Ich und der Urknall

Erich Klein im Gespräch mit Raoul Schrott über Literatur als Ahnendienst, die Dauer der Berge, Kochen für Philippe Soupault und sein Buch Erste Erde.

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ERICH KLEIN Wann wurde Ihnen klar, dass Sie Schrift­steller wer­den woll­ten?

RAOUL SCHROTT Kaum dass ich Büch­er lesen kon­nte, wollte ich sie bald ein­mal auch sel­ber schreiben. Da war dieses Mys­teri­um von Geschicht­en, von denen sich nie genau sagen ließ, ob sie erfun­den oder wahr waren. Und wie sie sich ergaben. Als ich mit zehn nach Lan­deck kam und in der Stadt­bücherei endlich in den Raum für die Erwach­se­nen gelassen wurde – es gab dort einen schw­eren schwarzen Vorhang wie bei einem Sex-Kino – , standen da all diese alpha­betisch geord­neten Autoren: Camus, Bre­ton und auch H. C. Art­mann. In mehreren sein­er Büch­er stieß ich dann auf diese magisch klin­gen­den, kur­siv­en Wörter auf Gälisch und dachte mir damals: Aha, wenn du Dichter wer­den willst, musst du also Gälisch ler­nen. Das habe ich gemacht. So führt eines zum anderen – wie immer.       

KLEIN Das muss unge­fähr 1974 gewe­sen sein und es han­delt sich ver­mut­lich um einen kleinen Mythos über die Anfänge des Dichters Raoul Schrott?

SCHROTT Nein. Ich mag keine Selb­stin­sze­nierun­gen – aber Büch­er. Die waren bei uns zu Hause immer selb­stver­ständlich; die Bib­lio­thek meines Vaters ist nach wie vor größer als die meine. Für mich waren Büch­er aber auch deshalb wichtig, weil sie eine Art von sprach­lich­er Heimat darstell­ten. Ich habe meine Kind­heit in Wien, Zürich und Tunis ver­bracht, weil mein Vater für die Wirtschaft­skam­mer arbeit­ete und von ein­er Außen­han­delsstelle zur näch­sten ver­set­zt wurde. Lesen und Schreiben habe ich in Tunis gel­ernt, am Vor­mit­tag Franzö­sisch von links nach rechts, am Nach­mit­tag Ara­bisch von rechts nach links. Um da über­haupt mitzukom­men, ver­suchte ich anhand von Mimik und Gestik zu ver­ste­hen, wovon dabei gesprochen wurde. Kinder­büch­er waren rar; das Einzige, was es in Tunis für mich gab, war Aster­ix und Obelix auf Franzö­sisch. Also hielt ich mich an die Büch­er für die Erwach­se­nen, Jack Lon­dons Wolfs­blut etwa, wo ich auch noch nicht alles begriff. Lit­er­atur erschien da wie ein Rät­sel, das andere offen­bar leicht lösen kon­nten. Warum ich aber sel­ber schreiben wollte, ist schw­er zu sagen: Vielle­icht um mir jene Geschicht­en zu erfind­en, die ich nicht in den Büch­ern ander­er fand? Im Nach­hinein ist das immer Wes­t­en­taschenpsy­cholo­gie.

KLEIN Aus einem Leser wird nicht notwendi­ger­weise ein Schreiber.

SCHROTT Vielle­icht spielte es eine Rolle, dass ich in Tunis genau­so fremd war wie später in Tirol, bei­de Male ein Außen­seit­er, der nir­gend­wo richtig dazuge­hörte. Diese Posi­tion am Rand bringt einen Blick von außen mit sich – Dinge erscheinen durch ihre Fremd­heit eige­nar­tiger und über­raschen­der, als wenn man mit ihnen wie selb­stver­ständlich aufwächst. Eben dieses Ander­sar­tige rückt die Lit­er­atur dann sys­tem­a­tisch in den Vorder­grund, indem sie die Welt immer wieder von neuen Per­spek­tiv­en aus schildert.

KLEIN Das Gym­na­si­um in Tirol brachte Sie dann ver­mut­lich der deutschsprachi­gen Lit­er­atur näher.

SCHROTT Wir hat­ten einen sehr linkslasti­gen Deutschlehrer, der uns dauernd auf­forderte: „Kommt’s zum Stammtisch der SPÖ!“ Das fand ich schon damals für einen Päd­a­gogen manip­u­la­tiv. Sein Lehrplan war dementsprechend ein­seit­ig: Über Kroetz oder Tur­ri­ni wur­den wir elend­slang abgeprüft und mussten die sechs Phasen der Lit­er­atur in der DDR auswendig ler­nen, zu Rilke oder Hof­mannsthal aber gab es kaum mehr als zehn Zeilen. Völ­lig unab­hängig davon mochte ich die deutsche Lit­er­atur nicht beson­ders: Sie erschien mir zu moralin­sauer, didak­tisch und entwed­er poli­tik­lastig oder der eige­nen Nabelschau ver­schrieben. So wenig freigeistig oder tem­pera­mentvoll, eher blut­leer. Ganz anders als die roman­is­chen Tra­di­tio­nen, mit denen ich groß gewor­den bin. Dage­gen aber gab es unseren Englis­chlehrer, der vom schwierig­sten Buch der Welt erzählte – Finnegans Wake von Joyce. Ich bestellte es mir in der Lan­deck­er Papier­hand­lung: es dauerte ein halbes Jahr, bis es da war – und ich kapierte dann schnell, woher sein Ruf rührte. Mehr als dass der erste Satz den let­zten fort­führt, habe ich damals nicht kapiert. Doch dieser Anspruch an Lit­er­atur – dass sie auch ein Kunst­werk der Sprache ist – prägte sich ein. Genau­so wie let­ztlich dann doch der real­is­tis­che Ansatz der deutschen Lit­er­atur, die wir vorge­set­zt beka­men. Aber wie bei­des miteinan­der auf einen Nen­ner kriegen?

KLEIN Wir befind­en uns am Anfang der 80er-Jahre. Sie wollen noch immer Schrift­steller wer­den?

SCHROTT Ja – aber ich wusste nicht, ob ich über­haupt das Tal­ent dafür habe. Zumin­d­est einen Brot­beruf brauchte ich deshalb. Also dachte ich mir, ich studiere Lit­er­atur – da habe ich Zeit, es her­auszufind­en und kann mir gle­ichzeit­ig das nötige Wis­sen dafür erwer­ben. Das war nicht ganz falsch, hat allerd­ings den Weg zum Handw­erk des Schrift­stellers etwas länger gemacht, weil man so das The­o­retis­che erst bewälti­gen muss, um es danach wieder in den Hin­ter­grund treten zu lassen. Ich habe mich also zunächst fürs Lehramt auch auf der Ger­man­is­tik in Inns­bruck eingeschrieben – die damals einen ziem­lich ver­schul­ten, fast schon amtsmäßi­gen Charak­ter hat­te. Aber  da kam W. G. See­bald, der noch nicht als Schrift­steller bekan­nt war, zu einem Gastvor­trag über Stifter – und zeigte mir, dass es auch andere Arten gab, an Lit­er­atur her­anzuge­hen. Er brachte mich an die Uni in Nor­wich, wo ich mit ein­er völ­lig anderen Denke kon­fron­tiert wurde, bei der es um die Schlüs­sigkeit von Argu­menten bei der Inter­pre­ta­tion ging, nicht um das bloße Präsen­tieren von Wis­sen aus der Sekundär­lit­er­atur, die man samt Bib­li­ografie zitierte, um sie mit ein wenig Füll­text zu verbinden. Ich wollte da eigentlich schon längst Ver­gle­ichende Lit­er­atur­wis­senschaft studieren, aber das gab es nur als Dok­toratsstudi­um. Ich habe mich dann in den Neun­zigern dort habil­i­tiert.

KLEIN Der ein wenig mys­ter­iöse näch­ste Punkt in Ihrer Biografie lautet: „Sekretär von Philippe Soupault“. Wie wird man als Tirol­er Ger­man­is­tik­stu­dent zum Sekretär eines leben­den Klas­sik­ers des Sur­re­al­is­mus?

SCHROTT Im Sem­i­nar Richard Shep­pards in Nor­wich begann ich mich für Dadais­mus zu inter­essieren. Bis dahin wusste ich davon nur, was uns der Deutschlehrer beige­bracht hat­te: Dada ist Unsinnspoe­sie. Die Beispiele, die ich kan­nte, waren zwar ganz amüsant, schienen aber nicht weit­er pro­fund. Bis Shep­pard mir die kom­plex­en Konzepte dahin­ter zeigte. Die Dadais­ten sind dabei auch heute noch unter­schätzt. Ein­er­seits hat­ten sie angesichts des Ersten Weltkriegs eine Bilanz der europäis­chen Kul­tur­tra­di­tio­nen gezo­gen, ander­er­seits ist an ihnen aber bere­its die erste Aus­for­mung der heuti­gen Mod­erne ables­bar: in der Auseinan­der­set­zung mit der Tech­nik, dem trieb­haft Irra­tionalen im Wider­spiel mit dem Ratio­nalen, dem Bewusst­sein der Arti­fizial­ität unser­er Aus­drucksmit­tel. Sie ver­sucht­en die jew­eili­gen Dynamiken dieser Felder mit dem Huma­nen irgend­wie im Gle­ichgewicht zu hal­ten – in ein­er Art von gelebtem Rel­a­tivis­mus. Es gibt keine Kun­st­form des heuti­gen Main­streams, die Dada nicht schon erfun­den hätte: Hap­pen­ing, Ready Made, Instal­la­tio­nen, Col­la­gen, Mon­ta­gen; im Film reicht das bis zur heuti­gen Videokun­st, beim Tanz bis zu Pina Bausch. Selb­st die heutige Weltkun­st nahm Dada mit seinem Inter­esse für den ‚Prim­i­tivis­mus‘ vor­weg. Dada war die erste Begeg­nung mit den Aus­prä­gun­gen unser­er gegen­wär­ti­gen Zivil­i­sa­tion, aber das noch in aller Frische. So ähn­lich wie bei den Vor­sokratik­ern in ihrer Zeit.

Shep­pard brachte mich mit den Expo­nen­ten von Dada in Kon­takt. So nahm er mich zu einem gewis­sen Wil­helm Simon Guttmann mit, der ein­er der Gäste bei der Eröff­nung des Cabaret Voltaire 1916 gewe­sen war. Guttmann betrieb da mit 103 Jahren noch immer ein Foto­stu­dio in der Oxford Street – vor allem war er aber Zeitzeuge. Er hat­te das Neopa­thetis­che Cabaret in Berlin gegrün­det und dabei Georg Heym als Dichter ent­deckt und später mit Majakows­ki in Moskau gear­beit­et. Ihm zu begeg­nen war wie ein Hand­schlag mit dem 19. Jahrhun­dert. Ich begann mich darauf aus­führlich­er mit Wal­ter Sern­er, dem Öster­re­ich­er unter den Dadais­ten zu beschäfti­gen und fand schnell her­aus, dass ein­er der Paris­er Dadais­ten noch lebte: Philippe Soupault. Also fuhr ich nach Paris, brauchte aber, um so mir nichts, dir nichts bei ihm ein­fach aufzu­tauchen, irgen­deinen Vor­wand.

KLEIN Der ging wie?

SCHROTT Sern­er hat­te Soupault irgend­wann im April 1920 an einem Nach­mit­tag in Genf getrof­fen. Es war mir natür­lich klar, dass er sich wohl kaum mehr daran erin­nern würde. Außer­dem hat­te er es da bere­its längst satt, über seine Jugend­jahre mit dem Dadais­mus zu sprechen, als hätte er son­st nichts geleis­tet. Er ver­lieh mir großzügig den Titel seines Sekretärs – ich ord­nete seinen Nach­lass, kochte für ihn und seine Frau Re, putzte, ging einkaufen, stellte Fra­gen und hörte vor allem zu. Für mich aber war eben­so wichtig zu sehen, wie er als Men­sch war. Was sind Dichter, was muss man dafür wis­sen, welche Per­son muss man sein, welchen Blick muss man haben – das sind Dinge, die einen kein­er lehrt, die man sel­ber erfahren muss. Das Auratis­che, mit dem man son­st gerne die Poe­sie verk­lärt, war mir stets sus­pekt. Soupault brachte mich dann auch in die Paris­er Bib­lio­thek Doucet, in der der gesamte Nach­lass der Dadais­ten und Sur­re­al­is­ten auf­be­wahrt wird. So begann ich dort über Sern­er zu forschen, dessen Krim­i­nalgeschicht­en mir damals gefie­len. Dazu hat­te es mir seine Let­zte Lockerung – Ein Hand­bre­vi­er für Hochsta­pler ange­tan.

KLEIN Sie haben also eine Vor­liebe für Hochsta­pler?

SCHROTT Nicht, weil ich mich sel­ber als solchen sehe – obwohl ich wün­schte, ich hätte dessen Ele­ganz und Leichtigkeit –, son­dern weil jedes Kunst­werk, ja jed­wede exis­ten­zielle Sinns­tiftung für mich etwas von einem Karten­haus an sich hat, das man am Rande des Abgrunds errichtet, wo es früher oder später in sich zusam­men­fall­en muss, weil der Wind es einem vom Tisch weht. Für mich verkör­pert die Fig­ur des Hochsta­plers die Erken­nt­nis, dass all unsere Sinnkon­struk­tio­nen – ob moralis­che, philosophis­che oder religiöse – stets rel­a­tiv und let­ztlich absurd sind. Dass jedes Dog­ma und jede Autorität bloß auf Macht beruhen – die der Hochsta­pler auf poet­is­che Weise unter­gräbt. Indem er zugle­ich das Beste an uns darstellt, das Urmen­schliche: das Schelmis­che und När­rische näm­lich. Was mich let­ztlich dazu geführt hat, den schö­nen Schein, Schwindel und Täuschung in allen Bere­ichen zu hin­ter­fra­gen: indem man ihnen auf den Grund geht. Und zwar mit jen­er Gründlichkeit, die einem auch das Lit­er­aturstudi­um beizubrin­gen ver­mag.

KLEIN Der Aufen­thalt in Paris 1985/86 war die Grund­lage für Ihre späteren Büch­er über Dada und das recht exo­tisch klin­gende The­ma Dadais­mus in Tirol?

SCHROTT In den Lit­er­aturgeschicht­en stand damals nicht mehr, als dass die Dadais­ten 1921 und 1922 dort Ferien macht­en. Punkt. Ich kon­nte im Archiv dann ent­deck­en, dass diese Jahre die let­zte frucht­bare Peri­ode Dadas darstell­ten, bevor er sich in Kon­struk­tivis­mus und Sur­re­al­is­mus auf­s­pal­tete. Bei ihren lan­gen Aufen­thal­ten in Tar­renz und Imst passierte eine Unmenge: Max Ernst arbeit­et dort erst­mals jene Total­col­la­gen aus, für die er berühmt wurde. Zusam­men mit Paul Elu­ard ver­fasste er zwei­händig Texte zu seinen eige­nen Col­la­gen, die Unglücks­fälle der Unsterblichen, das als zweites Buch im sur­re­al­is­tis­chen Kanon gilt und in Inns­bruck gedruckt wurde – all das, während Ernst ein Dreiecksver­hält­nis mit Elu­ards Frau Gala hat­te, Bre­ton auf sein­er Hochzeit­sreise vor­beikam und dann auch Freud in Wien besuchte. Hans Arp feierte dort seinen fün­fund­dreißig­sten Geburt­stag. Sie druck­ten dort eine Num­mer der Dada-Zeitschrift Dada au grand air oder Der Sängerkrieg in Tirol. Ein gemein­sames Man­i­fest, „Aufruf zu ein­er let­zten Alpen­ver­gletscherung“, wurde dort eben­so geschrieben wie eines der ersten Stücke absur­den The­aters, Tris­tan Tzaras Gash­erz, das dort aufge­führt wurde. Eine große Zahl von Gedicht­en ent­stand, welche Dadas – bis dahin ein rein urbanes Phänomen – Auseinan­der­set­zung mit der Natur zeigen. Louis Aragon war da, aber auch die ersten Vertreter der amerikanis­chen „Lost gen­er­a­tion“. All das war The­ma mein­er Dis­ser­ta­tion, die ich darauf beim Hay­mon Ver­lag, der damals nur Tyrolen­sien und Kochbüch­er pro­duzierte, als Buch her­aus­brachte: Dada 21/21. Musikalis­che Fis­chsuppe mit Reiseein­drück­en. Wobei ich beim Lay­outen und beim Druck des Buch­es auch meine ersten Erfahrun­gen mit der Gestal­tung von Büch­ern machte.

KLEIN Die welt­berühmten Dadais­ten in Tirol haben Sie mit Lokalpa­tri­o­tismus erfüllt?

SCHROTT Natür­lich! (lacht) Ich war froh gewe­sen, früh aus der Tirol­er Enge wegzukom­men, in Eng­land, Paris und dann in Berlin zu studieren. Dass die größten franzö­sis­chen Dichter nun aber von der Gegend, in der ich aufgewach­sen war, begeis­tert waren, brachte mir sie erst als Heimat näher.

KLEIN Einige der Dadais­ten geri­eten auch auf ide­ol­o­gis­che Abwege – Bre­ton und Aragon ver­beugten sich nach dem Zweit­en Weltkrieg sog­ar vor Stal­in.

SCHROTT Dem jugendlichen Rel­a­tivis­mus Dadas treu zu bleiben, war offen­bar schwierig – offen­bar braucht es mit zunehmen­dem Alter für manche klare ide­ol­o­gis­che Bezugspunk­te. Deshalb war Dada wohl ein zeitlich begren­ztes Phänomen. Manche wur­den Kom­mu­nis­ten, Julius Evola sog­ar Faschist – nur Tris­tan Tzara und Raoul Haus­mann blieben sich treu im Ver­such, in dem per­ma­nen­ten Wech­sel­spiel von Kräften, dem sie sich aus­ge­set­zt sahen, ein immer nur als vor­läu­fig zu erach­t­en­des inneres Gle­ichgewicht zu bewahren.  Solche Para­dox­ien nicht zu negieren, im Bewusst­sein, dass es kein endgültiges Rechts oder Links gibt, dieser Geis­te­shal­tung füh­le ich mich hinge­gen nach wie vor ver­bun­den.

KLEIN Ihre Beschäf­ti­gung mit dem Dadais­mus war lit­er­atur- und kul­tur­wis­senschaftlich­er Natur. Wo lagen die Anknüp­fungspunk­te zum eige­nen Schreiben?

SCHROTT Zunächst musste ich, um das Buch zu verkaufen, daraus vor Pub­likum lesen – was notge­drun­gen an eine Per­for­mance gebun­den war. Das stellte eine ziem­liche Her­aus­forderung dar: ich hat­te ja nicht die ger­ing­ste Erfahrung darin und war dazu eher schüchtern. Alles in allem eine harte, aber lehrre­iche Schule. Daraus wieder ergab sich schnell die Notwendigkeit, auch eigene Texte vorzu­tra­gen – wobei mir die „Wiener Gruppe“ ein zeit­genös­sis­ches Mod­ell bot. Sie zeigte einem eben­falls, wie man sich von Sprache treiben lassen kon­nte, um zu sehen, wie weit man damit kam. Das reichte vom automa­tis­chen Schreiben bis zu dem spielerischen Umgang mit den ver­schieden­sten For­men von Lit­er­atur, wie sie H. C. Art­mann betrieb, der mir mit seinen bre­it­en Inter­essen und sein­er poet­is­chen Luft­gän­gerei mehr als nur imponierte. Ent­ge­gen der ganzen dama­li­gen Suhrkämpfer­ei, die mir als allzu narzis­stisch erschien, wusste er, dass es bei der Dichterei auch darum geht, die vielfälti­gen Tra­di­tio­nen lebendig zu erhal­ten – um erst dann etwas Eigenes fol­gen zu lassen.  Allerd­ings wurde mir bald klar, dass ich mit diesem Ansatz bere­its in drit­ter oder viert­er Gen­er­a­tion das betrieb, was zuvor schon die Sur­re­al­is­ten gemacht hat­ten, und ich damit von vorn­here­in als Epigone das­tand.

KLEIN Sie hat­ten ein Nahev­er­hält­nis zu Art­mann, der Sie wohl auch ein wenig pro­te­gierte?

SCHROTT Pro­te­giert zu wer­den ist so eine Wiener Idee. Ich wüsste nicht, wer mich je pro­te­giert hätte. Hätte ich mich auch ungern lassen. Wichtig für mich war vielmehr, dass Art­mann  mich erstaunlicher­weise schätzte. Vielle­icht weil er sah, dass wir ähn­liche poet­is­che Auf­fas­sun­gen besaßen, ich aber auch in ganz andere  Bere­iche wollte. Meine erste Lesung gemein­sam mit ihm im Standesamt von Inns­bruck, im Gold­e­nen Dachl, war jeden­falls wie ein Rit­ter­schlag für mich. Dabei war er noch aufgeregter als ich, Krawat­te auf und zu, eine Zigarette nach der anderen! Ich dachte, eige­nar­tig – der macht das doch schon seit fün­fzig Jahren. Wir lasen Liebesgedichte – ich einige mein­er ara­bis­chen Über­set­zun­gen und ein paar eigene. Mit ihm das machen zu dür­fen, gab mir eine Bestä­ti­gung, als kön­nte vielle­icht doch noch irgend­wann was aus mir wer­den.

KLEIN Ihre Gedichte entwick­el­ten sich dann aber in eine ganz andere Rich­tung.

SCHROTT Ich ent­deck­te Derek Wal­cott, dessen Mittsommer/Midsummer ich über­set­zte. Er verkör­perte für mich auf exem­plar­ische Weise eine Bildlichkeit, die ich schon von Shake­speare oder den Imag­in­is­ten her mochte – ein Denken in Bildern,  das eine klare Sprache als Vehikel dafür ein­set­zte. Nichts Obskures wie bei Celan, son­dern eben­so diskrete wie musikalis­che Sätze, um Bilder zu tra­gen und damit Real­itäten auf poet­is­che Weise wiederzugeben. Darüber fing ich an, mich nun auch handw­erk­lich mit dem zu befassen, was ein Gedicht ist, welche Mit­tel es ein­set­zt, zu welchem Ziel und Zweck. Über die sur­re­al­is­tis­chen Sprach­spi­ralen und Wortkaskaden hat­te ich gel­ernt, mir die Freiräume des Imag­inären zu erar­beit­en – aber ich wollte mit ihren Mit­teln auch die Welt um mich abbilden. Wenn eine Häuser­fas­sade rot ist, dann nicht bloß eines Reimes willen, son­dern weil sie es wirk­lich ist. Ich wollte die Bedeu­tun­gen dessen erfassen, was uns umgibt. Um die Welt auf einen dich­ter­ischen Punkt zu brin­gen – mit den Koor­di­nate­nach­sen von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart.

KLEIN Nach Ihrem ersten Roman Finis ter­rae, mit dem Sie beim Bach­mann-Preis Erfolg hat­ten, erschien Mitte der 1990er-Jahre Die Erfind­ung der Poe­sie. Das Buch wurde zur Sen­sa­tion und machte Sie schla­gar­tig bekan­nt. Wie kam es dazu?

SCHROTT Ich wollte ein­fach wis­sen, was Poe­sie ist, woher ihre Aus­drucksmit­tel kom­men, und wozu sie dienen. Und zwar auch deshalb, weil damals, als ich zu schreiben begann, der Reim als reak­tionär galt, das Sonett als „beschissen“, wie es Robert Gern­hardt for­mulierte, und eine Gene­tivmeta­pher als nicht erlaubt. Für mich waren das alles Pos­tu­late, deren Gründe mir wenig nachvol­lziehbar erschienen. Also fragte ich mich, wer hat das Gedicht eigentlich erfun­den und wozu? Das hieß, zurück zu den Quellen gehen, um beispiel­sweise her­auszufind­en, dass der erste  uns bekan­nte Dichter ein Sumer­er war – und dazu eine Frau. Und dann ging es von den Griechen, Römern und Arabern über die irischen Mönche bis ins 14. Jahrhun­dert. Ich hat­te da ein­er­seits die Kom­para­tis­tik im Hin­ter­grund, ander­er­seits die Auf­fas­sung, dass Lit­er­atur immer auch „Ahnen­di­enst“ darstellt, wie es Arno Schmidt ein­mal nan­nte. Dass nicht die eigene sub­jek­tive Großar­tigkeit in erster Lin­ie zählt, son­dern der Ver­such, die Tra­di­tion der Poe­sie für sich zu verkör­pern und sie weit­erzu­tra­gen Die Erfind­ung der Poe­sie war also eine Art Gesel­lenar­beit.

KLEIN Hat Sie die große Res­o­nanz gar nicht über­rascht – „Gedichte aus den ersten vier­tausend Jahren“, das klang nicht ger­ade zeit­geistig? Ähn­lich erg­ing es Ihnen dann mit den Homer-Büch­ern – der Über­set­zung der Ilias und der Neu­veror­tung von Tro­ja.

SCHROTT Der Erfolg hat mich tat­säch­lich erstaunt. Das gilt auch für die Res­o­nanz auf Homer. Das deutsche Bild Homers war da noch immer von ein­er rein ide­ol­o­gis­chen Auf­fas­sung geprägt, die ihn für ihre bil­dungs­bürg­er­lichen Zwecke instru­men­tal­isierte. Man wollte in ihm bloß den großen Genius sehen, der den Beginn Europas sym­bol­isierte, ohne irgendwelche Abhängigkeit­en von den Kul­turen des Nahen und Mit­tleren Ostens wahrhaben zu wollen. Eine auch lit­er­atur­wis­senschaftlich völ­lig ver­staubte Sichtweise. Mich inter­essierte Homer aber als Schrift­steller in sein­er Zeit, als Kol­lege gewis­ser­maßen. Dazu kommt, dass es bei den Dichtern, von denen ich am meis­ten gel­ernt habe – Pound, Heaney, Brod­sky oder Nabokov etwa – nor­mal war, dass man seine Vorgänger über­set­zt. Es gehört nicht nur zum Beruf­sethos eines Dichters, im angel­säch­sis­chen Raum war es auch selb­stver­ständlich, Gedichte auf poet­is­che und nicht nur philol­o­gis­che Weise zu über­set­zen. Während der deutsche Lit­er­aturbe­trieb die Aufrechter­hal­tung der poet­is­chen Tra­di­tio­nen weit­er­hin viel zu sehr den Uni­ver­sitäten über­lässt. Ohne deren Arbeit lassen sich die alten Texte nicht erschließen – das habe ich bei mein­er akademis­chen Aus­bil­dung gel­ernt. Auf dieser Basis kann erst die Über­set­zung eines Gedichts, die selb­st ein Gedicht ist – wie Enzens­berg­er ein­mal sagte –, dem Orig­i­nal gerecht wer­den. Wobei sich ger­ade dadurch auch jene unter­schiedlichen Inter­pre­ta­tio­nen ergeben, welche die Kun­st der Poe­sie über die Jahrhun­derte hin­weg am Leben erhal­ten. Wie das bei der Musik gang und gäbe ist: auch da zählt die Auf­führung­sprax­is, die eine reine Par­ti­tur erst zum Leben erweckt.

KLEIN Ist Bil­dungs­bürg­er­tum oder zumin­d­est das human­is­tis­che Gym­na­si­um nicht ohnedies die Voraus­set­zung, um den Poeta doc­tus Raoul Schrott zu lesen?

SCHROTT Mir ist bil­dungs­bürg­er­liche Arro­ganz fremd. Ich bin wed­er mit diesem Anspruch aufgewach­sen, noch bringt er einen aus seinem Elfen­bein­turm. Intel­li­genz und Wis­sen sind das eine: doch erhal­ten sie erst Bedeu­tung, wenn sie rel­e­vant wer­den kön­nen. Und das bedarf ein­er gewis­sen Boden­ständigkeit. In meinem intellek­tuellen Umfeld musste man die Dinge erk­lären, zeigen, dass man sie begrif­f­en hat­te. Sinnkon­struk­tio­nen als sprach­liche Architek­turen lassen sich leicht auf dem Blatt erstellen – aber sie tra­gen erst, wenn man sie auch erden kann. Namen, Ver­weise, Anspielun­gen nur irgend­wie urban fall­en zu lassen, wirkt auf mich bloß lächer­lich – was zählt, ist das Argu­ment. Nicht das Bil­dungsgut an sich ist von Bedeu­tung, son­dern seine Anwend­barkeit auf die Wirk­lichkeit – und seine poet­is­che Qual­ität. Ich mochte die elitäre Bil­dung­shu­berei auch bei Ezra Pound nie: diese Hal­tung, dass erst ein eingewei­ht­es Pub­likum die eige­nen Pro­duk­tio­nen goutieren kann. Als Schrift­steller startet man ja auch meist bei ein­er Posi­tion des Nicht-Wis­sens, um sich durch das Schreiben und die Recherche etwas zu erschließen. Ich habe mich dabei noch nie für klüger als meine Leser gehal­ten – ich habe ihnen jedes­mal nur mein Inter­esse für bes­timmte Dinge voraus. Vielle­icht ist dieser Anspruch zu demokratisch, aber ich empfinde all das Rauf­schie­len zum Auratis­chen als eben­so kon­trapro­duk­tiv wie das anmaßende Her­ab­schauen von Kri­tik­ern. Taugt Lit­er­atur was, dann will sie in Augen­höhe ver­han­delt wer­den. Aber dazu gehört eben auch, dass sie eine jahrhun­dertealte human­is­tis­che Tra­di­tion besitzt – die es wert ist, immer wieder neu belebt zu wer­den. Weil sie uns etwas über den Men­schen sagt. Schreiben war für mich immer eine Möglichkeit, Erken­nt­nisse über die Welt, die Natur und den Men­schen zu gewin­nen – das ist das Span­nende daran. Wäre es anders, würde ich mich nicht jeden Tag hin­set­zen.

KLEIN Das Tro­ja-Buch erfuhr teil­weise harsche Kri­tik. Sie mein­ten dazu, keines der Argu­mente überzeuge Sie. Bisweilen reicht die Kri­tik an Ihren Büch­ern bis zur Gehäs­sigkeit – ist Ihnen das egal?

SCHROTT Lit­er­atur ist im Wesentlichen immer – selb­st wenn sie kafkaesk auftritt – Aus­druck eines Selb­st­be­wusst­seins. Sie hin­ter­fragt und durch­denkt die Dinge jedes­mal neu. Warum man mir das, wie bei mein­er Homer-The­o­rie – die nach wie vor die Plau­si­bel­ste ist, auch weil sie die Forschun­gen sei­ther zunehmend bestätigt – als Arro­ganz auslegt, ist wohl nur dadurch zu erk­lären, dass man durch neue Sichtweisen wohl oder übel über­holte Dog­men aushe­beln muss. Aber darin steckt keine Über­he­blichkeit, son­dern viele harte Grund­la­ge­nar­beit. Natür­lich kann man sagen – „Viel Neid, viel Ehr“. Aber es gibt noch ein wichtiges anderes Moment: Lit­er­atur hat ganz all­ge­mein etwas Anar­chis­ches. Ety­mol­o­gisch gese­hen bedeutet das – es gibt kein erstes Gesetz, kein ober­stes Prinzip. Jedes Buch verkör­pert etwas Eigenge­set­zlich­es. In der öster­re­ichis­chen und deutschen Lit­er­atur rech­net man sie allzu sim­pel diversen Strö­mungen oder poli­tis­chen Lagern zu und unter­stellt sie einem präskrip­tiv­en ethis­chen Denken. Im Gegen­satz dazu war Lit­er­atur für mich stets mehr die Beschäf­ti­gung mit den Abgrün­den des Men­schen, eher Anthro­polo­gie im eigentlichen  Sinn. Dadurch erhält die Lit­er­atur aber auch etwas A-Moralis­ches – das merkt immer wieder auch daran, wie rasch man auf Tabuthe­men stößt.

KLEIN Kom­men wir zu Ihrem jüng­sten Buch Erste Erde. Wie lange haben Sie an diesem Epos plus wis­senschaftlichem Anhang gear­beit­et?

SCHROTT Sieben Jahre.

KLEIN Sie begin­nen mit einem Weltschöp­fungsmythos der Maori und einem spek­takulären Abstieg in eine Höh­le: „im anfang war das nichts“. Wie viel Angst steckt in den 840 Seit­en – der Kos­mos als Abgrund ist ein zen­traler Gegen­stand Ihres neuen Buch­es.

SCHROTT Ist nicht jedes Buch eine Revolte gegen den Tod? Und der Ver­such, die Angst davor zu über­winden, indem man einen Bezug zur Welt her­stellt? Das Buch ist jeden­falls aus einem zutief­st pri­vat­en und exis­ten­ziellen Bedürf­nis her­aus ent­standen. Ich wollte ein­fach wis­sen, bevor ich sterbe, wo ich da war und was da ist – nicht auf­grund ein­er Reli­gion, son­dern auf der Grund­lage dessen, was wir aktuell darüber wis­sen. Mythen stellen dabei die ersten Aus­prä­gun­gen unser­er kul­turellen Denkmuster dar – die sich dann dur­chaus auf das natur­wis­senschaftliche Denken auswirken. Die Idee des Urk­nalls beispiel­sweise als cre­atio ex nihi­lo ist dabei auch schon in der Bibel präsent und gelangt über Augusti­nus und den Priester und Physik­er Lemâitre schließlich auch in die Physik.

KLEIN Das klingt vor­erst ein­mal recht faustisch!

SCHROTT Hat­te aber nicht das ger­ing­ste mit schrift­stel­lerisch­er Selb­st­darstel­lung oder Groß­mannssucht zu tun. Und dazu war diese Form der Auseinan­der­set­zung mit der Welt auch eine sehr lustvolle! Das Wis­sen öffnet einem ja ganze Wel­ten, von denen man vorher entwed­er kaum etwas geah­nt oder nur wenig begrif­f­en hat – vom Urk­nall über die Bil­dung der chemis­chen Ele­mente in den Son­nen; den Min­er­alien, die als Katalysatoren für die Entste­hung des Lebens wirk­ten; welche For­men des Lebens es über­haupt gibt; wie weit man beim Blick in den Nachthim­mel zurück in die Ver­gan­gen­heit sehen kann … Es tut sich eine solche Fülle von Erschei­n­ungs­for­men auf, die einem ein­er­seits zeigen, wie winzig wir sind in diesem gle­ichgülti­gen und leeren Uni­ver­sum – und wie sehr doch zugle­ich  Teil von ihm und mit ihm ver­bun­den. Es gibt so viele Zugänge und Aspek­te, dass ich mich nach wie vor frage: Wie geht das alles unter einen Hut? (lacht)

KLEIN In den sieben Büch­ern, in denen auch unter­schiedlich­ste lit­er­arische Gen­res durchge­spielt wer­den, treten zahlre­iche Wis­senschaftler als Ihre Ref­er­enten auf. Den größten Bogen beschreibt dann Raoul Schrott selb­st. Der Weg führt qua­si vom Nichts bis zur Heimkehr in die Alpen.

SCHROTT Ich wollte beim Urk­nall anfan­gen und mich an einem roten Faden über die Entste­hung der Erde, des Lebens und des Men­schen bis zu mein­er aktuellen Heimat im Bre­gen­z­er­wald hin­schreiben. Dabei aber hat sich mein Blick auf die Welt und den Men­schen mehr als je zuvor verän­dert.

KLEIN Inwiefern?

SCHROTT Ein ein­fach­es Beispiel: Die Tirol­er Berge waren für mich ewig, immer schon da, totes Gestein, fern, fremd. Das, wozu ich werde, wenn ich sterbe. Ich bin etwas kur­zlebig Organ­is­ches, die Berge das anor­gan­isch Tote. Einen größeren Gegen­satz schien es nicht zu geben. Inzwis­chen weiß ich – wenn ich auf das Kar­wen­del schaue, dass es sich um sed­i­men­tiertes Plank­ton han­delt, das sich etwa mit einem Zen­time­ter in hun­dert Jahren abge­lagert hat. Es sind also gar nicht so viele Jahrmil­lio­nen, die man da vor seinen Augen aufra­gen sieht. Und ich weiß, dass ich aus diesem Plank­ton her­vorge­gan­gen bin. Das holt diese Berge plöt­zlich nahe.

KLEIN Aber Sie sind ja trotz­dem nicht nur Plank­ton!

SCHROTT Mir geht es dabei um etwas anderes. Auch von einem 135 Mil­lio­nen Jahre alten Berg bleibt am Ende gar nichts übrig. Vom größten Gebirge, das es je gab, ist heute der Sock­el des Harz übrig. Auch das Ewige der Berge ist nicht ewig und dadurch entwick­elt man einen anderen Bezug. Ich schaue aus dem Fen­ster und sehe, das ist ein Riff. Was ich mir erk­lären kann, schafft ein Nahev­er­hält­nis – das ich so vorher nicht kan­nte. Andr­er­seits bin ich natür­lich kein Plank­ton – was mich wieder in die Ferne rückt. In diesem Oszil­lieren zwis­chen Ferne und Nähe, Frem­dem und Eigen­em liegt eine unau­flös­bare Span­nung, die ich als höchst lebendig empfinde. Man kann die Wider­sprüche nicht aufheben, es sei denn, in ein­er Reli­gion, die alles in ihrer Sta­tik auflöst, oder in ein­er Ide­olo­gie, die von Vorn­here­in nur als begren­zt anzuse­hen ist.

KLEIN Ihr Ansatz ist gle­icher­maßen enzyk­lopädisch wie exis­ten­zial­is­tisch grundiert.

SCHROTT In ein­er Buch­hand­lung find­en sich Tausende, auf ein­er Buchmesse Hun­dert­tausende Büch­er, die sich stets nur mit dem Allzu­men­schlichen beschäfti­gen – als hät­ten wir nicht längst genug von solchen Selb­st­be­spiegelun­gen. Büch­er über die Natur gibt es, abge­se­hen von Foto­bän­den und eini­gen wis­senschaftlichen Pub­lika­tio­nen, rel­a­tiv wenige. Als wäre das nicht die Bühne, auf der all die Fig­uren dieser Fik­tio­nen agieren! Und dabei gibt es prak­tisch keine Büch­er, die auf zeit­gemäße und lit­er­arische Weise ver­suchen, jene Beziehung zwis­chen Men­sch und Welt herzustellen, welche die eigentliche ety­mol­o­gis­che Bedeu­tung von „re-ligio“ ist: näm­lich die Rück­bindung des Sub­jek­ts,  Es gibt zwar die bib­lis­che Gen­e­sis, die im 6. Jahrhun­dert vor Chris­tus geschrieben wurde  und damals sozusagen auf dem neuesten wis­senschaftlichen Stand war – aber inzwis­chen unret­tbar über­holt ist. Und selb­st in Alexan­der von Hum­boldts Kos­mos ist kaum je vom Men­schen  und seinen möglichen Beziehun­gen zur Welt die Rede. Das Enzyk­lopädis­che und das Exis­ten­zielle sind da nur zwei Seit­en der­sel­ben Münze.

KLEIN Sie muten der Lit­er­atur damit ziem­lich viel Empathie zu.

SCHROTT Die Lit­er­atur wie alle anderen Kün­ste lebt doch ger­ade von der Empathie zu den Din­gen, die uns umgeben. Dabei aber scheinen wir inzwis­chen in völ­lig selb­st­bezüglichen Sphären zu existieren. In ein­er Art in sich abgeschlossen­er Schneekugel­welt – innen der Stephans­dom, und wenn man schüt­telt, dann schneit es. Das funk­tion­iert aber bloß auf Basis unseres Wohl­standes – sobald der weg­bricht, wird die Notwendigkeit ein­er Anbindung an die Welt größer. Mein Epos bezieht sich deshalb nicht nur darauf, was wir – in all der bish­er noch nie dagewe­se­nen Fülle – über die Natur wis­sen, son­dern auch welche Hal­tun­gen und Posi­tio­nen sich auf­grund dieses Wis­sens für einen ergeben kön­nen.

KLEIN Die ein­fach­sten Fra­gen sind die schwierig­sten! Ihre Fragestel­lung ist aber nicht so neu: Sie erwäh­nen selb­st die Zwei Kul­turen von C. P. Snow, der in den 1950er-Jahren das Auseinan­derk­laf­fen von Natur- und Geis­teswis­senschaften und das man­gel­nde Inter­esse bei den Dichtern an Wis­senschaft beklagte. Inwiefern ist Erste Erde eine Syn­these der bei­den Sichtweisen? Sie haben gle­ich­sam zur Illus­tra­tion eine Rei­he von Fig­uren einge­führt, die sich mit den jew­eili­gen Prob­le­men wis­senschaftlich befassen.

SCHROTT Ich wusste von vorn­here­in, dass ich nicht ein­fach über mich selb­st schreiben kann, so nach dem Mot­to: ich und der Urk­nall, ich und die Entste­hung des Lebens. Das geht nicht – auch weil ich mich nicht in dem Über­maß für mich selb­st inter­essiere. Ich brauche Fig­uren, in die ich schlüpfen kann, um durch sie die Welt jedes­mal neu, anders zu sehen. Dazu bedarf es Per­so­n­en, für die das Wis­sen, über das sie ver­fü­gen, etwas Selb­stver­ständlich­es ist. Es ging mir dazu nicht um die reine lyrische Darstel­lung von Wis­sen, son­dern auch um die Frage, was macht dieses Wis­sen mit den jew­eili­gen Men­schen? Welchen Blick auf die Welt bekommt man, sobald man dieses oder jenes über Kos­molo­gie, Chemie oder Evo­lu­tion weiß. Wie sieht man die Aggres­siv­ität des Men­schen als Rep­tilien­forsch­er und wie als Pri­ma­tologe? Wie stellt sich das Leben dar, wenn ich über seine Ursprünge Bescheid weiß? Wie sehen wir uns, wenn wir erken­nen, dass wir von Schwäm­men abstam­men – oder dann vom Lun­gen­fisch? Wie begreifen wir uns, wenn wir uns durch die Entste­hung der Pflanzen ein­er völ­lig anderen Lebens­form gegenüber sehen? Welche Welt­bilder entste­hen dadurch? Um so etwas darstellen zu kön­nen, muss das jew­eilige Wis­sen jedoch einen Sitz im Leben haben – in Fig­uren, durch die das Wis­sen anschaulich wird, mit denen sich Geschicht­en verknüpften: kurz in ihren Biografien und Leben­sum­stän­den. Nur so wird etwas in aller men­schliche Bre­ite für uns nachvol­lziehbar. Deshalb beste­ht das Buch, wenn Sie so wollen, aus vie­len eigen­ständi­gen Kurzro­ma­nen.

KLEIN Es treten unter anderem Physik­er auf, Astronomen, Bio­chemik­er, eine Anthro­polo­gin – die Schau­plätze von Erste Erde sind über die ganze Welt ver­streut. Bisweilen wird man als Leser leicht über­fordert.

SCHROTT Wird man der Welt gerecht, wenn man sie so sim­pli­fiziert, dass sie sich in der U-Bahn zwis­chen ein paar Sta­tio­nen lesen lässt? Ich glaube nicht. Das Grandiose am Uni­ver­sum ist ger­ade seine Kom­plex­ität, die jed­wede dich­ter­ische Fan­tasie weit über­steigt. Das habe ich ver­sucht, anschaulich wer­den zu lassen und so gut es geht auch zugänglich und durch­schaubar zu machen. Darin bestand eine der Anstren­gun­gen des Schreibens: sie dem Leser möglichst durch­dacht nahezubrin­gen. Dabei aber zu sim­pli­fizieren ist wie Pop­ulis­mus in der Poli­tik: über­mäßige Vere­in­fachung ver­fälscht die Dinge bis zur Unken­ntlichkeit. Aber ich habe ver­sucht, einen roten Faden durch dieses Labyrinth zu find­en: indem ich mich auf die wesentlichen Sta­tio­nen des Uni­ver­sums und sein­er Evo­lu­tion hin zum Leben und zu uns beschränke: auf Orte, die dafür ste­hen kön­nen, auf einzelne wichtige Fund­stellen und die Men­schen dahin­ter.

KLEIN Wer­den in diesen Fig­uren die Masken des Rel­a­tivis­mus abso­lut geset­zt – oder verkör­pern sie dabei auch uni­verselle Geset­ze?

SCHROTT Die Fig­uren erlauben mir, zu skizzieren, welche Posi­tio­nen sich gegenüber der Welt ein­nehmen lassen. Ein­er glaubt an Gott, ein ander­er nicht, der näch­ste sieht ihn ganz in der Natur aufge­hen, der übernäch­ste will mit ihm nichts zu tun haben, selb­st wenn es ihn gäbe. Die dadurch sich ergeben­den moralis­chen Hal­tun­gen durchzus­pie­len, machte auch die Lust beim Schreiben aus – erst dadurch wird das Buch ja zur Lit­er­atur. Andern­falls wäre es nur eine mod­erne Form von Lukrez’ De rerum natu­ra, wo man halt Wis­sen lyrisch verblümt auf­bere­it­et wiederfind­et. Ich selb­st tauche nur dort auf, wo es sich nicht lohnte, eine Fig­ur zu erfind­en. Was die Wis­senschaften dabei aber lehren, ist, dass es keine wirk­lich let­zten Dinge, kein endgültiges Fun­da­ment gibt – keine The­o­rie von Allem, sosehr man sie sich auch erhofft.

KLEIN Sie führen einen rel­a­tiv lei­den­schaftlichen und wortre­ichen Kampf gegen das Chris­ten­tum.

SCHROTT Wenn, dann gegen die Dog­men der Reli­gio­nen, die in oder selb­st hin­ter dem Uni­ver­sum ein Wesen pos­tulieren – das noch dazu uns selb­st gle­ichen soll.

KLEIN Das erspart mir die Gretchen­frage.

SCHROTT Ich bin Athe­ist.

KLEIN Ein Kind, das in einem Kuh­stall am Rand des römis­chen Imperi­ums geboren wird und später als Ret­ter der Welt auftritt, das berührt Sie nicht?

SCHROTT Nein. Nicht ein­mal in der Verblendung ein­er his­torischen Fig­ur, die gewis­ser­maßen als Che Gue­vara von damals auf­trat – um dann für eine Idee zu ster­ben, für die es sich allein zu leben lohnt. Ich wollte, ich wäre ganz ohne diesen kul­turellen Bal­last aufgewach­sen, der einem den Blick auf die Welt ver­stellt, den man immer erst für sich über­winden muss, um sie unvor­ein­genom­men zu sehen. Dabei haben mich jedoch stets Bibel wie Koran als Lit­er­atur inter­essiert – inwieweit sie über unsere Begier­den etwas aus­sagen. Die so berechtigt sind wie es zugle­ich naiv ist, zu glauben, sie wür­den sich je durch die Welt erfüllen lassen. Aber auch, weil die Poe­sie ja aus der Reli­gion kommt, ihre Sprache in ihr entwick­elt hat.

KLEIN Hat das für einen Dichter spezielle Fol­gen?

SCHROTT Es bedeutet zumin­d­est nicht, dass ich ein rein­er Mate­ri­al­ist oder Pos­i­tivist wäre. Als Dichter pro­duziert man ja per­ma­nent Tran­szen­den­zen, Meta­ph­ysis­ches, wörtlich: Über-das-Physis­che-Hin­aus­ge­hen­des. Das ist an einem ein­fachen Beispiel leicht zu zeigen. Wir wis­sen alle, was Erde ist – man muss nur in einen Blu­men­topf greifen. Eine Orange find­et sich in ein­er Fruchtschale. Und was „blau“  ist, dazu genügt, auf den Him­mel zu zeigen. Wenn ich diese Ele­mente zu Paul Élu­ards Meta­pher „Die Erde ist blau wie eine Orange“ verbinde, dann erhalte ich aber ein Bild, das nicht ein­mal mehr per Pho­to­shop darstell­bar wird. „Die Liebe ist eine Rose“ ist eben­falls eine – wenn auch abge­grif­f­ene – Meta­pher. Auch sie demon­stri­ert, dass der Ver­gle­ich von zwei Din­gen miteinan­der struk­turelle Ähn­lichkeit­en erken­nen lässt und dabei einen Bezug zu etwas Frem­dem her­stellt  – die Natur in diesem Fall. Darin liegt bere­its genug Tran­szen­denz und Meta­physik. Dich­tung zeigt, wo diese Meta­physik begin­nt – bei der Kop­pelung von zwei Worten. Dabei entste­hen ver­schieden­ste Wider­sprüche, Ambivalen­zen, die aber – anders als in der Reli­gion – offen­ge­lassen wer­den und sich nicht in der erlösenden Fig­ur eines Gottes umfassen lassen. Anders als in der Reli­gion tritt bei ihr das Brüchige und Ris­sige unser­er huma­nen Sinnkon­struk­tio­nen klar zutage – und ger­ade das bringt eine Span­nweite und Span­nungs­bre­ite in unser Denken ein. Wech­sel­nde Posi­tio­nen, in denen sich über Wahrheit ver­han­deln lässt – sowohl intellek­tuell wie emo­tion­al. Während die Idee Gottes ihren zivil­isatorischen Erfolg daraus bezieht, dass sie all das Para­doxale auf ein men­schlich­es Agens vere­in­facht. Im Ver­gle­ich zum unmen­schlichen, grandiosen, majestätis­chen, kalten, leeren Uni­ver­sum finde ich die Idee Gottes ...

KLEIN Läp­pisch?

SCHROTT Läp­pisch klingt zu arro­gant. Das wäre nur meine eigene Reak­tion. Es wird ja auch in jedem Gedicht eine Art von Meta­physik betrieben: Das Gedicht kon­stru­iert jedoch bloß für einen speziellen Moment Sinn, in der Total­ität eines Zusam­men­hangs, die sich nor­maler­weise im All­t­ag nicht so leicht erschließt. Lit­er­atur und Reli­gion sind also nicht ganz weit voneinan­der ent­fer­nt: Man muss nur daran erin­nern, dass Reli­gion ursprünglich Lit­er­atur war, die dann für dog­ma­tisch erk­lärt wurde. Poe­sie hat sich wiederum aus diesen religiösen For­men entwick­elte und wurde nach und nach über Jahrhun­derte wieder selb­st­ständig und säku­lar. Würde ich an Gott glauben, hätte ich so ein Buch wohl kaum geschrieben. Und wüsste auch nicht, wie Gott und das natur­wis­senschaftliche Welt­bild noch zusam­menge­hen soll­ten. Das hat sich auch kür­zlich bei einem lan­gen Gespräch für die FAZ mit einem Jesuit­en erwiesen, der zugle­ich Physik­er ist. Dabei wurde völ­lig klar, dass wir unsere katholis­chen Vorstel­lun­gen eines Him­mels und ein­er Hölle, von Aufer­ste­hung und ewigem Leben, einem Gott als strafend­er Autorität, der unser Gebete erhört oder seinen Sohn als Sün­den­bock schickt ad acta leg­en müssen. Gott kann nur noch als abstrak­te Pri­ma Causa aufge­fasst wer­den – sozusagen vor und hin­ter jedem Urk­nall. Doch was erk­lärt eine solche Idee Gottes noch, wenn sie der­art unper­sön­lich aufge­fasst wer­den muss? Wenn wir nicht ein­mal die Gründe für den Urk­nall begreifen kön­nen, wozu dann die Idee Gottes ein­führen? Geschweige denn, dass diese Art der Reli­gion über­haupt nichts mehr mit den Kon­fes­sio­nen zu tun hat, denen die Men­schen heute anhän­gen. Das wäre dann eine völ­lig neue Sek­te.

KLEIN Von ein­er Ihrer Expe­di­tion­sreisen brin­gen Sie einen Mete­oriten mit, den Sie vor­erst auf Ihrem Bücher­re­gal able­gen. Später heißt es, Sie wür­den ihn eines Tages Ihrer Tochter schenken. Der Mete­orit fungiert dabei als eine Art Sym­bol dafür, dass kein­er­lei Reli­gion von­nöten ist. Was ist, wenn Ihre Tochter nun doch in den Reli­gion­sun­ter­richt gehen will?

SCHROTT Das tut sie ohne­hin, weil sie es in der Volkschule so wollte, eigentlich aber nur der anderen Kinder wegen. Inzwis­chen kommt sie sel­ber darauf, dass da manch­es nicht stim­men kann. Mir geht es dabei nicht um eine Ent­ge­genset­zung von Lit­er­atur und Reli­gion. Die aggres­sive Reli­gion­skri­tik eines Richard Dawkins halte ich für  kurzsichtig, schon allein deshalb, weil wir in unser­er Sprache per­ma­nent die Dinge per­son­ifizieren und das Ver­lan­gen nach Meta­ph­ysis­chem men­schlich ist. Oder, um meinen let­zten Gedicht­band zu zitieren: es ist unmöglich, an nichts zu glauben. Auch der Glaube an das Nichts ist ja ein Glaube. Das Tran­szen­dente ist aber schon in unseren kog­ni­tiv­en Struk­turen in uns angelegt, indem wir in Meta­phern und Analo­gien denken. In den Wolken einen Gott zu sehen, der don­nert, ist kein beson­ders großer Schritt – er stellt bere­its das erste wis­senschaftliche Denken dar, indem dabei nach Grün­den dafür gesucht wird. Glauben heißt jedoch, etwas ein­fach zu set­zen. Sagen wir: Traum hat auf­grund seines Klanges etwas mit Baum zu tun. Also sage ich: Träume wach­sen auf Bäu­men, es muss also einen Traum­baum geben. Das mag ein erster Ansatz sein, um über Sprache und Ursachen zu reflek­tieren. Aber das Wis­sen, das wir mit­tels solch­er Denkbe­we­gun­gen erlan­gen, erschließt uns dann aber ganz andere Aspek­te. Die so schrit­tweise in sich schlüs­sig sind und aufeinan­der auf­bauen kön­nen.  Die Wis­senschaft nimmt keine solchen Set­zun­gen vor, son­dern kon­stru­iert in per­ma­nen­tem Hin­ter­fra­gen eine Welt auf­grund ratio­naler und über­prüf­bar­er Mit­tel – um  let­ztlich zu densel­ben Mys­te­rien zu gelan­gen. Das Rät­sel wird der Welt dadurch nicht genom­men: aber es wird ein Zugang dazu hergestellt, der all unsere Fähigkeit­en umfasst, die ratio­nalen wie die irra­tionalen. Auch die poet­is­chen: denn Wis­senschaft wie Poe­sie basieren let­ztlich auf einem Analo­giedenken. Eine Meta­pher ist eine Gle­ichung, die sagt, dass unter bes­timmten Voraus­set­zun­gen x  gle­ich y ist. Das selbe tut die Formel E = mc2. Bei­des baut auf anal­o­gis­chem Denken auf.

KLEIN Kurz gesagt – wer Wis­senschaft und Kun­st hat, der hat auch Reli­gion. Wer bei­de nicht hat, der habe Reli­gion, wie schon Goethe meinte.

SCHROTT Ja. Meine Beschäf­ti­gung mit den Natur­wis­senschaften kommt dabei auch aus der Poe­sie. Die Hälfte der geschriebe­nen Gedichte beste­ht ja nach wie vor aus Naturlyrik – um jedoch eine Weltauf­fas­sung weit­erzu­tra­gen, die immer noch größ­ten­teils roman­tisch geprägt ist. Sie stellt eine zeichen­hafte Natur dar, wie sie etwa Peter Huchel oder Paul Celan sah. Will man das nicht blind weit­er betreiben, muss man sehen ler­nen und dabei  auch berück­sichti­gen, was wir heute über die Natur wis­sen. Dann taucht automa­tisch auch die Quan­ten­physik des Lichts oder die physikalis­che Optik auf. Ich weiß nicht, wie viele Hun­dert­tausend Gedichte über Son­nenun­tergänge es gibt, obwohl jed­er weiß, dass die Sonne nicht unterge­ht. Gle­ichzeit­ig kenne ich kein Gedicht, das schildert, dass sich die Erde dabei von der Sonne weg­dreht, die so unter den Hor­i­zont gerät – weshalb man hin­ter sich den Erd­schat­ten auf­steigen sehen kann. Diese Über­legung hat mir neue Sichtweisen eröffnet – die auch poet­isch nutzbar sind. 

KLEIN Hein­rich von Kleist sprach in einem Frag­ment von zwei Grup­pen von Men­schen – die eine ver­ste­he sich auf Meta­phern, die andere auf Inte­grale. Die Schnittmenge der­er, die bei­des beherrschen, sei zu klein und könne deshalb ver­nach­läs­sigt wer­den. Sie führen – etwa auch in ihrem Buch Gehirn und Gedicht – eine per­ma­nente Auseinan­der­set­zung mit diesem Argu­ment.

SCHROTT Das stimmt so nicht ganz. Schon Robert Musil oder Her­mann Broch haben genau das ver­sucht; das­selbe gilt für Enzens­berg­er, Thomas Lehr oder Ulrich Wölk. Ich bin also nicht der Einzige, der sich für so etwas inter­essiert. Außer­dem ist wohl klar, dass Wis­senschaftler keine ander­s­geart­ete Spezies darstellen. Sie sind in der gle­ichen Zivil­i­sa­tion sozial­isiert und ihre Kreativ­ität ist in ihren Grund­la­gen einem poet­is­chen Denken dur­chaus ver­gle­ich­bar. Jedes wis­senschaftliche Heure­ka, jedes Aha-Erleb­nis rührt aus der Erken­nt­nis, dass etwas wie etwas Anderes ist. Auf einem metapho­rischen Denken also. In Gehirn und Gedicht habe ich ver­sucht, die kog­ni­tiv­en Struk­turen, die dahin­ter­steck­en, ein­mal genauer abzuk­lopfen. Erste Erde untern­immt das eben­falls, nur für andere Gebi­ete. Wobei sich auch da Phänomene von Emer­genz ergeben – das heißt,  so viele rück­bezügliche Schleifen und ineinan­der­greifende Prozesse, dass etwas qual­i­ta­tiv anderes dabei entste­ht: unser Bewusst­sein – oder eben das Leben, das sich schließlich aus den beim Urk­nall ent­stande­nen chemis­chen Ele­menten ergibt. Ohne Meta­phern, die das irgend­wie anschaulich und imag­inier­bar machen, sind wir jedoch gar nicht imstande, zu solchen Erken­nt­nis­sen zu gelan­gen. Let­ztlich sind wir – in einem philosophis­chen Sinne – ohne Meta­phern nicht in der Lage pro­duk­tiv zu denken.

KLEIN Erste Erde ist auch ein Reise­buch, mit allen möglichen Aben­teuern und Gefahren ver­bun­den. Ges­tat­ten Sie eine „touris­tis­che“ Frage: Wo war die Welt am schön­sten, wo am schreck­lich­sten?

SCHROTT Sie war immer wieder anders. Sie war nicht ein­mal schön­er, ein­mal hässlich­er – son­dern anders in ihrer Fremd­heit oder Nähe. Es gab da keine Kon­stan­ten – in Neu­fund­land auf der Suche nach den ersten vielzel­li­gen Lebe­we­sen die Klip­pen abzuge­hen, während es saukalt war und die Gis­cht einem ins Gesicht peitschte, hat­te etwas unheim­lich Wildes – und zugle­ich zutief­st Beein­druck­endes. In Aus­tralien sah ich Stro­ma­tolithen als die alleräl­testen fos­sil erhal­te­nen For­men ersten Lebens. Das bedeutete durch eine unglaubliche Wüste mit einem kaput­ten Auto zu fahren. Und da war auch Angst dabei. Dann sieht man aber ein Stück Strand, an dem noch das Wellen­spiel sicht­bar ist, als sich das Meer vor 3,5 Mil­liar­den Jahren zurück­zog – und steckt plöt­zlich in dieser unvor­den­klichen Zeit. Man kann sog­ar auf den Sand­stein klopfen und der Sand rieselt wieder daraus her­vor. Das sind höchst inten­sive Erfahrun­gen, die man auch nur zu machen in der Lage ist, wenn man sich damit vorher aus­führlich beschäftigt hat. Man hat das Ziel schon monate­lang vor Augen – und kommt dann plöt­zlich an einen Ort, an dem es Mil­liar­den Jahre in die Tiefe geht. Es war über­raschend, erschreck­end, in allen Vari­a­tio­nen. Das eigentlich Erstaunliche ist aber der Umstand, in welchem Maß das Wis­sen einem erst die Dinge aufzeigt. Wüsste man nicht, was man da vor Augen hat, was es bedeutet und darstellt, gin­ge man in der Regel acht­los daran vor­bei.

KLEIN Das let­zte Kapi­tel ist ein Buch in eigen­er Sache. Warum gehen Sie mit Ihrer Heimat so harsch um, während Sie son­st in Sachen Poli­tik eher Zurück­hal­tung üben. Das Ende des Kom­mu­nis­mus blitzt ein­mal am Rand auf, oder auch die Frage „Wer glaubt noch an Geschichte, an Entwick­lung“?

SCHROTT Je näher man sich selb­st kommt, umso konkreter kann man wer­den – vom Urk­nall bis hin zur eige­nen Heimat. Im Buch geht es doch ger­ade um solche Veror­tun­gen im Hier und Jet­zt. Dafür aber die einzel­nen Fig­uren zu ide­ol­o­gisieren, hätte den Zugang zum jew­eili­gen The­ma ver­baut – und wozu solche aufge­set­zte Schrift­stellerkom­mentare pro­duzieren? Aber es gab genü­gend Stellen, an denen der Lek­tor sagte: „Raoul, da musst du vor­sichtig sein. Du kannst die Juden­ver­nich­tung nicht mit dem Genozid in Myan­mar oder mit Pol Pot gle­ich­set­zen.“ Genau auf dieser Ebene argu­men­tiert aber die Pri­ma­tolo­gin – sie zeigt Ähn­lichkeit­en auf, die dur­chaus poli­tisch auswert­bar sind. Das stellt nicht immer meine Überzeu­gun­gen dar – diese Posi­tio­nen entwick­eln sich auch auf­grund der Eigen­dy­namik ein­er Fig­ur. Es ist eine Sache, mögliche Bezüge zur Welt herzustellen und moralis­che Sichtweisen zu skizzieren, und eine andere, diese dick zu unter­stre­ichen. So etwas ste­ht der Lit­er­atur immer schlecht an. Sie liefert die unter­schiedlich­sten Mod­elle, die  einen anderen Blick auf die Welt erlauben – und ich sage das nicht, um mich irgend­wie rauszure­den. Und es gab da jedes Mal den Punkt, wo ich mir dachte: den Rest kann jed­er sel­ber wei­t­er­denken. Völ­lig unab­hängig davon, ob etwas poli­tisch kor­rekt ist oder nicht.

KLEIN Ihr vor­let­zter Gedicht­band Die Kun­st an nichts zu glauben ist mit den Porträts von All­t­agssi­t­u­a­tio­nen und soge­nan­nten ein­fachen Men­schen erstaunlich pro­fan. Das Buch kommt beina­he ohne den für Sie typ­is­chen Appa­rat an Zitat­en und Ver­weise aus. Man bekommt fast den Ein­druck, als woll­ten Sie sich freis­chreiben.

SCHROTT Die Kun­st an nichts zu glauben  ent­stand neben der Ersten Erde. In dem Fall aus dem Wun­sch her­aus, zu wis­sen, wer die Men­schen da draußen, wer wir heute sind. Man begeg­net einem Straße­nar­beit­er und will dann das, was er einem erzählt, zum Sprechen brin­gen. Erste Erde und Die Kun­st an nichts zu glauben sind da gewis­ser­maßen kom­ple­men­tär. Ich habe diese Rei­he von Berufs­bildern, die von athe­is­tis­chen Maxi­men umrahmt wer­den, sehr gerne geschrieben – ich musste ja nur zuschauen und zuhören. Das Schreiben dabei ist ja immer auch ein­er Entwick­lung unter­wor­fen – man ent­fal­tete seine The­men, sein eigenes Ich, seine Mit­tel. Am Anfang ist die Anstren­gung größer, irgend­wann aber kriegt man etwas in den Griff –  dann aber kann sich Rou­tine ein­schle­ichen. Es bleibt ein dauern­der Wettstre­it – Dinge ein­er­seits frisch und neu sehen zu kön­nen, ander­er­seits über eine gewisse handw­erk­liche Fin­ger­fer­tigkeit zu ver­fü­gen, ohne dass sie zum Leer­lauf wird.

KLEIN Zwei Fra­gen zum Abschluss: Schreiben Sie lieber, oder lesen Sie lieber vor?

SCHROTT Ich schreibe lieber. Ich sprach kür­zlich mit Michael Köhlmeier darüber, der meinte, er würde am lieb­sten gerne jeden Abend auf der Bühne ste­hen, wären da nicht diese ständi­gen Zug­fahrten. Ich würde lieber zu Hause bleiben. Ich pro­duziere mich im Grunde nicht gerne vor Frem­den. Auf jeden Fall bin ich nicht applaus­bedürftig. Ich bin auch kein Schrift­steller, der sich nicht wohl fühlt, wenn er einen Tag lang nichts geschrieben hat. Wenn ich kön­nte, wie ich wollte, würde ich nur reisen. Ich bin alles andere als unglück­lich, wenn ich nicht schreiben muss.

KLEIN Das näch­ste Buch ist trotz­dem schon im Entste­hen?

SCHROTT Es ist ein Roman, mit dem ich mich im Augen­blick sehr amüsiere. Mehr will ich dazu noch nicht sagen. Es ist ja wieder ein neues Rät­sel, das man sich nach und nach beim Schreiben löst.