Der „Wie finde ich die eigene Stimme“-Workshop

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Neulich leit­ete ich einen lit­er­arischen Work­shop. Im Saal – fünf kün­ftige Schrift­steller. Zwis­chen 14 und 20ig. Vier junge Frauen und ein junger Mann. Das let­zte gren­zt an ein Wun­der. Män­ner inter­essieren sich über­haupt nicht mehr für Lit­er­atur. Der junge Mann blickt noch dazu wach­sam in die Runde. Nicht ein­mal die Wollmütze, die er bei 30ig Grad Hitze trägt, hin­dert ihn daran.
Ich lasse zu Anfang wie immer meinen orig­inellen Spruch los: „Lit­er­arische Work­shops sind für die Katz. Hier kann man zwar ler­nen, Dialoge zu schreiben, aber das wichtig­ste, die soge­nan­nte eigene Stimme find­et ihr sich­er nicht hier. Com­prende?“
Schmun­zeln, Nick­en und pein­liche Ver­wun­derung.
„Deswe­gen drehen wir heute zuerst kurz den Spiess um“, mache ich weit­er: „Ihr ver­set­zt euch in den Kopf eines Lit­er­aturkri­tik­ers. Unser Objekt der Begierde ist die öster­re­ichis­che Lit­er­atur. Ihr dürft sie in den Boden stampfen oder in den Abend­him­mel loben. Und keine Angst. Was in Las Vegas passiert, bleibt auch in Las Vegas“.
Eine dunkel­haarige Frau von 15 Jahren mit einem Pierc­ing in der Nase hebt die Hand:
„Darf ich fra­gen wozu das gut sein soll? Wir sind ja hier, um schreiben zu ler­nen“. Aus Psy­chosem­inaren weiß ich inzwis­chen, wie man mit schw­eren Fra­gen umge­ht.
„Guter Ein­wand“, schieße ich den Ball zurück in den Raum.
„ Also, wer ken­nt die Antwort?“
„Damit wir, wenn es mit der Schrift­stellerei nicht klappt, von Ver­ris­sen begabter­er Kol­le­gen leben kön­nen?“, schlägt der junge Mann vor und lüftet kurz seine Wollmütze.
„Bra­vo. Was noch?“, muntere ich die Runde auf.
„Damit wir ler­nen, unsere eige­nen Werke wie Kri­tik­er zu betra­cht­en?“, schlägt die junge Frau mit blon­dem, ungepflegtem Haar vor.
„Auch eine Möglichkeit. Weit­er.“
„Damit wir uns ein biss­chen rächen kön­nen?“
„Auch gut!“, ich klatsche in die Hände: „Also. Wer fängt an?“

„Ich finde, dass die öster­re­ichis­che Lit­er­atur ein biss­chen zu trau­rig ist“, macht eine junge Frau mit ein­deutigem Migranten­hin­ter­grund den Anfang. „Die Hälfte der Büch­er spie­len auf einem Biobauern­hof irgend­wo in Oberöster­re­ich. Die Sonne geht dort früh unter und ste­ht spät auf. Die Kinder heißen immer Karl und Lisa und wer­den erstaunlich oft miss­braucht. Der Gross­vater stellt sich dann auch noch als Nazi her­aus oder bege­ht Selb­st­mord. Die Frauen wer­den unter­drückt und bren­nen irgend­wann in die Stadt durch, wo sie eine Tochter zeu­gen, die dann zu ein­er Fem­i­nistin wird.“
Stille im Raum. Die erste Kri­tik wird gründlich ver­daut.
„Moment­mal. Was hast du eigentlich gegen einen oberöster­re­ichis­chen Bauern­hof?“, ergreift ihre Sitz­nach­barin mit ungepflegtem Haar das Wort. „Das ist echt­es Leben. Und wenn wir schon bei Sch­ablo­nen sind, dann schau dir an, wie die Migranten­lit­er­atur abläuft, die jet­zt im Land um sich greift.“
„Wie meinst du das?“, gibt das Mäd­chen mit dem Migranten­hin­ter­grund zurück.
„Es ist ja immer die gle­iche Geschichte“, erk­lärt das Mäd­chen mit dem ungepflegten Haar: „Der Emi­grant kommt nach Wien, sucht verge­blich Arbeit, wird von seinen eige­nen Land­sleuten übers Ohr gehauen und lan­det nach 300 Seit­en unter der Reichs­brücke, wo er Migrantenkrokodil­strä­nen vergießt. Haben die Migranten keine anderen Sor­gen. Müssen die auch nicht mal aufs Klo zum Beispiel?“
„Vielle­icht gibt es außer Essen und dem Klo noch Wichtigeres? Und die Frem­den wis­sen das im Gegen­satz zu vie­len Inlän­dern“, giftet das Migranten­mäd­chen zurück.
„Alles sehr gute Argu­mente. Aber wir wollen beim The­ma bleiben“, werfe ich ein und bringe meine Schäfchen zurück in die Spur mit ein­er Frage, die nicht so viel Zünd­stoff birgt.
„Was ist mit den älteren öster­re­ichis­chen Lit­er­at­en? Wie kom­men die für euch rüber? Ich meine, es ist eine andere Gen­er­a­tion als eure. Da muss doch was im Busch sein?“
„Dieser Busch bren­nt nicht mehr“, sagt das bis dahin schweigende Mäd­chen in der Ecke. Sie sieht aus, als hätte sie einen Joint ger­aucht und stünde noch unter seinem Ein­fluss.
„Und geht das etwas genauer?“, bitte ich um Aufk­lärung. Schließlich hat sie mich ger­ade mit meinen älteren Kol­le­gen in die Pfanne gehauen.
„Es gibt schon ein paar gute“, sagt sie, „aber die meis­ten sind nur noch faul. Sie schreiben immer den gle­ichen Scheiß und glauben, es ist Weltlit­er­atur. Aber, hej, die kön­nen nichts dafür. Die sind eben alt.“
„Aber die Jun­gen sind auch nicht bess­er“, bringt sich das Mäd­chen mit dem Pierc­ing wieder ein: „Die haben über­haupt nichts zu sagen. Deswe­gen erfind­en sie irgend eine Krankheit oder ein Unglück. Dann laden sie sich das fremde Kreuz auf den Rück­en und tra­gen es 200 Seit­en lang herum, weil sie ja so unbe­d­ingt Schrift­steller wer­den wollen. Und wir fall­en drauf rein!“
„Wer ist wir?“, frage ich ver­wirrt.
„Na wir, die Lit­er­aturkri­tik­er. Schon vergessen?“
„Also, ich finde am besten schreiben immer noch die Toten“, hält der Junge mit der Wollmütze dage­gen: „Die sind super. Karl Kraus und Thomas Bern­hard. Die sind so lebendig, dass sie noch heute jede Dis­co rock­en kön­nten.“
„Von wegen Dis­co“, hält das Joint­mäd­chen dage­gen: „Die Zukun­ft gehört ein­deutig der fem­i­nis­tis­chen Lit­er­atur“.
„Das kannst du laut sagen“, pflichtet ihr das Pierc­ing­mäd­chen bei: „Die sind jet­zt im Kom­men. Die sind jet­zt über­all in der Mehrzahl“.
„Sog­ar in diesem Raum“, wirft der Junge mit der Wollmütze ein.
„Ganz recht“, kommt das Joint­mäd­chen zu Hil­fe: „Es kön­nen nicht genug sein, um dem Patri­ar­chat den Stinkefin­ger zu zeigen. Nur eins geht mir auf den Weck­er“, sie zögert kurz, „einige von diesen fem­i­nis­tis­chen Autorin­nen ziehen sich absichtlich einen Minirock an, wenn sie von so einem abge­takel­ten midlife­cri­sis männlichen Jour­nal­is­ten inter­viewt wer­den. Das finde ich ekel­haft.“
„Was ist schon an einem Minirock verkehrt. Ich bin 18 und habe auch nichts dage­gen“, der Junge mit der Wollmütze macht das Lachen eines alten Lüstlings nach.
„So siehst du aus, du blöder Patri­arch!“, rufen das Pierc­ing- und das Joint­mäd­chen im Chor.
„Wow, wow, wir wollen Boden­haf­tung bewahren“, fahre ich dazwis­chen in der Befürch­tung, man kön­nte mir den einzi­gen männlichen Teil­nehmer seit Jahren ver­schreck­en und mache eine Über­leitung.
„Apro­pos Minirock: Wie ste­ht es mit dem The­ma Erotik in der öster­re­ichis­chen Lit­er­atur?“
„Nicht beson­ders gut“, meldet sich wieder mal das Mäd­chen mit Migranten­hin­ter­grund zu Wort: „Ich meine, es ist zu vul­gär. Dauernd kom­men da nur Worte wie Schwanz und Möse vor. Ich meine wer redet so?“
„Sex zu haben und Sex zu beschreiben, sind eben zwei paar Schuh“ stimmt das Pierc­ing­mäd­chen mit weisem Nick­en zu. „Ich habe mal was von Kun­dera gele­sen. Das war richtig gut. Ist tschechis­che Lit­er­atur eigentlich noch öster­re­ichis­che Lit­er­atur?“
„Kaf­ka war der let­zte öster­re­ichis­che Tscheche. Aber der hat­te ein ziem­lich­es Prob­lem mit dem Sex“, meldet sich das Joint­mäd­chen und schaut mich an: „Herr Lehrer, wie lange sollen wir dieses Gewäsch von uns geben? Das wird auf die Dauer lang­weilig.“
„Schon gut“, ich hebe die Hand: „Das reicht erst mal. Ich bin übri­gens sehr zufrieden mit euch“.
Ich über­schlage noch mal die Wort­mel­dun­gen. Die wichtig­sten Eck­dat­en der öster­re­ichis­chen Lit­er­atur wur­den zumin­d­est angeris­sen. Minirock. Kaf­ka. Biobauern­hof und Migrantenkrokodil­strä­nen. Fürs Erste gar nicht mal so schlecht. Es wird Zeit mit dem Work­shop zu begin­nen.
„Jet­zt nimmt jed­er ein Blatt her­aus und wir leg­en als Autoren los“, sage ich: „Aber eins will ich noch wis­sen. Was haben wir als Lit­er­aturkri­tik­er gel­ernt?“
„Dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann?“, sagt der junge Mann mit der Wollmütze.
„Guter Ein­wurf. Was noch?“
„Dass die öster­re­ichis­che Lit­er­atur in Zukun­ft den Frauen gehört“, schießt das Mäd­chen mit dem ungepflegten Haar zurück mit einem schw­eren Blick auf den Jun­gen mit der Mütze.
„Dur­chaus möglich. Was noch?“
„Dass die Welt am Absaufen ist?“, sagt das Joint­mäd­chen.
„Inter­es­sante Schlussfol­gerung. Aber etwas weg vom The­ma.“
„Dass das Herum­nörgeln mehr Spass macht als Schreiben“, schlägt das Mäd­chen mit dem Migranten­hin­ter­grund vor.
Die Gruppe lacht.
„So ist es“, ich mache eine feier­liche Pause und sage dann: „Der Autor nimmt immer den schw­eren Weg. Deswe­gen lautet das The­ma des heuti­gen Work­shops: Wie zum Kuck­uck finde ich meine eigene Stimme in einem Raum voller Leute, die auch eine eigene Stimme suchen?“
Die Gruppe schweigt und ich füge in dieses Schweigen hinzu: „Davon, wie gründlich ihr diese Frage beant­wortet, hängt eine Menge ab. Um nicht zu sagen alles. Man kön­nte sog­ar sagen: Das Schick­sal der öster­re­ichis­chen Lit­er­atur“.