Nacht im März, zersplittert

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Und du liegst im Bett und starrst an die Decke, an der Decke Risse. Die Dürre in Ostafri­ka und die Regen­fälle in Aus­tralien und der Hitzereko­rd in der Antark­tis und. Du ver­fol­gst den Krieg live auf Twit­ter. Und das Kranken­haus­per­son­al ist erschöpft, fällt immer öfter aus und ruft und ruft um Hil­fe und nie­mand hört. Die vie­len Men­schen, die eingeschlossen. Und du atmest ein, atmest aus, atmest Saha­rasand. Und dein Deal­er schwärmt dir von ein­er Droge vor, sie ver­spricht Leichtigkeit. Es sind Pilze, die wie Schachfig­uren, du kauf­st drei Springer, in dein­er Hand wer­den die Pilze zu Pul­ver wer­den zu Pillen. Und du traust dieser sich ständig ver­wan­del­nden Droge nicht, schluckst alle Pillen auf ein­mal. Eine Sturzflut spült dich aus deinem Traum. Es gibt 60.000 Neuin­fek­tio­nen, ein Fre­und sagt, du würdest übertreiben, es wären nur. Und eine Frau bit­tet dich, ihre Groß­mut­ter aus Mar­i­upol zu holen, sie sagt, dass doch irgend­je­mand ihre Groß­mut­ter. Eine andere hat seit ein­er Woche keinen Kon­takt mehr zu ihrem Baby. Die Poli­tik reagiert auf die Hil­fer­ufe in den Kranken­häusern, vul­ner­a­ble Per­so­n­en brauchen Schutz. Um recht­sex­treme Eso­terik­er auf Glob­u­li, die mit Rus­s­land­flagge gegen die öster­re­ichis­che Dik­tatur demon­stri­eren, weit­er­hin liebevoll betreuen zu kön­nen, dür­fen Kranken­hau­sangestellte auch krank arbeit­en gehen. Deine Katze nimmt ein Schaum­bad. Und du fragst dich, warum die Pillen noch nicht. Im Fernse­hen gibt es eine neue Cast­ing-Show, pow­ered by Fes­tung Europa: Guter Flüchtling, schlechter Flüchtling. Wer kommt eine Runde weit­er? Wer hat das fre­undlich­ste Lächeln? Die hell­ste Haut­farbe? Hei­di sagt: Heute habe ich lei­der kein Foto für dich, danke, dass du dabei gewe­sen. Ein Mitar­beit­er begleit­et die Lei­der-Nein-Kan­di­dat­en nach draußen. Nach ein­er Wer­bepause geht es weit­er. Neu im Kühlre­gal: Geschmolzenes Grön­lan­deis in der Dose, mehr Erfrischung geht nicht. Und du schläf­st während der Wer­bepause ein, bist am Strand, Son­nen­schirme, Kinder­lachen, läuf­st über den heißen Sand hin­unter zum Meer. Endlich ein erhol­samer Traum, denkst du während des Träu­mens, doch ein Strandbe­such­er hält eine Fernbe­di­enung in Rich­tung Sonne, eine sehr bre­ite Jalousie fährt am Hor­i­zont hin­unter, es wird fin­ster. Diejeni­gen, die es nicht in die mit dem Frieden­sno­bel­preis aus­geze­ich­nete Show geschafft haben, erhal­ten ein kosten­los­es Rück­flugtick­et ins Kriegs­ge­bi­et oder kön­nen sich die Show im gefrore­nen Wald hin­ter dem Stachel­drahtza­un. Und du schreib­st den Alb­traum in dein Alb­traum­tage­buch. Und dein Bett begin­nt zu ruck­eln, ruck­elt heftig. Es gibt dafür drei mögliche Erk­lärun­gen. A. Du ver­lierst den Ver­stand. B. Du hast dich wieder in der Metaebene eines Traums verir­rt. C. Es war ein Erd­beben. Und du desin­fizierst die Hände, desin­fizierst das Gesicht, nimmst die Augäpfel aus den Augen­höhlen, legst sie in die Schale mit dem Desin­fek­tion­s­mit­tel. Die Träume ble­ichen aus wie die Korallen. Und ein Pin­guin treibt allein auf ein­er Eiss­cholle. Dein Zah­narzt sagt dir, dass dein Herz schmilzt, das Herz, sagt er, müsse durch ein Plas­tikherz erset­zt. Er kippt den Zah­narzt­stuhl nach hin­ten. Siri erk­lärt den Ablauf: Sneak­er ausziehen, FFP2-Maske abnehmen. Und du siehst die Viren im Raum herum­schwirren, bist dir nicht sich­er, ob das der geeignete Ort für eine Herz-OP. Und auf Twit­ter fra­gen sich alle, ob das Ruck­eln ein Erd­beben war oder ob sie langsam den Ver­stand ver­lieren wür­den, und du bist erle­ichtert, dass du nicht die Einzige bist, die dabei ist, den Ver­stand. Du tanzt mit ein­er Frau im Spiegel, ihr prostet einan­der zu, verabre­det euch für ein weit­eres Date.  Und der Aufzug schießt in die Höhe, hält nicht, egal, auf welchen Knopf du drückst, er hält nicht, hält erst im hun­dert­sten Stock, im hun­dert­sten Stock geht die Tür auf, vor dir der Abgrund. Und die Wälder bren­nen und über die Wiesen ergießt sich Beton. Und in der U-Bahn schre­it dich eine Frau an, sie habe durch­schaut, was hier mit uns passiere, du würdest auch noch durch­schauen, was hier mit uns. Und du schreckst nicht mehr so oft hoch, wenn im Traum jemand ohne Maske. Und im Reisemagazin sind die Ozeane nicht mehr blau, sind die Ozeane grau-braun, hie und da ein Farb­tupfer, ver­wasch­enes Coca-Cola-Rot, Nes­tle-Blau, McDon­alds-Gelb. Und es gibt eine neue Virus­vari­ante und Kali­um-Jod-Tablet­ten sind ausverkauft, die Alb­träume begin­nen sich zu ver­mis­chen. Und du schlüpf­st ins iPhone, machst ein Self­ie am Insta­gram-Strand, hin­ter dir das Meer, und du legst einen Fil­ter über das Foto, damit man die Plas­tik­tüte über dem Schild­krötenkopf nicht sieht und die Reste vom Schlauch­boot. Und am Hotel­buf­fet stre­ichst du dir Betrof­fen­heit aufs Brot, erstickst beina­he daran. Und eine Frau möchte ihr Bal­lk­leid spenden, sie weiß, dass die Klei­der­lager voll sind, weiß, dass ein Bal­lk­leid keine geeignete Fluchtk­lei­dung. Aber es wäre doch so schade um das schöne Kleid. Und ein Mann will in sein­er Woh­nung drei oder vier Sin­gle-Frauen einen Schlaf­platz. Der Kater kotzt in dein Bett. Es klin­gelt und du öffnest die Tür, vor der Tür ist nie­mand, nur eine offene Flasche Cham­pag­n­er, darauf ein Post-it: Haus-Par­ty, kon­tak­t­los. Und du nimmst einen Schluck aus der Flasche, schaler Geschmack. Vielle­icht ist es der mit MDMA vergiftete Cham­pag­n­er aus dem Super­markt, du hoff­st es sehr, nimmst noch einen Schluck, stellst die Flasche vor die Nach­bartür, läutest an, läuf­st in die Woh­nung zurück. Und durch die Decke dringt Wass­er, das Schlafz­im­mer bald über­schwemmt, deine Matratze wird zum Floß, du fährst damit ins Wohnz­im­mer, wo dir deine Nach­barin einen Joy­stick in die Hand. Im Videospiel sollt ihr als Poli­tik­erin­nen den Kli­mawan­del stop­pen. Was tun Sie? A. Sagen, dass gehan­delt wer­den muss. B. Sagen, dass wirk­lich gehan­delt wer­den muss. C. Han­deln. Ihr zuckt mit den Schul­tern. Und du schläf­st wieder ein. Und du sitzt im Flugzeug, neben dir sitzt die Flugscham, du siehst sie nicht an, siehst aus dem Fen­ster, ein Kampf­jet fliegt vor­bei, noch ein­er. Eine Flug­be­glei­t­erin sagt mit fre­undlich­er Stimme: Ladys and Gen­tle­men, es kön­nte etwas ungemütlich. Ihre kugel­sichere Weste befind­et sich unter Ihrem Sitz, die Sauer­stoff­masken fall­en bei Beschuss automa­tisch. Und die Inseln versinken im Meer. Und eine Jugendliche zertrüm­mert mit einem Base­ballschläger das Auto, in dem ihre Äng­ste. Eine andere kriecht in den Fernse­her, ver­steckt sich im Prinzessin­nen­schloss eines Dis­ney­films, zieht den Steck­er hin­ter sich. Und Face­book fragt dich: Sollen deine Face­book-Kon­tak­te nach deinem Tod an deinen Geburt­stag erin­nert. Und du bist wieder am Strand und eine Wasser­wand kommt auf dich zu. Und im Traum sagst du zu dir: Samm­le deine Träume ein, damit du sie nicht ver­lierst, einen hast du noch während des Träu­mens ver­loren. Und du bist auf der Tanzfläche, die Tanzfläche voll, du atmest den Rauch ein, atmest den Schweiß ein, reib­st dir den Schweiß der anderen Tanzen­den auf deine Haut, deine Lip­pen. Und du denkst: Endlich wirken die Pillen aus einem früheren Traum. Und die Plas­tikin­seln im Indis­chen Ozean wer­den zu gün­sti­gen Urlaub­s­des­ti­na­tio­nen. Auf den Plas­tikin­seln gibt es Plas­tikho­tels und Plas­tik­strände, auf denen Kinder Plas­tik­bur­gen. Und ein Schüler schreibt Hoff­nung mit einem f. Und du fragst dich, in welch­es soziale Net­zw­erk du ziehen wirst, wenn es die Welt nicht mehr, fragst dich, mit welchem dein­er Ichs du am besten klarkom­men würdest. Und die Risse bre­it­en sich aus, die Decke stürzt ein. Du wachst auf, müde, kannst dich nicht an deinen Traum. Du schaust aufs Handy. Auf Insta­gram blühen die Bäume.