an:landen

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1

Du möcht­est dich doch immer nur langsam näh­ern, auf Abwe­gen, auf Umwe­gen und mit nicht mehr ein­hol­baren Ver­spä­tun­gen, in Zügen, die dich an ein Früher des Reisens erin­nern, ohne Großraumwa­gen, aber mit schön getren­nten Abteilen für sechs oder acht Per­so­n­en, die hier und jet­zt ihren Platz gefun­den haben auf abgewet­zten Sitzen, jed­er und jede für sich, mit einem Blick, der nach draußen geht oder in eine andere unzugängliche Ferne, sie sagen kein Wort, kein fre­undlich­es, aber auch kein bös­es, weil vielle­icht nichts mehr zu sagen ist, was von Bedeu­tung wäre, oder weil für das Wesentliche keine Worte zu find­en sind, jeden­falls nicht hier, jeden­falls nicht jet­zt, und selb­st die Schaffner­in ver­langt mit wort­losen Gesten nach den Fahrkarten, ver­hal­ten und so, als spielte sie in einem Film von Kau­ris­mä­ki, ein wenig unzuge­hörig, ein wenig fremd in der Welt, auf dieser Fahrt durch kaum besiedelte Gegen­den, vor­bei an kleinen und kle­in­sten Dör­fern, aus zwei, drei Häusern beste­hend oder aus aufgegebe­nen Fab­riken mit Schloten aus bröck­el­n­dem Back­stein, umgeben von ein­er kleinen harm­losen Ödnis, dann abgelöst von ein­er licht­en, step­pi­gen Land­schaft, in der vere­inzelte Bäume ste­hen, von Mis­teln befall­en, die als dun­kle Kugeln in den Bäu­men hän­gen und sie langsam erstick­en wer­den, du möcht­est sie doch ein­fach nur gese­hen und gezählt haben im Vorüber­fahren, bis du in Kelen­föld umsteigen und dich umse­hen wirst für einen Augen­blick, einen kurzen Halt in der unauf­fäl­li­gen Prov­inz, an einem Bahn­hofsvor­platz, der son­nig ist und zugle­ich von ein­er grauen Trau­rigkeit, bis du hier also in den Zug nach Szeged umsteigen und dich auf Umwe­gen den Gren­zen im Süden des Lan­des näh­ern wirst, während die Wag­gons sich zunehmend leeren bei ihren Hal­ten an kleinen, gebor­gen und beina­he ver­steckt in der Gegend liegen­den Ansied­lun­gen, zwis­chen schmalen hohen Bäu­men in hügel­los­er Gegend, die eine Weite frei­gibt, in der dein Blick sich ver­laufen kann, und eine Ver­heißung von Hor­i­zont, der hin­aus­ge­ht über das Sicht­bare.

Vor­erst aber möcht­est du im Sicht­baren ankom­men, im gän­zlich Irdis­chen, und in die bahn­hof­s­na­he Gast­wirtschaft gehen, die sich tra­di­tions­be­wusst gibt und zugle­ich angepasst an die ver­meintliche Mod­erne, rotweißrot kari­erte Tüch­er auf den Tis­chen und Glas­vasen mit Plas­tikrosen, neben der Theke ein leuch­t­end rot­er Getränkeau­tomat, zahllose ineinan­der gestapelte Pokale darauf, die von Wet­tbe­wer­ben, Kämpfen und Siegen zeu­gen, sie ver­bre­it­en den Geruch von ver­brauchtem Ruhm, der sich im Raum verteilt so wie die im Hin­ter­grund hör­baren Klänge von schmalzi­gen Liedern und ein­er unge­broch­enen Zuver­sicht. Hier­her kommt, wer immer schon hier­her kam, die weni­gen Gäste sind sich ver­traut, eingeübt in ein vernehm­bares Schweigen, das ihre Ver­bun­den­heit zu bestärken weiß, mit diesem Ort und mit diesem Moment, der ein besseres Früher hin­ter sich weiß, während die Jun­gen ander­swo den Auf­bruch üben, die Anbindung an eine Zukun­ft, die ihnen gesichert scheint, jeden­falls noch heute, jeden­falls noch hier, in der zen­tralen Bar der Stadt, zwis­chen geziegel­ten Wän­den und schwarzweißen Fotos, tanzend zu Life on Mars und einem den Raum ein­nehmenden Sound heller Stim­men, den du mit­nehmen und weit­er­tra­gen möcht­est, durch die regelmäßig angelegten Straßen des Zen­trums und über die von halt­los blühen­den Bäu­men gesäumten Plätze, vor­bei an den Glastafeln mit Plä­nen der Stadt und der von den Tafeln gekratzten und zum Ver­schwinden gebracht­en Syn­a­goge, daran also vor­bei und die nach dem großen Hochwass­er im let­zten Jahrhun­dert bre­it angelegte Ringstraße ent­lang, in Abschnitte unterteilt, deren Namen den spend­ablen Geldge­bern gewid­met sind, Lon­don, Paris, Berlin, so wird das flair kos­mopoli­tisch, es reicht bis an die Ufer­wild­nis der Theiß und selb­st bis zum trost­losen Schick der zen­trums­fer­nen Plat­ten­baut­en, auf deren Hauswän­den Zettel mit aufge­druck­ten Gedicht­en kleben, so wie auch an Bushal­testellen und auf Park­bänken Gedichte zu lesen sind, die einen ein­hal­ten lassen und vielle­icht fort­tra­gen in eine lyrischere Welt, zu Bildern aus Sprache, die hal­ten mögen über die näch­sten Stun­den hin­aus und bis in den Abend hinein, an dem einige Jugendliche sich für eine lange Nacht ver­sor­gen, sie ziehen mit Säck­en von Burg­ern und Cola in Bech­ern von Star­bucks und Mac Don­alds deliv­ery durch die Straßen, gefol­gt von ein­er Gruppe sehr cool­er Jungs in Jack­en aus Led­erim­i­tat, hör­bar am Leben und bemüht darum, es mit großen Gesten zu führen, lär­mend und auf ungestüme Art zufrieden, denn die Ver­führungskraft des kon­sum­istis­chen West­ens ist unge­brochen, wenn auch die Welt an ihr zugrunde gehen wird, davor aber wird doch bes­timmt noch ein Mor­gen kom­men, ein­er wie der fol­gende zum Beispiel, mit den für jeden Mor­gen typ­is­chen Geräuschen von Liefer­wä­gen, die zufahren und abw­er­fen, was die Stadt hier und heute ver­brauchen soll, es wird aus­ge­laden und gestapelt, ver­schleppt und ver­räumt und ein­ge­lagert, während ein schw­eres schwarzes Auto mit Kuweit­er Kennze­ichen uner­laubt und zu schnell in die Fußgänger­zone fährt und die weni­gen Pas­san­ten, kurz aufgeschreckt, zur Seite sprin­gen.

 

2

Du woll­test also im Früh­jahr kom­men, wenn das Dorf erblüht. Mit dem Bus von Szeged woll­test du kom­men und am Ort­sein­gang von Röszke aussteigen, beim früheren Bah­n­wärter­häuschen, Zeug­nis und Rest ein­er Zeit, die bald schon Geschichte ist, als die Züge hier Halt macht­en, als man hier noch ankom­men kon­nte oder von hier fort­fahren, auf Gleisen, die jet­zt abge­tra­gen wer­den und Meter für Meter rück­ge­baut, das ergibt ein aufgeris­senes Gelände, das ergibt eine halt­lose Unruhe rund um einen am Fel­drand aufge­wor­fe­nen Haufen her­aus­gestemmter Gleis­stücke, gebo­gen­er Tra­men, zer­split­tert­er Holz­planken, das ergibt eine Menge umgewühlter Erde am Bah­n­damm, der geplät­tet und eingeeb­net wird, zusam­men mit Sträuch­ern, Ästen und Gras, rück­stand­s­los niederge­walzt von Bag­gern, Bull­doz­ern, Last­wä­gen, die zu- und abfahren mit Erdre­ich, Schutt und Schrott, so wie man wenige Jahre zuvor mit den Geflüchteten abge­fahren ist, die ver­sucht hat­ten, hier über die Gren­ze zu gehen, von Ser­bi­en kom­mend und den Bah­n­damm ent­lang mit Kindern, Plas­tik­taschen und unbeir­rbaren Hoff­nun­gen, du soll­test dir die Bilder nicht vorstellen wollen, denn solche Bilder rück­en nah ans Gemüt.

Gemütvoll ist immer­hin der Ort, der davon nichts erzählt. Er gibt sich ver­schwiegen und fern von dem, was man ander­swo Fortschritt nen­nt. Kleine Häuser mit geziegel­ten Däch­ern inmit­ten großzügig bemessen­er Gärten bilden einen har­monis­chen Ortskern, unberührt von den Erschei­n­un­gen der soge­nan­nten Mod­erne, selb­st einige Neubaut­en am Rand des Dor­fes passen und fügen sich umstand­s­los ein. Allen­falls das Geschrei der Hüh­n­er hin­ter den Mauern von Euro Chick­en, nahe der nach Karl Marx benan­nten Straße, garantiert die Anbindung an die größere Welt von Konz­er­nen und der Logik des Kap­i­tals.
Die Schreck­en also sind klein gehal­ten und hin­ter­gründig, sie kom­men zum Beispiel von den Hun­den, die an Ket­ten reißen. Von den Kriegs­denkmälern, die erin­nern daran, dass auch dieser Ort nicht her­auszuhal­ten war aus der Geschichte. Von dem geduldig ver­fal­l­en­den Haus mit David­stern am Giebel, darüber die Jahreszahl 1905.

Und dann der Zaun, so unver­mit­telt wie unhin­terge­hbar, am südlichen Ende des Dor­fes, wo es aus­läuft in die gren­z­na­hen Felder, der Theiß zu, die Ungarn von Ser­bi­en tren­nt. In zwei Rei­hen ges­pan­nt, dazwis­chen ein bre­it­er Erd­streifen, und das sur­reale Bild von Krähen, die darüber­fliegen, und Män­nern, die ein anliegen­des Feld in Länge und Bre­ite ver­messen, sehr konzen­tri­ert und unbeir­rt, und hier also dieser Zaun aus NATO-Draht, mit Schnei­den von sechs Zen­time­tern Länge, ros­t­frei und prächtig glänzend in der Sonne, schillernd beina­he, Rasierklin­gen­za­un, heißt es bei Zsó­fia Bán, und du soll­test erschreck­en und du erschrickst auch tat­säch­lich vor den unter Kam­eras und Laut­sprech­ern in regelmäßi­gen Abstän­den am Zaun ange­bracht­en Schildern, die in ara­bis­ch­er Schrift darauf ver­weisen, dass der Zaun elek­trisch geladen sei, als kön­nte er son­st zu harm­los erscheinen.

Du gehst den Zaun ent­lang, ein paar Hun­dert Meter, ver­suchst den Blick abzu­lenken auf die links davon liegen­den Häuser mit Gärten, in denen Hüh­n­er schar­ren, und Obst­bäu­men, deren Blühen die Ver­störung noch ver­größert – der Zaun lässt eine solche Ablenkung des Blicks nicht zu, er schiebt sich vor jedes andere Bild und ins Denken hinein, das hier wörtlich an eine Gren­ze stößt, dem das Maß ver­loren geht, an das du doch immer noch glauben woll­test, aber an den Zaun reicht dein Maß nicht her­an.
Er schaffe ein Gefühl der Sicher­heit, sagt eine Anwohner­in. Er lasse ihn spüren, wohin er gehöre, sagt ihr Mann. Er schaffe ein unan­greif­bares Zuhause, sagen die anwohnen­den Nach­barn, und er schaffe Beruhi­gung, vor allem nachts, wenn man doch schlafen möchte, vor allem im Win­ter, wenn es früh dunkel wird, und vor allem der Kinder wegen, die man doch in Frei­heit aufwach­sen und ohne Angst spie­len lassen wolle, hier, an der Gren­ze, an der dein Denken zum Still­stand und zugle­ich nicht zur Ruhe kommt.
Später wirst du Bilder suchen im Inter­net, um die sicht­bare Real­ität abzu­gle­ichen mit jen­er von Dat­en und Fotografien, als kön­nte sie dadurch ihre Unwirk­lichkeit ver­lieren. Men­schen, als Einzelne kaum mehr wahrnehm­bar, die sich drän­gen vor dem Zaun. Polizis­ten und Grenzbeamte, durch ihre Uni­for­men von der Menge abge­hoben, die sie zurück­drän­gen. Män­ner, die Rehe, Hasen, Füchse aus dem Klin­gen­draht schnei­den, deren Kör­p­er so zer­stück­elt sind wie ihr durch den Zaun zer­schnit­ten­er Leben­sraum, du soll­test dir ihre Tode nicht vorstellen wollen, denn solche Tode rück­en nah ans Gemüt.

Es geht hier also nicht weit­er. Der Zaun ist lück­en­los, er lässt nichts offen und er lässt nichts zu, noch nicht ein­mal die Fan­tasie, dass er sich, wie alle Materie und früher oder später, wieder zer­set­zen würde, dass er sich Stück für Stück und Meter für Meter in die Erde absenken oder gegen jede physikalis­che Wahrschein­lichkeit in Luft auflösen würde, mit den Jahren, Jahrzehn­ten, Jahrhun­derten nach den vor­erst gezählten und irgend­wann let­zten Tagen der Men­schheit, aber eine so trostre­iche Fan­tasie gibt der Zaun nicht her, jeden­falls nicht hier, jeden­falls nicht heute, und kehrt sie stattdessen um in die mehr und mehr Raum greifende Vorstel­lung davon, wie er selb­st noch die Ewigkeit über­dauern und hier ste­hen bleiben würde, inmit­ten rest­los ver­bran­nter Erde und einem rest­los entleerten Raum, dieser exakt ver­messene, 175 Kilo­me­ter lange, unz­er­set­zbare und unentzünd­bare Zaun aus ros­t­freiem Stahl, ein let­ztes erbar­mungslos­es Zeug­nis, ein let­zter muse­al­er Rest, der auf die Men­schen ver­weisen würde, auf ihre Hybris und auf ihre zu große Angst.

Im Dorf, unweit des Zauns, ein Lokal, das keinen Namen hat, hölz­erne Bänke und Tis­che in einem großen Saal, darüber abge­s­tandene Luft, der Rauch von Jahren; an den Wän­den hän­gend Speisekarten, die für Gulyas und Babygulyas wer­ben, daneben verblich­ene Ansicht­en des Orts, schwarz-weiße Fotos von Dorffesten, Hochzeit­en, Ochsenkar­ren. Ein altes Radio aus den 60ern spielt Operetten­melo­di­en, und auch der im Eck hän­gende Fernse­her läuft, zwei Ton­spuren, die auseinan­der- und wieder zusam­men­laufen. Im Fernse­hen die let­zten Minuten der Über­tra­gung eines Fußball­spiels, danach Nachricht­en, unbeteiligt vor­ge­tra­gen in dieser Sprache, die du nicht ver­stehst, das Wort Europa immer­hin dringt zu dir durch, es ste­ht im Raum, ein wenig fremd, ein wenig unzuge­hörig, bis die Musik sich darüber­legt, Ich hab kein Heimat­land, eine Auf­nahme aus dem Jahr 1933, gesun­gen von Friedrich Schwarz, kurz bevor er ins Exil ging nach Paris. Es muss eine wider­sin­nige, eine aber­witzige und uner­gründ­bare Koinzi­denz sein, dass dieses seit Jahrzehn­ten vergessene Lied hier und jet­zt von einem ungarischen Radiosender gespielt wird und dich hin­auss­chiebt aus der abgezäun­ten Gegen­wart, im Zusam­men­prall zweier Wirk­lichkeit­en, die sich kreuzen und ineinan­der­greifen, in diesem Moment, in diesem auf groteske Weise gesicherten Ort, in diesem Land, das nur die Zäune getauscht hat, um von ein­er Unfrei­heit in eine andere zu taumeln, aber was bedeutet Frei­heit.