das die Bestürzung grundierende Unver­ständ­nis, das Loch, das Unver­ständ­nis und Bestürzung in mich hinein­geris­sen haben, habe ich mit Bewe­gung zu schließen ver­sucht. Dass ich vor­ab gehört habe, wie die von mir zuge­wor­fene Tür meines Wagen wummt, wie der Motor meines Wagens anspringt und zu schnur­ren begin­nt, wie der Blink­er meines Wagen metronomisch tickt, ist mir nicht aufge­fall­en, obwohl es, wie ich jet­zt im Nach­hinein weiß, so gewe­sen ist. Ich habe den Last­wa­gen vor­bei­don­nern, die Hupe hupen, das Kind an der Hand sein­er Mut­ter kreis­chen, das Sehbe­hin­dertensignal an der Ampel tack­ern gehört, noch ehe der Last­wa­gen vor­beige­donnert ist, die Hupe gehupt, das Kind gekreis­cht und das Sig­nal getack­ert hat. Ich habe all dies gehört, bevor es zu gehören gewe­sen ist, aber ich habe es nicht vor­ab wahrnehmen wollen. Ich habe nach Hause gewollt, unter die Dusche gewollt. Dass deren Rauschen einge­set­zt hat, noch ehe ich den Hebel der Mis­chbat­terie betätigt habe, habe ich aus­ge­blendet. Ich habe das warme Wass­er mich über­pras­seln lassen, wie lange, das weiß ich nicht mehr, ziem­lich lange.

Der Abend ist eine Tor­tur gewe­sen. Dass ich die ein­ge­ladene Fre­undin mein­er Frau nicht lei­den kann, den Mann der Fre­undin mein­er Frau noch weniger ausste­hen kann als die Fre­undin mein­er Frau, wäre peini­gend genug gewe­sen, dass ich an ihrem Geschnat­ter habe erproben müssen, wie es ist, Geschnat­ter vor­ab zu hören, es sich nicht anmerken zu lassen, dass man das Geschnat­ter vor­ab hört, mitanse­hen zu müssen, wie das Geschnat­ter aus den Men­schen her­aus­dringt, obwohl sie sich ger­ade ein Stück mit der Gabel aufge­spießtes Fleisch in den Mund schieben, es kauen, es schluck­en, mitanse­hen zu müssen, wie sie die Mün­der öff­nen, die Lip­pen bewe­gen und keinen Laut dabei erzeu­gen, hat mich an die Gren­zen des Erträglichen gebracht. Ich habe kaum etwas gesagt an diesem Abend. Ges­tar­rt muss ich haben, und als ich bemerkt habe, dass ich starre und mein Star­ren auf­fäl­lig wird, wo ich mir doch jede Auf­fäl­ligkeit habe unter­sagen wollen, habe ich das Star­ren zu ver­mei­den ver­sucht und bin im Ver­mei­den noch auf­fäl­liger gewor­den.

Ich sei aber schweigsam heute Abend, hat die Fre­undin mein­er Frau gesagt, und ich habe mich zwin­gen müssen, nicht Ich habe meine guten Gründe oder Es ist bess­er so zu antworten, bevor sie Du bist aber schweigsam heute Abend gesagt hat. Noch bestürzen­der als vor­ab Geräusche, das Sch­aben von Messern, das Schep­pern von Schüs­seln, das Klir­ren sachte aneinan­der gestoßen­er Gläs­er, als andere vor­ab sprechen zu hören, ist es gewe­sen, mich selb­st vor­ab sprechen zu hören. Wie ein Echo hat es gek­lun­gen, ein vor­eiliges, vorau­seilen­des Echo, dumpf und hohl. Dass ich den Satz, meinen gle­ich zu sagen­den Satz vor­ab gehört habe, ihn auch gehört habe, wenn ich mich entschlossen habe, ihn, den Satz, nun, da ich ihn gehört habe, nicht auszus­prechen, dass ich also keineswegs gezwun­gen gewe­sen bin, den vor­ab gehörten Satz auch wirk­lich auszus­prechen, hat mich ver­wirrt, wie mich alles ver­wirrt hat, hat der Ver­wirrung, die mich hat schwindeln lassen, die mich immer wieder die Augen hat schließen lassen, um zu mir zu kom­men, noch einen Ver­wirrungsan­bau hinzuge­fügt. Ich habe an diesem Abend noch über­haupt keine Übung darin gehabt, mit mein­er Rep­lik zu warten, bis der­jenige, der sich an mich wen­det, den Mund öffnet, die Lip­pen bewegt, weshalb mein ein­sil­biges Ja, mein Gut, mein Leck­er, wirk­lich leck­er diverse Male zu früh gekom­men und entsprechend hineinge­platzt ist und den ein­studierten Gang der Kon­ver­sa­tion ins Stolpern gebracht hat. Inzwis­chen habe ich einiger­maßen gel­ernt, mich anzu­passen, mich einzustellen und auch mich zu ver­stellen, aber an diesem ersten Abend hat mir das nicht gelin­gen wollen. Wie hätte es auch gelin­gen sollen, bin ich mir doch selb­st noch nicht im Klaren gewe­sen, was mit mir geschieht, nach welchen Reg­u­lar­ien etwas mit mir geschieht und wie ich mich ihnen entsprechend ver­hal­ten kann. Der Abend ist ein Fiasko gewe­sen.

Meine Frau hat mich, nach­dem ihre Fre­undin und deren Mann sich ver­ab­schiedet haben, mit einem eisi­gen Blick ges­traft. Erst ein­mal hat sie nichts gesagt. Als sie etwas gesagt hat, los­gelegt hat, begonnen hat, mich zu beschimpfen, habe ich es natür­lich vor­ab gehört, doch weil ihre Gat­ten­her­ab­würdi­gung und Gat­ten­verunglimp­fung länger angedauert hat, als der von mir wahrgenommene Vor­lauf im Hören hat sich die Lautäußerung mit der die Lautäußerung beglei­t­en­den Mimik über­schnit­ten, aber eben in ein­er nicht zusam­men­passenden Weise. Als meine Frau die Augen aufgeris­sen, die Hände dazu in die Luft gewor­fen, als sie den Mund geöffnet hat, um mich einen unge­ho­beltes Scheusal zu nen­nen, ist sie in meinem Gehör­gang bere­its beim Ich weiß nicht, ob ich mir das noch lange bieten lasse ange­langt gewe­sen. Ich habe mich entschuldigen, mich recht­fer­ti­gen wollen, auf meinen Zus­tand, den zu ver­ste­hen ich an diesem Abend noch weit ent­fer­nt gewe­sen bin, habe ich zu sprechen kom­men wollen, was jedoch unmöglich gewe­sen ist. Ins Bett zu desertieren, die Decke, das Kissen über den Kopf zu ziehen in der stillen Hoff­nung, am näch­sten Mor­gen wäre der Spuk vorüber und alles wieder in die gewohn­ten Bah­nen einge­fügt, ist mir schließlich als pro­bat­estes aller Mit­tel erschienen.

Es ist eine Hoff­nung gewe­sen, die sich nicht erfüllt hat. Meine Frau habe ich am näch­sten Tag nicht mehr angetrof­fen. Sie ist, wahrschein­lich um sich nicht aufs Neue aufre­gen zu müssen, früher als gewöhn­lich zur Arbeit entwischt. Mit Hil­fe des Mor­gen­pro­gramms im Fernse­hen, das ich mich zur Ruhe ermah­nend, an meinem Kaf­fee nip­pend, die Panik des gestri­gen Tages auf Dis­tanz hal­tend, ver­fol­gt habe, habe zum ersten Mal im eigentlichen Sinne real­isieren und ver­standesmäßig einord­nen kön­nen, was mit mir geschehen ist. Die Ton- und die Bild­spur dessen, mit dem ich kon­fron­tiert bin, hat sich voneinan­der gelöst, hat, jeden­falls in mein­er Wahrnehmung, die naturgemäße Syn­chronität wie und warum auch immer ver­loren. Was medi­al ver­mit­telt, im Mor­gen­pro­gramm des Fernse­hens etwa, gang und gäbe ist, näm­lich dass eine voneinan­der separi­erte Ton- und Bild­spur existiert, die zusam­menge­führt, aufeinan­der abges­timmt wer­den müssen, damit ein schlüs­siges Ganzes entste­ht, scheint, habe ich an diesem Mor­gen gedacht, auch in der von uns als solche wahrgenommene Wirk­lichkeit der Fall zu sein. Auch in der von uns als solche wahrgenomme­nen Wirk­lichkeit scheint es eine Dingebene zu geben, auf der gehan­delt wird oder die, mit dem, was diese Dingebene anfüllt, manch­mal, meis­tens ein­fach nur vorhan­den ist, und eine Tonebene, auf der gesprochen wird, auf der es zwitschert und summt. Sie müssen nicht zwangsläu­fig und untrennbar zusam­men­hän­gen, habe ich gedacht. Jemand nimmt sie auf und spielt sie zeit­ver­set­zt ab, habe ich gedacht.

Ich habe mit Hil­fe des Mor­gen­pro­gramms des Fernse­hens gestoppt, zehn-, zwölf­mal, öfter vielle­icht noch, habe ich gestoppt, wie groß die Spanne ist, bis ich das passende Bild zu sehen bekomme, dessen Ton ich bere­its gehört habe. Es sind ein­und­vierzig Sekun­den. Jedes Mal sind ein­und­vierzig Sekun­den ver­gan­gen, bis die Mod­er­a­torin den hüb­schen, oft­mals schnip­pisch zuge­spitzten Mund geöffnet hat, um ihre längst gestellte Frage entwe­ichen zu lassen. Ein­und­vierzig Sekun­den sind ver­gan­gen, bis der kahle Poli­tik­er seine hasen­schar­tige Schnute bewegt hat, um die Antwort zu for­men. Ein­und­vierzig Sekun­den sind die Schlucht, die mich von allen anderen tren­nt. An diesem Mor­gen vor dem Fernse­her ist mir klar gewor­den, dass ich kein Ver­hör­er, aber zum Vorhör­er gewor­den bin.

Ich habe zum Tele­fon gegrif­f­en und mein Vorz­im­mer angerufen, um mitzuteilen, dass mir ein im Magen- und Darm­bere­ich kur­sieren­des Unwohl­sein, so habe ich mich, glaube ich, aus­ge­drückt, unmöglich mache, heute im Büro zu erscheinen. Komisch ist es, jeman­den reden zu hören, wie das an diesem Mor­gen bei Frau Kraut­ner der Fall gewe­sen ist, der noch gar nicht redet, der, weil sein Tele­fon noch nicht gek­lin­gelt hat, gar nicht weiß, dass er gle­ich reden wird, und wenn er dann redet, ihn nicht zu sehen, wie er redet, weil das Tele­fon es nicht zulässt und es fol­glich erschw­ert, abzuschätzen, wann etwas gesagt wird, das in mein­er Wahrnehmung vor ein­und­vierzig Sekun­den bere­its gesagt wor­den ist, um darauf halb­wegs vernün­ftig zu antworten. Frau Kraut­ner hat mir gute Besserung gewün­scht. Dass mein ihr ins Wort fal­l­en­des Ges­tam­mel auf anderes hin­deutet als eine Magen­ver­stim­mung, wird sie sich gedacht haben, hat es aber, diskret wie sie ist, wie sie es als Vorz­im­mer­dame zu sein hat, beim Denken belassen.

Das Denken, habe ich gedacht, als ich wieder aufgelegt habe, ver­mag ich nicht zu hören. Allerd­ings kann ich mein eigenes Sprechen vor­ab hören, was dem Denken nahekommt, denn, wie ich, den gestri­gen Abend reka­pit­ulierend, gemerkt habe, bin ich nicht gezwun­gen, das, was ich vor­ab gehört habe, dann auch wirk­lich auszus­prechen. Auch die anderen, ist es nicht so gewe­sen im Auto­baus Matt, kann ich, indem ich darauf reagiere, was sie noch gar nicht gesagt haben, dazu brin­gen, das, was sie zu sagen beab­sichti­gen, nicht zu sagen. Heißt das nicht, habe ich an diesem Mor­gen zum ersten Mal gedacht, inzwis­chen habe ich diesen Gedanken­gang hin- und herge­dreht wie einen wider­spen­sti­gen Rubik­wür­fel, dass mehrere Ebe­nen, Schicht­en meinetwe­gen, zwei min­destens, dessen vorhan­den sind, was wir Wirk­lichkeit nen­nen? Und dass ich in der Lage bin, aus­gerech­net ich, zwis­chen diesen Ebe­nen hin- und herzus­prin­gen? In bei­den Ebe­nen zugle­ich behei­matet zu sein? Gewis­ser­maßen mit einem Bein in der einen und mit dem anderen Bein in der anderen Ebene zu ste­hen und dass, was ich mit einem metapho­rischen Schritt überspanne, ein­und­vierzig Sekun­den aus­macht? Dass die Zeit eine Art von Isolierung zwis­chen diesen Ebe­nen darstellt und diese Isolierung in mein­er Per­son brüchig gewor­den ist? Wie dem auch sei: Man wird wahnsin­nig bei einem solchen, aus der Gewohn­heit, aus der Gewis­sheit her­aus­führen­den Denken. Es aber nicht zu denken, ich kann das bezeu­gen, will auch nicht gelin­gen, weil man in jed­er Minute mit etwas kon­fron­tiert wird, das dieses Denken unauswe­ich­lich wer­den lässt.

Natür­lich habe ich mit jeman­den über meinen Zus­tand, ich will es so nen­nen, sprechen müssen. Natür­lich, welch ein leicht­fer­tiger Irrtum, ist es meine Frau gewe­sen. Am Abend, nach einem ver­grü­bel­ten und entsprechend peini­gen­den Tag, nach einem von unsyn­chro­nisierten Geräuschbedräng­nis­sen beein­trächtigten und deshalb bald wieder abge­broch­enen Parkspazier­gang, nach ein­er vor dem Fernse­her ver­bracht­en, vom Sekun­den­zeiger mein­er Uhr getak­teten Übungsstunde und dem Prax­is­test des Eingeübten in ein­er Bäck­erei, habe ich die nach Hause Kom­mende, auf mich nach wie vor schlecht zu Sprechende, vielle­icht noch schlechter als am Vor­abend zu Sprechende mit der Auf­forderung, wir müssten reden, an den Tisch gebeten. Ich habe ihr eröffnet, dass ich, ohne meine Zutun, ohne dass ich wüsste warum, zum Vorhör­er gewor­den bin, was ich selb­st nicht ver­stünde, nicht ein­mal ansatzweise, was aber gle­ich­wohl und offen­bar als Fak­tum zu akzep­tieren sei. Man mag sich vorstellen, wie mich meine Frau ange­se­hen hat, mit ein­er Mis­chung aus Ver­ständ­nis­losigkeit und Ver­ach­tung. Sie hat gar nichts antworten, sich auf das Ver­nich­tungspoten­zial ihres Blick­es beschränken wollen, aber dann ist es doch aus ihr her­aus­ge­platzt. Ob ich sie auf den Arm zu nehmen beab­sichtige, hat sie, sie hat einen unfläti­gen Aus­druck ver­wen­det, mit dur­chaus durch­drin­gen­der Laut­stärke gefragt. Ob es nicht genüge, dass ich mich ein­mal mehr wie die Axt im Walde aufge­führt, wieder hat sie sich eines Wortes aus dem Fäkalzusam­men­hang bedi­ent, dass ich sie unmöglich gemacht, bloßgestellt, ja der Lächer­lichkeit preis­gegeben hätte, müsse sie sich nun von mir auch noch ver­höh­nen lassen?

Ich habe die Hände gehoben. Ich habe zu beschwichti­gen ver­sucht. Ich habe beteuert, dass ich die Wahrheit sage und mir nichts fern­er liege, als sie gegen mich aufzubrin­gen. Wie zum Beweis habe ich, was sie ent­geg­net hat, bevor sie es ent­geg­net hat, aus­ge­sprochen, habe wieder­holt das, was sie mir ver­bal an den Kopf hat wer­fen wollen, bevor sie es hat abfeuern kön­nen, aufgenom­men und, sein­er Energie beraubt, vor uns auf den Tisch aus­rollern lassen. Es hat meine Frau nicht, wie ich gehofft habe, beein­druckt und ein­sichtig wer­den lassen, son­dern, im Gegen­teil, noch mehr gegen mich aufge­bracht. Sie wisse nicht, wie ich das mache, was ich da mache, doch sich an der Nase herum­führen zu lassen, das lasse sie sich nicht länger bieten, hat sie geschrien. Jet­zt ist Schluss, hat sie, rot ange­laufen, geschrien, dass ihr die Halss­chla­gad­er geschwollen ist und eben­so eine Blut­bahn an der Stirn. Aufge­s­tanden ist sie, davonge­stampft ist sie, die Schlafz­im­mertür hat sie hin­ter sich ins Schloss gewor­fen und den Schlüs­sel in diesem hat sie herumge­dreht.

Ich habe meine Frau nicht mehr gese­hen. Bis heute habe ich sie nicht mehr gese­hen. Nach ein­er auf dem Wohnz­im­mer­so­fa ver­bracht­en Nacht, habe ich am näch­sten Mor­gen im Flur einen unter Nüt­zlichkeit­saspek­ten erstaunlich per­fekt gepack­ten Kof­fer vorge­fun­den und darauf eine Notiz, in der sie mir mit­geteilt hat, dass sie mein vorüberge­hen­des Ver­schwinden aus der gemein­samen Woh­nung erwarte, dass eine Ruhe- und Denkpause das einzig Richtige wäre und uns bei­den gut­tun würde, und sie hof­fen dürfe, dass ich dem geräusch­los, sie hat geräusch­los geschrieben in ihrer akku­rat­en Klein­mäd­chen­schrift, nachkomme.

Ich bin ins Hotel gezo­gen. Das Hotel ist ein angemessen­er Tran­si­tort für jeman­den, der abhan­den gekom­men ist. Im Hotel gehört man wed­er hier-, noch dor­thin. Man bekommt, von den For­mal­itäten bei der Abmel­dung abge­se­hen, keine Fra­gen gestellt und es wer­den schon allein deshalb keine Antworten von einem erwartet. Ich habe mich nicht gut aufge­hoben gefühlt im Hotel, aber ver­wahrt. Das ist doch schon ein­mal etwas, habe ich gedacht.

Ich habe viel nachgedacht in den Tagen im Hotel, als ich nach dem Früh­stück Zeichen­trick­filme geschaut habe, nach den Zeichen­trick­fil­men spazieren gegan­gen bin, in Selb­st­be­di­enungsrestau­rant Kleinigkeit­en gegessen und abends an der Hotel­bar getrunk­en habe, ehe ich auf dem Zim­mer Pornos geschaut habe, sie mit abge­drehtem Ton geschaut habe, weil ich das Wenige, das Immer­gle­iche, das in Pornos gesprochen, mehr getönt als gesprochen wird, habe vorstellen kön­nen. Am drit­ten Tag bin ich ins Büro gegan­gen und habe meine Kündi­gung ver­fasst. Ich habe sie Frau Kraut­ner mit der Bitte übergeben, sie der Geschäfts­führung weit­erzuleit­en. Unter Ver­rech­nung meines üppig gefüll­ten Resturlaubkon­tos, sollte das unmit­tel­bare Auss­chei­den mein­er Per­son auf keine größeren Wider­stände stoßen. Frau Kraut­ner ist der Mund offen ges­tanden. Weil ich ein­und­vierzig Sekun­den zuvor nichts gehört habe, was aus diesem Mund ein­und­vierzig Sekun­den später hätte ver­laut­en sollen, bin ich davon aus­ge­gan­gen, dass ihr ein­fach so der Mund offen ges­tanden ist. Das soll es geben. Ich habe die kleine, weiche, immer geschmei­dig gefet­tete Kraut­ner­hand ergrif­f­en, sie gedrückt und Machen Sie’s gut, Frau Kraut­ner gesagt. Sie Gute, habe ich nicht gesagt, aber gedacht habe ich es, wie ich so vieles gedacht habe.

Beim Hal­snasenohrarzt bin ich vorstel­lig gewor­den. Ich habe von Störun­gen gesprochen, von Fehlleis­tun­gen in meinem Hörver­mö­gen, von Ein­schränkun­gen in mein­er Kom­mu­nika­tion­skom­pe­tenz. Was genau mein Prob­lem ist, habe ich, ich habe es für angezeigt gehal­ten, ver­schwiegen. Als Vorhör­er bin ich vor­sichtig gewor­den. Ich habe nicht, die Vorstel­lung hat mich eines Hotel­nachts über­fall­en und einge­hüllt wie eine das Atmen verun­möglichende Klar­sicht­folie, als medi­zinis­ches Wun­der bestaunt, herumgere­icht und vor allem mich auf den Kopf stel­len­den Exper­i­menten unter­zo­gen wer­den wollen. Vielle­icht erken­nt das Mil­itär, habe ich gedacht, den poten­ziellen Nutzen der sich in mir man­i­festieren­den Abson­der­lichkeit und lässt mich in einem hun­derte Meter unter der Erdober­fläche existieren­den Labor nicht mehr aus ihren Fän­gen. Oder, habe ich gedacht, ganz ein­fach, habe ich gedacht, man steckt mich in eine geschlossene Anstalt und füt­tert mich for­t­an mit Pillen. Also bin ich im Vagen geblieben beim Hal­snasenohrarzt. Kopfhör­er habe ich trotz­dem übergestülpt bekom­men, aus denen Töne in ver­schiede­nen Fre­quen­zen und zunehmender Laut­stärke gedrun­gen sind. In Schwingung ver­set­zte Stim­m­ga­bel sind mir auf die Stirn, auf den gewölbten Knochen direkt hin­ter dem Ohr geset­zt wor­den. Eine mögliche Schal­lleitungss­chw­er­hörigkeit, eine Schallempfind­ungss­chw­er­hörigkeit ist im Raum ges­tanden und dann jew­eils aus­geschlossen wor­den. Kein­er­lei Anze­ichen für einen Pauken­er­guss oder eine Tuben­belüf­tungsstörung haben sich find­en lassen. Auch die Cochlea sei intakt, hieß es. Ich kann, hat der Arzt abschließend gesagt, abso­lut nichts find­en, was auf eine physis­che Abnor­mal­ität Ihres Hörap­pa­rats schließen ließe. Ein wenig Ruhe empfehle er mir. Span­nen Sie ein­mal aus, hat er gesagt, das bewirke mitunter Wun­der. Ich habe es ein­und­vierzig Sekun­den vorher ver­nom­men, und bei dem Wort Wun­der an mich hal­ten müssen, nicht die Augen zu ver­drehen und Ern­sthaft jet­zt? rück­zufra­gen.

Nach dem Arztbe­such habe ich in ein­er Bar in des­til­lierte Flüs­sigkeit­en ges­tar­rt, sie hin- und her geschwenkt in ihren dick­wandi­gen Gläsern, die, vor das Auge gehal­ten, die Per­spek­tiv­en auf groteske Weise verz­er­ren. Ich habe über­legt, ob ich mir Strick­nadeln beschaf­fen soll, um mir mit­tels dieser die Trom­melfelle zu durch­bohren und irrepara­ble Schä­den im Mit­telohr anzuricht­en. Die Stille, die einen Tauben ein­hüllt, habe ich gedacht, wäre ver­lock­end. Was aber, wenn die auriku­lare Ver­wüs­tung nicht zu einem Ver­s­tum­men der vor­laut­en Stim­men und Geräusche führt, wenn ich sie über ganz andere Kanäle als die sen­sorischen Haarzellen des Cor­tior­gans wahrnehme?

Als ich dies gedacht habe, im hochsteigen­den Dun­st des Hoch­prozenti­gen in aller Ruhe habe durch­denken wollen, hat sich das von einem Kom­men­ta­tor mit sich stimm­lich über­schla­gen­der Hys­terie geschriene, vielfach schnell hin­tere­inan­der wieder­holte Wort Kak­tus­blüte akustisch hineinge­drängt in mein Denken. Ich habe aufge­blickt, auf einem erhöht ange­bracht­en Mon­i­tor Pferde im gestreck­ten Galopp mit bunt gek­lei­de­ten Männlein darauf eine Rennbahn ent­langeilen sehen. Der Mann neben mir, der ein die Augen peini­gen­des Hemd getra­gen hat, eines, dessen flo­rale Auf­dringlichkeit mit Fleck­en divers­er Art, Soßen, Zahn-, Wund- oder Fußcremes mögen sie verur­sacht haben, verun­ziert gewe­sen ist, hat das vor­wärtsstrebende Getram­pel mit Inter­esse ver­fol­gt. Ich habe ihm beiläu­fig, mit gottgle­ich­er Ungerührtheit prophezeit, dass Kak­tus­blüte den Sieg davon­tra­gen wird. Es ist der erste Spaß gewe­sen, den die Vorhör­erei mir erlaubt hat, und bin nicht wenig amüsiert gewe­sen, als meine Vorher­sage, eine Vorher­sage für ihn, für mich ja nur eine Kon­sta­tierung, eingetrof­fen ist und ihn ins Erstaunen gestürzt hat. Ob ich etwas von Pfer­den ver­stünde, bin ich gefragt wor­den. Nein, nein, habe ich abgewehrt, ein Zufall­str­e­f­fer, mehr nicht, sei es gewe­sen. Sie soll­ten wet­ten, hat er gesagt. Wer mit dem Zufall ein solch gutes Ver­hält­nis unter­halte, sollte den Prof­it, dem ihm das Schick­sal dar­re­iche, nicht acht­los auss­chla­gen.

Der Hawai­ian­er hat mein Denken an diesem frühen Abend in eine neue Rich­tung gedreht. Vielle­icht kann ich, habe ich gedacht, ein Abhör­er sein, wenn ich schon ein Vorhör­er sein muss. Vielle­icht kann ich mich als Abhör­er davon ablenken, ein Vorhör­er sein zu müssen. Vielle­icht kann ich mir als Abhör­er zurück­holen, was mir als Vorhör­er genom­men wor­den ist. Sportwet­ten haben sich in diesem Zusam­men­hang als untauglich erwiesen. Selb­st in deren dig­i­tal­en Sphäre, in der Raum und Zeit extrem verdichtet wer­den, ist die Spanne von ein­und­vierzig Sekun­den meist zu eng bemessen, um nach einem abge­lauscht­en Tor oder Korb oder Birdie noch set­zen zu kön­nen. In der alt­modis­chen Welt der Kasi­nos hinge­gen, in der die Roulet­tekugel nur schein­bar blitzeschnell von der Fliehkraft in der Cuvette herumgeschleud­ert wird, ist es in der Regel kein Prob­lem gewe­sen, nach der von mir vorge­hörten Ansage der gefal­l­enen Zahl und ihrer Farbe der Auf­forderung Faites vos jeux noch nachzukom­men.

Das Spiel an sich ver­liert schnell seinen Kitzel, wenn man weiß, wie es für einen aus­ge­ht. Der Reiz beim Roulette hat für mich denn auch bald darin bestanden, als Sieger möglichst unauf­fäl­lig zu bleiben. Gierig zu wer­den, der Fall­strick eines jeden Spiel­ers, habe ich mir unter­sagt. Oft und oft län­gere Zeit hin­tere­inan­der habe ich auf die ein­fachen Chan­cen gewet­tet: Rot oder Schwarz, Ger­ade oder Unger­ade, Hoch oder Niedrig. Vere­inzelt nur habe ich auf ein Car­ré geset­zt oder eine Trans­ver­sale, ganz sel­ten und dann mit vor­getäuschter Über­mütigkeit auf eine einzelne Zahl. Immer wieder, in behar­rlich­er Folge mitunter, habe ich, ignori­erend, was ich vorge­hört habe, bewusst ver­loren. Stets habe ich mich an die vor­ab mir selb­st verord­nete Ein­schär­fung gehal­ten und das Kasi­no ver­lassen, wenn der Gewinn eine bes­timmte, nicht allzu spek­takuläre und also Auf­se­hen erre­gende Höhe erre­icht hat. Ich bin mir sich­er gewe­sen, von den Überwachungskam­eras aufgeze­ich­net zu wer­den. Ich habe rasch die Städte gewech­selt, mein Hotel­da­sein auf die gesamte Repub­lik, später auf das europäis­che Aus­land aus­gedehnt. Man würde mir, dessen bin ich mir sich­er, mochte ich noch so dezent, so diskret vorge­hen, auf die Schliche kom­men. Man würde, das habe ich mir aus­ge­malt, mein Bild nach einiger Zeit von einem Kasi­no ans näch­ste schick­en. Man würde sich auf mich vor­bere­it­en, mein Vorge­hen analysieren und mich irgend­wann, rien ne va plus, aus dem Spiel nehmen.

Noch ist es nicht soweit. Ich sitze hier in Biar­ritz im ober­sten Stock­w­erk des Hôtel du Palais und starre hin­aus auf das bewegte Meer, in dem ein paar uner­schrock­ene Surfer der Ungemütlichkeit trotzen. Ich wun­dere mich, dass es in ein­er solch noblen Unterkun­ft, immer­hin einst die Res­i­denz der Kaiserin Eugénie, zum geschlosse­nen Fen­ster here­inzieht. Meine Mut­ter hat immer, wenn etwas gegen den Strich gegan­gen ist, etwas gehin­dert, den geplanten Fort­gang der Dinge ver­hin­dert hat, gesagt, dass es, das Hin­dernde, wer könne es wis­sen, wom­öglich sein Gutes habe. Neben mir auf dem Louisquinzetis­chchen tür­men sich ganz unrokoko­haft beachtliche, aus viel­nul­li­gen Euronoten gestapelte Twin­tow­ers. Einen werde ich mein­er Frau zukom­men lassen, den anderen, ich weiß nicht, vielle­icht ein­er Ein­rich­tung, die sich um ver­wahrloste Kinder küm­mert. Ist das das Gute?

Der Bild­schirm des Fernse­hers zeigt nack­te, mit Behar­rlichkeit sich aneinan­der abar­bei­t­ende Men­schen. Ich habe den Ton abge­dreht. Gibt es einen bask­ischen Porno, denke ich, und wenn ja, was zeich­net ihn aus? Ich habe das Denken in den ver­gan­genen Wochen zu ver­mei­den ver­sucht. Ich habe ver­sucht, durch rechtzeit­ige und vor allem diverse Posi­tion­swech­sel zu ver­hin­dern, dass das Denken an mir hochrankt, mich ein­hüllt und über mir zusam­men­schlägt. Dass es mich dahin führt, wohin es mich unweiger­lich, wieder und wieder führen muss, näm­lich dass ich der Vorhör­er bin und als solch­er außen vor. Dass sich daran, bei allen Auswe­ich- und Abzweigver­suchen nichts geän­dert hat und sich nichts mehr ändern wird. Ich höre Stim­men, deren Besitzer noch gar im Raum sind. Ich höre meinen Urin in die Kloschüs­sel plätsch­ern, wenn ich noch gar keinen Blasendruck ver­spüre. Ich höre the­o­retisch, es ist noch nicht vorgekom­men, das Brem­sen­qui­etschen, das Entset­zens­geschrei, das Auf­schla­gen der Kör­p­er, bevor es zum Unfall kommt. Ich kön­nte ein­schre­it­en, ver­hüten, was in mein­er Macht ste­ht. Stattdessen set­ze ich auf ein Cheval der Zahlen siebe­nundzwanzig und dreißig und weiß, dass mir der Croupi­er mit seinem Rateau gle­ich einen Haufen Jetons zuschieben wird.

Ich kann sie nicht länger ertra­gen, die Men­schen, die um mich her mit offe­nen Mün­dern wie Karpfen nach Luft schnap­pen. Ich habe mir angewöh­nt, eine Son­nen­brille zu tra­gen, um nicht sehen zu lassen, wie ich die Augen ver­drehe nach dem­jeni­gen, dessen Ansprache ich bere­its im Ohr habe, wie es mir nervös zuckt um die Lid­er. Ich hätte mich längst daran gewöh­nen müssen, sage ich mir, ein Gespür dafür entwick­eln müssen, welche Stimme zu welch­er Per­son passt, um auf sie dann mit Unverbindlichkeit, mit Gewöhn­lichkeit reagieren zu kön­nen. Es gelingt mir hin und wieder, doch meis­tens gelingt es mir nicht, nicht in ein­er Weise jeden­falls, dass ich nicht auf­falle. Meis­tens, ich weiß es, und dieses Wis­sen ist alles andere als hil­fre­ich, ist mein Tim­ing ein falsches. Die Blicke, die ich daraufhin ernte, stellen mich ins Abseits. Dass ich die Kon­fronta­tion mei­de, mich möglichst nur in solche Inter­ak­tio­nen begebe, die selb­sterk­lärend sind und keine ver­bale Kom­mu­nika­tion benöti­gen, ist die Kon­se­quenz hier­aus. Das Meer zu dieser Jahreszeit mit seinem Stampfen und Brausen ist tröstlich. Ich gehe lange am Strand spazieren. Vielle­icht muss ich ein Aufhör­er wer­den.