Würde ich, was gesprochen wird, was mehr oder weniger rhythmisch tönt und klingt, was um mich her piept und schnarrt und schnieft und rattert und radaut ein paar Momente später, also mit Verzögerung hören, als es der Fall ist, oder korrekter ausgedrückt: als es bei Exemplaren der menschlichen Spezies, des üblichen Hörens mächtig, üblich ist, und nur dies, das Übliche, kann ja als relevant in Betracht gezogen werden, dann würde ich, dieser Gedanke hat mich bereits diverse Male, früher und auch hier in Biarritz, beschäftigt, beunruhigt und in gewisser Weise getröstet zugleich, als gestört und behindert gelten. Man würde sich meiner annehmen, meinen Hörapparat mit aller zur Gebote stehenden Sorgfalt inspizieren, mir Elektroden ankleben und meine Hirnströme messen, um der Ursache der unsachgemäßen Reizleitung auf den Grund zu gehen, um diese Störung im System nach Möglichkeit zu beheben. Als Nachhörer wäre ich in einem einschließenden Sinn defekt. Doch würde ich, trotz oder gerade wegen dieses Defekts, dazugehören, als Anhang zwar, als Mitschleif, als Unnutzlast, aber als solches immerhin. Ich wäre Teil.
Ich bin es nicht. Als Vorhörer kann ich es nicht sein. Als Vorhörer bin ich ausgeschlossen und muss es bleiben. Ein Vorhörer stellt eine solch radikale Andersartigkeit dar, dass ein Hereinholen in den Kreis der Gemeinschaft unmöglich erscheint. Die Welt des Vorhörers ist von der der Übrigen geschieden. Sie mögen ähnlich erscheinen, diese beiden Welten, zum Verwechseln ähnlich sogar, aus den gleichen Molekülen sich zusammensetzen, nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten funktionieren und fortschreiten, und sind doch, ich weiß, wovon ich spreche, von einer Disparität, die unüberbrückbar ist und es bleiben muss. Die Zeit verhindert eine Berührung der beiden Welten. In diesem, in meinem Fall heilt sie keine Wunden, sondern hakt und spreizt sich in diese hinein, damit nur ja sich nichts schließen kann.
Ich erinnere mich genau, wann diese Wunde in mir, dass es sich um eine in mir, von mir ausgehende, aus mir herauswachsende handelt und nicht um eine von außen mich umfassende, steht außer Frage, aufgerissen ist. Ohne Vorwarnung ist es geschehen, ohne dass, ich habe mir das wieder und wieder vergegenwärtigt, habe die Tage und Wochen davor immer aufs Neue rekapituliert, etwas auf sie zugeführt, sich etwas angebahnt hätte, das in diese Wunde hat münden müssen. Ich bin am fünfundzwanzigsten April vorigen Jahres um siebzehnuhrzehn im Kundenbereich des Autohauses Matt gesessen, habe in einem Magazin geblättert, nur geblättert, um mich abzulenken, mich zu beschäftigen, nicht gelesen habe ich, und gewartet, dass mein Name aufgerufen, mir an der Theke mitgeteilt werden würde, mein Wagen wäre nach der Inspektion abholbereit. Hier die Rechnung und hier Ihr Schlüssel, würde die Dame hinter der Theke zu mir sagen, im Hintergrund liefe jemand im blauen Overall vorbei, nach Gummi würde es riechen, womöglich käme der Chef, Herr Matt, der umgängliche der beiden Mattbrüder, aus seinem Büro und würde mich grüßen, würde sich nach meiner Frau erkundigen, fragen, ob alles zu meiner Zufriedenheit wäre, womit er, Matt, das Autohaus Matt Betreffende meinen würde, weil sich unsere Bekanntschaft auf das Autohaus Matt Betreffende beschränkt, ich würde lächeln, meine Karte der Dame hinter der Theke reichen, um die Rechnung zu begleichen, und Alles bestens zu Matt sagen und: Wie nicht anders gewohnt.
Um siebzehnuhr hätte mein Wagen bereitstehen sollen. Um siebzehnuhrzehn, ich habe auf die Uhr gesehen, ich habe nach Hause fahren, duschen wollen, meine Frau hat Gäste eingeladen gehabt für diesen Abend, habe ich gehört, wie an der Theke mein Name gerufen wird. Ich bin aufgestanden, um einen feuerroten, für ein Motoröl werbenden Löwen, der als Pappaufsteller dort platziert gewesen ist, herumgegangen und habe die wenigen Schritte zur Theke gemacht. Die Dame dahinter hat mich fragend angesehen und ich habe sie fragend angesehen. Ich habe sagen wollen, sie hätte meinen Namen gerufen und hier sei ich nun, der ich auf diesen Namen höre. Ich bin nicht dazu gekommen, das zu sagen, weil in diesem Moment ein Mann im blauen Overall aus dem Werkstatthintergrund aufgetaucht ist, mir zugenickt hat und der Dame hinter der Theke die meinen Wagen betreffenden Unterlagen samt meinem Autoschlüssel gebracht hat. Die Dame hinter der Theke hat meinen Namen rufen wollen, aber dann realisiert, dass der auf den Unterlagen verzeichnete Träger des Namens bereits vor ihr steht. Sie hat verlegen gelächelt, vielleicht irritiert, ich weiß nicht mehr, weil ich selbst irritiert gewesen bin. Irritiert, weil ich die Dame hinter der Theke, als sie mich fragend anblickt, noch ehe sie die meinen Wagen betreffenden Unterlagen entgegennimmt, noch ehe sie verlegen lächelt, Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagen höre. Ich höre sie es sagen, obwohl sie es gar nicht sagt. Erst als ich überlege, ob ich mich verhört habe, ob jemand anderes in den Büros, ich sehe mich um, Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent gesagt haben könnte, ob ich mir eingebildet habe, dass jemand Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagt und es in Wirklichkeit gar nicht sagt, weil ein Geräusch aus dem Werkstatthintergrund oder von draußen, von der Vielbefahrenheit draußen ähnlich geklungen haben mag, von mir fälschlicherweise dahingehend umgehört worden ist, dass es geklungen hat, als würde jemand Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagen, sagt die Dame hinter der Theke: Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent. Das heißt: sie öffnet den Mund, um Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent zu sagen, aber für mich, den Adressaten dieser Mitteilung, kommt nichts Akustisches heraus aus diesem dezent geschminkten Mund, weil das mitzuteilende Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent längst mitgeteilt worden ist. Statt Macht vierhundertzweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent sagt die Dame hinter der Theke, sagt es mit schon wieder geschlossenem Mund, bauchrednerisch gewissermaßen, obwohl, wie ich jetzt weiß, das nichts mit Bauchrednerei zu tun hat: Dann einen schönen Abend noch. Das wünsche ich Ihnen auch, antworte ich. Ich antworte es, obwohl die Dame hinter der Theke noch gar nichts gesagt hat, das meiner Antwort Sinn verleihen würde. Sie lächelt, nun nicht mehr verlegen, sondern eher verstört und sagt, mir meine Karte reichend, sagt es, ohne dass ich höre, was sie sagt, aber ich weiß, dass sie es sagt, weil sie es ja bereits gesagt hat: Dann einen schönen Abend noch.
Ich bin, glaube ich, hinausgetaumelt aus dem Autohaus Matt am fünfundzwanzigsten April vorigen Jahres gegen siebzehnuhrfünfzehn, mehr überrascht und überrumpelt als schockiert. Den meinen Weg querenden Matt, den umgänglichen, nicht den verrückten der beiden Mattbrüder, habe ich, glaube ich, obwohl er, glaube ich, mich gegrüßt hat, obwohl er, glaube ich, ein unverbindliches, die Kundenbindung stärkendes Wort an mich hat richten wollen, links liegen lassen. Ich bin in meinen inspizierten, frisch geschmierten, aufs Reibungslose hin eingestellten Wagen gestiegen und habe nichts anderes erst einmal gedacht, als schleunigst fortzukommen. Die Bestürzung, das die Bestürzung grundierende Unverständnis, das Loch, das Unverständnis und Bestürzung in mich hineingerissen haben, habe ich mit Bewegung zu schließen versucht. Dass ich vorab gehört habe, wie die von mir zugeworfene Tür meines Wagen wummt, wie der Motor meines Wagens anspringt und zu schnurren beginnt, wie der Blinker meines Wagen metronomisch tickt, ist mir nicht aufgefallen, obwohl es, wie ich jetzt im Nachhinein weiß, so gewesen ist. Ich habe den Lastwagen vorbeidonnern, die Hupe hupen, das Kind an der Hand seiner Mutter kreischen, das Sehbehindertensignal an der Ampel tackern gehört, noch ehe der Lastwagen vorbeigedonnert ist, die Hupe gehupt, das Kind gekreischt und das Signal getackert hat. Ich habe all dies gehört, bevor es zu gehören gewesen ist, aber ich habe es nicht vorab wahrnehmen wollen. Ich habe nach Hause gewollt, unter die Dusche gewollt. Dass deren Rauschen eingesetzt hat, noch ehe ich den Hebel der Mischbatterie betätigt habe, habe ich ausgeblendet. Ich habe das warme Wasser mich überprasseln lassen, wie lange, das weiß ich nicht mehr, ziemlich lange.
Der Abend ist eine Tortur gewesen. Dass ich die eingeladene Freundin meiner Frau nicht leiden kann, den Mann der Freundin meiner Frau noch weniger ausstehen kann als die Freundin meiner Frau, wäre peinigend genug gewesen, dass ich an ihrem Geschnatter habe erproben müssen, wie es ist, Geschnatter vorab zu hören, es sich nicht anmerken zu lassen, dass man das Geschnatter vorab hört, mitansehen zu müssen, wie das Geschnatter aus den Menschen herausdringt, obwohl sie sich gerade ein Stück mit der Gabel aufgespießtes Fleisch in den Mund schieben, es kauen, es schlucken, mitansehen zu müssen, wie sie die Münder öffnen, die Lippen bewegen und keinen Laut dabei erzeugen, hat mich an die Grenzen des Erträglichen gebracht. Ich habe kaum etwas gesagt an diesem Abend. Gestarrt muss ich haben, und als ich bemerkt habe, dass ich starre und mein Starren auffällig wird, wo ich mir doch jede Auffälligkeit habe untersagen wollen, habe ich das Starren zu vermeiden versucht und bin im Vermeiden noch auffälliger geworden.
Ich sei aber schweigsam heute Abend, hat die Freundin meiner Frau gesagt, und ich habe mich zwingen müssen, nicht Ich habe meine guten Gründe oder Es ist besser so zu antworten, bevor sie Du bist aber schweigsam heute Abend gesagt hat. Noch bestürzender als vorab Geräusche, das Schaben von Messern, das Scheppern von Schüsseln, das Klirren sachte aneinander gestoßener Gläser, als andere vorab sprechen zu hören, ist es gewesen, mich selbst vorab sprechen zu hören. Wie ein Echo hat es geklungen, ein voreiliges, vorauseilendes Echo, dumpf und hohl. Dass ich den Satz, meinen gleich zu sagenden Satz vorab gehört habe, ihn auch gehört habe, wenn ich mich entschlossen habe, ihn, den Satz, nun, da ich ihn gehört habe, nicht auszusprechen, dass ich also keineswegs gezwungen gewesen bin, den vorab gehörten Satz auch wirklich auszusprechen, hat mich verwirrt, wie mich alles verwirrt hat, hat der Verwirrung, die mich hat schwindeln lassen, die mich immer wieder die Augen hat schließen lassen, um zu mir zu kommen, noch einen Verwirrungsanbau hinzugefügt. Ich habe an diesem Abend noch überhaupt keine Übung darin gehabt, mit meiner Replik zu warten, bis derjenige, der sich an mich wendet, den Mund öffnet, die Lippen bewegt, weshalb mein einsilbiges Ja, mein Gut, mein Lecker, wirklich lecker diverse Male zu früh gekommen und entsprechend hineingeplatzt ist und den einstudierten Gang der Konversation ins Stolpern gebracht hat. Inzwischen habe ich einigermaßen gelernt, mich anzupassen, mich einzustellen und auch mich zu verstellen, aber an diesem ersten Abend hat mir das nicht gelingen wollen. Wie hätte es auch gelingen sollen, bin ich mir doch selbst noch nicht im Klaren gewesen, was mit mir geschieht, nach welchen Regularien etwas mit mir geschieht und wie ich mich ihnen entsprechend verhalten kann. Der Abend ist ein Fiasko gewesen.
Meine Frau hat mich, nachdem ihre Freundin und deren Mann sich verabschiedet haben, mit einem eisigen Blick gestraft. Erst einmal hat sie nichts gesagt. Als sie etwas gesagt hat, losgelegt hat, begonnen hat, mich zu beschimpfen, habe ich es natürlich vorab gehört, doch weil ihre Gattenherabwürdigung und Gattenverunglimpfung länger angedauert hat, als der von mir wahrgenommene Vorlauf im Hören hat sich die Lautäußerung mit der die Lautäußerung begleitenden Mimik überschnitten, aber eben in einer nicht zusammenpassenden Weise. Als meine Frau die Augen aufgerissen, die Hände dazu in die Luft geworfen, als sie den Mund geöffnet hat, um mich einen ungehobeltes Scheusal zu nennen, ist sie in meinem Gehörgang bereits beim Ich weiß nicht, ob ich mir das noch lange bieten lasse angelangt gewesen. Ich habe mich entschuldigen, mich rechtfertigen wollen, auf meinen Zustand, den zu verstehen ich an diesem Abend noch weit entfernt gewesen bin, habe ich zu sprechen kommen wollen, was jedoch unmöglich gewesen ist. Ins Bett zu desertieren, die Decke, das Kissen über den Kopf zu ziehen in der stillen Hoffnung, am nächsten Morgen wäre der Spuk vorüber und alles wieder in die gewohnten Bahnen eingefügt, ist mir schließlich als probatestes aller Mittel erschienen.
Es ist eine Hoffnung gewesen, die sich nicht erfüllt hat. Meine Frau habe ich am nächsten Tag nicht mehr angetroffen. Sie ist, wahrscheinlich um sich nicht aufs Neue aufregen zu müssen, früher als gewöhnlich zur Arbeit entwischt. Mit Hilfe des Morgenprogramms im Fernsehen, das ich mich zur Ruhe ermahnend, an meinem Kaffee nippend, die Panik des gestrigen Tages auf Distanz haltend, verfolgt habe, habe zum ersten Mal im eigentlichen Sinne realisieren und verstandesmäßig einordnen können, was mit mir geschehen ist. Die Ton- und die Bildspur dessen, mit dem ich konfrontiert bin, hat sich voneinander gelöst, hat, jedenfalls in meiner Wahrnehmung, die naturgemäße Synchronität wie und warum auch immer verloren. Was medial vermittelt, im Morgenprogramm des Fernsehens etwa, gang und gäbe ist, nämlich dass eine voneinander separierte Ton- und Bildspur existiert, die zusammengeführt, aufeinander abgestimmt werden müssen, damit ein schlüssiges Ganzes entsteht, scheint, habe ich an diesem Morgen gedacht, auch in der von uns als solche wahrgenommene Wirklichkeit der Fall zu sein. Auch in der von uns als solche wahrgenommenen Wirklichkeit scheint es eine Dingebene zu geben, auf der gehandelt wird oder die, mit dem, was diese Dingebene anfüllt, manchmal, meistens einfach nur vorhanden ist, und eine Tonebene, auf der gesprochen wird, auf der es zwitschert und summt. Sie müssen nicht zwangsläufig und untrennbar zusammenhängen, habe ich gedacht. Jemand nimmt sie auf und spielt sie zeitversetzt ab, habe ich gedacht.
Ich habe mit Hilfe des Morgenprogramms des Fernsehens gestoppt, zehn-, zwölfmal, öfter vielleicht noch, habe ich gestoppt, wie groß die Spanne ist, bis ich das passende Bild zu sehen bekomme, dessen Ton ich bereits gehört habe. Es sind einundvierzig Sekunden. Jedes Mal sind einundvierzig Sekunden vergangen, bis die Moderatorin den hübschen, oftmals schnippisch zugespitzten Mund geöffnet hat, um ihre längst gestellte Frage entweichen zu lassen. Einundvierzig Sekunden sind vergangen, bis der kahle Politiker seine hasenschartige Schnute bewegt hat, um die Antwort zu formen. Einundvierzig Sekunden sind die Schlucht, die mich von allen anderen trennt. An diesem Morgen vor dem Fernseher ist mir klar geworden, dass ich kein Verhörer, aber zum Vorhörer geworden bin.
Ich habe zum Telefon gegriffen und mein Vorzimmer angerufen, um mitzuteilen, dass mir ein im Magen- und Darmbereich kursierendes Unwohlsein, so habe ich mich, glaube ich, ausgedrückt, unmöglich mache, heute im Büro zu erscheinen. Komisch ist es, jemanden reden zu hören, wie das an diesem Morgen bei Frau Krautner der Fall gewesen ist, der noch gar nicht redet, der, weil sein Telefon noch nicht geklingelt hat, gar nicht weiß, dass er gleich reden wird, und wenn er dann redet, ihn nicht zu sehen, wie er redet, weil das Telefon es nicht zulässt und es folglich erschwert, abzuschätzen, wann etwas gesagt wird, das in meiner Wahrnehmung vor einundvierzig Sekunden bereits gesagt worden ist, um darauf halbwegs vernünftig zu antworten. Frau Krautner hat mir gute Besserung gewünscht. Dass mein ihr ins Wort fallendes Gestammel auf anderes hindeutet als eine Magenverstimmung, wird sie sich gedacht haben, hat es aber, diskret wie sie ist, wie sie es als Vorzimmerdame zu sein hat, beim Denken belassen.
Das Denken, habe ich gedacht, als ich wieder aufgelegt habe, vermag ich nicht zu hören. Allerdings kann ich mein eigenes Sprechen vorab hören, was dem Denken nahekommt, denn, wie ich, den gestrigen Abend rekapitulierend, gemerkt habe, bin ich nicht gezwungen, das, was ich vorab gehört habe, dann auch wirklich auszusprechen. Auch die anderen, ist es nicht so gewesen im Autobaus Matt, kann ich, indem ich darauf reagiere, was sie noch gar nicht gesagt haben, dazu bringen, das, was sie zu sagen beabsichtigen, nicht zu sagen. Heißt das nicht, habe ich an diesem Morgen zum ersten Mal gedacht, inzwischen habe ich diesen Gedankengang hin- und hergedreht wie einen widerspenstigen Rubikwürfel, dass mehrere Ebenen, Schichten meinetwegen, zwei mindestens, dessen vorhanden sind, was wir Wirklichkeit nennen? Und dass ich in der Lage bin, ausgerechnet ich, zwischen diesen Ebenen hin- und herzuspringen? In beiden Ebenen zugleich beheimatet zu sein? Gewissermaßen mit einem Bein in der einen und mit dem anderen Bein in der anderen Ebene zu stehen und dass, was ich mit einem metaphorischen Schritt überspanne, einundvierzig Sekunden ausmacht? Dass die Zeit eine Art von Isolierung zwischen diesen Ebenen darstellt und diese Isolierung in meiner Person brüchig geworden ist? Wie dem auch sei: Man wird wahnsinnig bei einem solchen, aus der Gewohnheit, aus der Gewissheit herausführenden Denken. Es aber nicht zu denken, ich kann das bezeugen, will auch nicht gelingen, weil man in jeder Minute mit etwas konfrontiert wird, das dieses Denken unausweichlich werden lässt.
Natürlich habe ich mit jemanden über meinen Zustand, ich will es so nennen, sprechen müssen. Natürlich, welch ein leichtfertiger Irrtum, ist es meine Frau gewesen. Am Abend, nach einem vergrübelten und entsprechend peinigenden Tag, nach einem von unsynchronisierten Geräuschbedrängnissen beeinträchtigten und deshalb bald wieder abgebrochenen Parkspaziergang, nach einer vor dem Fernseher verbrachten, vom Sekundenzeiger meiner Uhr getakteten Übungsstunde und dem Praxistest des Eingeübten in einer Bäckerei, habe ich die nach Hause Kommende, auf mich nach wie vor schlecht zu Sprechende, vielleicht noch schlechter als am Vorabend zu Sprechende mit der Aufforderung, wir müssten reden, an den Tisch gebeten. Ich habe ihr eröffnet, dass ich, ohne meine Zutun, ohne dass ich wüsste warum, zum Vorhörer geworden bin, was ich selbst nicht verstünde, nicht einmal ansatzweise, was aber gleichwohl und offenbar als Faktum zu akzeptieren sei. Man mag sich vorstellen, wie mich meine Frau angesehen hat, mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Verachtung. Sie hat gar nichts antworten, sich auf das Vernichtungspotenzial ihres Blickes beschränken wollen, aber dann ist es doch aus ihr herausgeplatzt. Ob ich sie auf den Arm zu nehmen beabsichtige, hat sie, sie hat einen unflätigen Ausdruck verwendet, mit durchaus durchdringender Lautstärke gefragt. Ob es nicht genüge, dass ich mich einmal mehr wie die Axt im Walde aufgeführt, wieder hat sie sich eines Wortes aus dem Fäkalzusammenhang bedient, dass ich sie unmöglich gemacht, bloßgestellt, ja der Lächerlichkeit preisgegeben hätte, müsse sie sich nun von mir auch noch verhöhnen lassen?
Ich habe die Hände gehoben. Ich habe zu beschwichtigen versucht. Ich habe beteuert, dass ich die Wahrheit sage und mir nichts ferner liege, als sie gegen mich aufzubringen. Wie zum Beweis habe ich, was sie entgegnet hat, bevor sie es entgegnet hat, ausgesprochen, habe wiederholt das, was sie mir verbal an den Kopf hat werfen wollen, bevor sie es hat abfeuern können, aufgenommen und, seiner Energie beraubt, vor uns auf den Tisch ausrollern lassen. Es hat meine Frau nicht, wie ich gehofft habe, beeindruckt und einsichtig werden lassen, sondern, im Gegenteil, noch mehr gegen mich aufgebracht. Sie wisse nicht, wie ich das mache, was ich da mache, doch sich an der Nase herumführen zu lassen, das lasse sie sich nicht länger bieten, hat sie geschrien. Jetzt ist Schluss, hat sie, rot angelaufen, geschrien, dass ihr die Halsschlagader geschwollen ist und ebenso eine Blutbahn an der Stirn. Aufgestanden ist sie, davongestampft ist sie, die Schlafzimmertür hat sie hinter sich ins Schloss geworfen und den Schlüssel in diesem hat sie herumgedreht.
Ich habe meine Frau nicht mehr gesehen. Bis heute habe ich sie nicht mehr gesehen. Nach einer auf dem Wohnzimmersofa verbrachten Nacht, habe ich am nächsten Morgen im Flur einen unter Nützlichkeitsaspekten erstaunlich perfekt gepackten Koffer vorgefunden und darauf eine Notiz, in der sie mir mitgeteilt hat, dass sie mein vorübergehendes Verschwinden aus der gemeinsamen Wohnung erwarte, dass eine Ruhe- und Denkpause das einzig Richtige wäre und uns beiden guttun würde, und sie hoffen dürfe, dass ich dem geräuschlos, sie hat geräuschlos geschrieben in ihrer akkuraten Kleinmädchenschrift, nachkomme.
Ich bin ins Hotel gezogen. Das Hotel ist ein angemessener Transitort für jemanden, der abhanden gekommen ist. Im Hotel gehört man weder hier-, noch dorthin. Man bekommt, von den Formalitäten bei der Abmeldung abgesehen, keine Fragen gestellt und es werden schon allein deshalb keine Antworten von einem erwartet. Ich habe mich nicht gut aufgehoben gefühlt im Hotel, aber verwahrt. Das ist doch schon einmal etwas, habe ich gedacht.
Ich habe viel nachgedacht in den Tagen im Hotel, als ich nach dem Frühstück Zeichentrickfilme geschaut habe, nach den Zeichentrickfilmen spazieren gegangen bin, in Selbstbedienungsrestaurant Kleinigkeiten gegessen und abends an der Hotelbar getrunken habe, ehe ich auf dem Zimmer Pornos geschaut habe, sie mit abgedrehtem Ton geschaut habe, weil ich das Wenige, das Immergleiche, das in Pornos gesprochen, mehr getönt als gesprochen wird, habe vorstellen können. Am dritten Tag bin ich ins Büro gegangen und habe meine Kündigung verfasst. Ich habe sie Frau Krautner mit der Bitte übergeben, sie der Geschäftsführung weiterzuleiten. Unter Verrechnung meines üppig gefüllten Resturlaubkontos, sollte das unmittelbare Ausscheiden meiner Person auf keine größeren Widerstände stoßen. Frau Krautner ist der Mund offen gestanden. Weil ich einundvierzig Sekunden zuvor nichts gehört habe, was aus diesem Mund einundvierzig Sekunden später hätte verlauten sollen, bin ich davon ausgegangen, dass ihr einfach so der Mund offen gestanden ist. Das soll es geben. Ich habe die kleine, weiche, immer geschmeidig gefettete Krautnerhand ergriffen, sie gedrückt und Machen Sie’s gut, Frau Krautner gesagt. Sie Gute, habe ich nicht gesagt, aber gedacht habe ich es, wie ich so vieles gedacht habe.
Beim Halsnasenohrarzt bin ich vorstellig geworden. Ich habe von Störungen gesprochen, von Fehlleistungen in meinem Hörvermögen, von Einschränkungen in meiner Kommunikationskompetenz. Was genau mein Problem ist, habe ich, ich habe es für angezeigt gehalten, verschwiegen. Als Vorhörer bin ich vorsichtig geworden. Ich habe nicht, die Vorstellung hat mich eines Hotelnachts überfallen und eingehüllt wie eine das Atmen verunmöglichende Klarsichtfolie, als medizinisches Wunder bestaunt, herumgereicht und vor allem mich auf den Kopf stellenden Experimenten unterzogen werden wollen. Vielleicht erkennt das Militär, habe ich gedacht, den potenziellen Nutzen der sich in mir manifestierenden Absonderlichkeit und lässt mich in einem hunderte Meter unter der Erdoberfläche existierenden Labor nicht mehr aus ihren Fängen. Oder, habe ich gedacht, ganz einfach, habe ich gedacht, man steckt mich in eine geschlossene Anstalt und füttert mich fortan mit Pillen. Also bin ich im Vagen geblieben beim Halsnasenohrarzt. Kopfhörer habe ich trotzdem übergestülpt bekommen, aus denen Töne in verschiedenen Frequenzen und zunehmender Lautstärke gedrungen sind. In Schwingung versetzte Stimmgabel sind mir auf die Stirn, auf den gewölbten Knochen direkt hinter dem Ohr gesetzt worden. Eine mögliche Schallleitungsschwerhörigkeit, eine Schallempfindungsschwerhörigkeit ist im Raum gestanden und dann jeweils ausgeschlossen worden. Keinerlei Anzeichen für einen Paukenerguss oder eine Tubenbelüftungsstörung haben sich finden lassen. Auch die Cochlea sei intakt, hieß es. Ich kann, hat der Arzt abschließend gesagt, absolut nichts finden, was auf eine physische Abnormalität Ihres Hörapparats schließen ließe. Ein wenig Ruhe empfehle er mir. Spannen Sie einmal aus, hat er gesagt, das bewirke mitunter Wunder. Ich habe es einundvierzig Sekunden vorher vernommen, und bei dem Wort Wunder an mich halten müssen, nicht die Augen zu verdrehen und Ernsthaft jetzt? rückzufragen.
Nach dem Arztbesuch habe ich in einer Bar in destillierte Flüssigkeiten gestarrt, sie hin- und her geschwenkt in ihren dickwandigen Gläsern, die, vor das Auge gehalten, die Perspektiven auf groteske Weise verzerren. Ich habe überlegt, ob ich mir Stricknadeln beschaffen soll, um mir mittels dieser die Trommelfelle zu durchbohren und irreparable Schäden im Mittelohr anzurichten. Die Stille, die einen Tauben einhüllt, habe ich gedacht, wäre verlockend. Was aber, wenn die aurikulare Verwüstung nicht zu einem Verstummen der vorlauten Stimmen und Geräusche führt, wenn ich sie über ganz andere Kanäle als die sensorischen Haarzellen des Cortiorgans wahrnehme?
Als ich dies gedacht habe, im hochsteigenden Dunst des Hochprozentigen in aller Ruhe habe durchdenken wollen, hat sich das von einem Kommentator mit sich stimmlich überschlagender Hysterie geschriene, vielfach schnell hintereinander wiederholte Wort Kaktusblüte akustisch hineingedrängt in mein Denken. Ich habe aufgeblickt, auf einem erhöht angebrachten Monitor Pferde im gestreckten Galopp mit bunt gekleideten Männlein darauf eine Rennbahn entlangeilen sehen. Der Mann neben mir, der ein die Augen peinigendes Hemd getragen hat, eines, dessen florale Aufdringlichkeit mit Flecken diverser Art, Soßen, Zahn-, Wund- oder Fußcremes mögen sie verursacht haben, verunziert gewesen ist, hat das vorwärtsstrebende Getrampel mit Interesse verfolgt. Ich habe ihm beiläufig, mit gottgleicher Ungerührtheit prophezeit, dass Kaktusblüte den Sieg davontragen wird. Es ist der erste Spaß gewesen, den die Vorhörerei mir erlaubt hat, und bin nicht wenig amüsiert gewesen, als meine Vorhersage, eine Vorhersage für ihn, für mich ja nur eine Konstatierung, eingetroffen ist und ihn ins Erstaunen gestürzt hat. Ob ich etwas von Pferden verstünde, bin ich gefragt worden. Nein, nein, habe ich abgewehrt, ein Zufallstreffer, mehr nicht, sei es gewesen. Sie sollten wetten, hat er gesagt. Wer mit dem Zufall ein solch gutes Verhältnis unterhalte, sollte den Profit, dem ihm das Schicksal darreiche, nicht achtlos ausschlagen.
Der Hawaiianer hat mein Denken an diesem frühen Abend in eine neue Richtung gedreht. Vielleicht kann ich, habe ich gedacht, ein Abhörer sein, wenn ich schon ein Vorhörer sein muss. Vielleicht kann ich mich als Abhörer davon ablenken, ein Vorhörer sein zu müssen. Vielleicht kann ich mir als Abhörer zurückholen, was mir als Vorhörer genommen worden ist. Sportwetten haben sich in diesem Zusammenhang als untauglich erwiesen. Selbst in deren digitalen Sphäre, in der Raum und Zeit extrem verdichtet werden, ist die Spanne von einundvierzig Sekunden meist zu eng bemessen, um nach einem abgelauschten Tor oder Korb oder Birdie noch setzen zu können. In der altmodischen Welt der Kasinos hingegen, in der die Roulettekugel nur scheinbar blitzeschnell von der Fliehkraft in der Cuvette herumgeschleudert wird, ist es in der Regel kein Problem gewesen, nach der von mir vorgehörten Ansage der gefallenen Zahl und ihrer Farbe der Aufforderung Faites vos jeux noch nachzukommen.
Das Spiel an sich verliert schnell seinen Kitzel, wenn man weiß, wie es für einen ausgeht. Der Reiz beim Roulette hat für mich denn auch bald darin bestanden, als Sieger möglichst unauffällig zu bleiben. Gierig zu werden, der Fallstrick eines jeden Spielers, habe ich mir untersagt. Oft und oft längere Zeit hintereinander habe ich auf die einfachen Chancen gewettet: Rot oder Schwarz, Gerade oder Ungerade, Hoch oder Niedrig. Vereinzelt nur habe ich auf ein Carré gesetzt oder eine Transversale, ganz selten und dann mit vorgetäuschter Übermütigkeit auf eine einzelne Zahl. Immer wieder, in beharrlicher Folge mitunter, habe ich, ignorierend, was ich vorgehört habe, bewusst verloren. Stets habe ich mich an die vorab mir selbst verordnete Einschärfung gehalten und das Kasino verlassen, wenn der Gewinn eine bestimmte, nicht allzu spektakuläre und also Aufsehen erregende Höhe erreicht hat. Ich bin mir sicher gewesen, von den Überwachungskameras aufgezeichnet zu werden. Ich habe rasch die Städte gewechselt, mein Hoteldasein auf die gesamte Republik, später auf das europäische Ausland ausgedehnt. Man würde mir, dessen bin ich mir sicher, mochte ich noch so dezent, so diskret vorgehen, auf die Schliche kommen. Man würde, das habe ich mir ausgemalt, mein Bild nach einiger Zeit von einem Kasino ans nächste schicken. Man würde sich auf mich vorbereiten, mein Vorgehen analysieren und mich irgendwann, rien ne va plus, aus dem Spiel nehmen.
Noch ist es nicht soweit. Ich sitze hier in Biarritz im obersten Stockwerk des Hôtel du Palais und starre hinaus auf das bewegte Meer, in dem ein paar unerschrockene Surfer der Ungemütlichkeit trotzen. Ich wundere mich, dass es in einer solch noblen Unterkunft, immerhin einst die Residenz der Kaiserin Eugénie, zum geschlossenen Fenster hereinzieht. Meine Mutter hat immer, wenn etwas gegen den Strich gegangen ist, etwas gehindert, den geplanten Fortgang der Dinge verhindert hat, gesagt, dass es, das Hindernde, wer könne es wissen, womöglich sein Gutes habe. Neben mir auf dem Louisquinzetischchen türmen sich ganz unrokokohaft beachtliche, aus vielnulligen Euronoten gestapelte Twintowers. Einen werde ich meiner Frau zukommen lassen, den anderen, ich weiß nicht, vielleicht einer Einrichtung, die sich um verwahrloste Kinder kümmert. Ist das das Gute?
Der Bildschirm des Fernsehers zeigt nackte, mit Beharrlichkeit sich aneinander abarbeitende Menschen. Ich habe den Ton abgedreht. Gibt es einen baskischen Porno, denke ich, und wenn ja, was zeichnet ihn aus? Ich habe das Denken in den vergangenen Wochen zu vermeiden versucht. Ich habe versucht, durch rechtzeitige und vor allem diverse Positionswechsel zu verhindern, dass das Denken an mir hochrankt, mich einhüllt und über mir zusammenschlägt. Dass es mich dahin führt, wohin es mich unweigerlich, wieder und wieder führen muss, nämlich dass ich der Vorhörer bin und als solcher außen vor. Dass sich daran, bei allen Ausweich- und Abzweigversuchen nichts geändert hat und sich nichts mehr ändern wird. Ich höre Stimmen, deren Besitzer noch gar im Raum sind. Ich höre meinen Urin in die Kloschüssel plätschern, wenn ich noch gar keinen Blasendruck verspüre. Ich höre theoretisch, es ist noch nicht vorgekommen, das Bremsenquietschen, das Entsetzensgeschrei, das Aufschlagen der Körper, bevor es zum Unfall kommt. Ich könnte einschreiten, verhüten, was in meiner Macht steht. Stattdessen setze ich auf ein Cheval der Zahlen siebenundzwanzig und dreißig und weiß, dass mir der Croupier mit seinem Rateau gleich einen Haufen Jetons zuschieben wird.
Ich kann sie nicht länger ertragen, die Menschen, die um mich her mit offenen Mündern wie Karpfen nach Luft schnappen. Ich habe mir angewöhnt, eine Sonnenbrille zu tragen, um nicht sehen zu lassen, wie ich die Augen verdrehe nach demjenigen, dessen Ansprache ich bereits im Ohr habe, wie es mir nervös zuckt um die Lider. Ich hätte mich längst daran gewöhnen müssen, sage ich mir, ein Gespür dafür entwickeln müssen, welche Stimme zu welcher Person passt, um auf sie dann mit Unverbindlichkeit, mit Gewöhnlichkeit reagieren zu können. Es gelingt mir hin und wieder, doch meistens gelingt es mir nicht, nicht in einer Weise jedenfalls, dass ich nicht auffalle. Meistens, ich weiß es, und dieses Wissen ist alles andere als hilfreich, ist mein Timing ein falsches. Die Blicke, die ich daraufhin ernte, stellen mich ins Abseits. Dass ich die Konfrontation meide, mich möglichst nur in solche Interaktionen begebe, die selbsterklärend sind und keine verbale Kommunikation benötigen, ist die Konsequenz hieraus. Das Meer zu dieser Jahreszeit mit seinem Stampfen und Brausen ist tröstlich. Ich gehe lange am Strand spazieren. Vielleicht muss ich ein Aufhörer werden.