Das Monatsende

Von

Der Monat ging dem Ende zu, und seit Tagen hat­te er kein Geld mehr und musste den let­zten vor­räti­gen Schnaps trinken, den er unbe­d­ingt ins näch­ste Jahr hat­te brin­gen wollen. Ein paar­mal war er bere­its in der Nähe der Bushal­testelle umhergeschlichen, ohne sich jedoch entschei­den zu kön­nen, in die Stadt zu fahren. Einen Ort immer­hin gab es noch, wo er anschreiben lassen kon­nte. Aber der Monat wollte nicht enden, und es war ein Unglück, dass noch ein Mon­tag in diesen Monat fiel – Ruhetag des Wirtshaus­es. Auch Klopfen half nichts, nicht ein­mal Rufen. Nie­mand öffnete ihm, vielle­icht war nicht ein­mal jemand da und das Licht im Obergeschoß nur eine Abschreck­ung für Ein­brech­er, die es hier ohne­hin nicht gab – seit dem Krieg nicht mehr gegeben hat­te. Er ging nach Hause, unzufrieden, unruhig, mit wach­sender Wut. Zu Hause wusch er sich und zog frisches Gewand an, sog­ar die Uhr legte er an.

Wann war er das let­zte Mal gefahren? Die Strecke stellte sich ihm so genau wie noch nie dar; ihm war, als nehme er kam­er­aar­tig den vor­beiziehen­den Raum auf, als Ganzes; und die Fahrt war ihm noch nie so lange vorgekom­men: Was eine halbe Stunde dauerte, emp­fand er als eine Tages­reise. Nur ein paar Weit­ere saßen außer ihm im Bus, und nur er stieg am Bahn­hof aus. Es war ein kalter Tag, ein kalter Him­mel span­nte sich flach über die Stadt, und Wolken­fet­zen trieben heimat­los umher, vere­inigten sich, lösten sich voneinan­der, auch sie schienen kalt in ihrer Sub­stan­zlosigkeit, Flüchtigkeit. Der gepflasterte Vor­platz war men­schen­leer, nur ein Taxi stand mit laufen­d­em Motor dort. Die Steine hat­ten einen Schim­mer, als seien sie eben noch nass gewe­sen. An einem Zeitungs­stand las er die Schlagzeilen. Er stand eine Zeit­lang vor dem Bahn­hof, dann drehte er sich eine Zigarette, zün­dete sie an, sog den schar­fen Rauch – der Tabak war alt und trock­en – tief in die Lun­gen, wandte sich vom Bahn­hof ab und schlen­derte Rich­tung Zen­trum. Doch auf halbem Weg blieb er ste­hen, kehrte nach mehrma­ligem Dur­chat­men um und ging zum Bahn­hof zurück. Immer noch die Steine wie eben getrock­net. Ob es hier gereg­net hat­te? Seit Wochen hat­te es im Dorf – abge­se­hen von dem vie­len Nebel – keinen Nieder­schlag gegeben. Leise klimperten die Münzen in sein­er Sakko­tasche. Ihm war, als sagten sie: „So ist es! So ist es!“ Und hat­ten sie nicht recht? Wieder schlug er leise gegen die Sakko­tasche, und jet­zt sagten die Münzen: „Los! Los!“ Seufzend ging er los.

In der Warte­halle war nie­mand. Er suchte die Anzeigetafel nach den näch­sten Verbindun­gen ab – erst in zwei Stun­den käme wieder ein Zug. Nie dachte er über die Gegend nach, in der er lebte, nur bei solchen Gele­gen­heit­en ging ihm durch den Kopf, dass sie gottver­lassen war. Er dachte es als Fluch: „Ver­dammte gottver­lassene Gegend!“ Er trat durch die alte dun­kle Pen­deltür auf den Bahn­steig und spähte sofort nach links, aber auch hier war nie­mand zu sehen. Wieder seufzte er, doch er merk­te, dass es auch ein Seufzen der Erle­ichterung war; sein unmerk­lich rasch­er gewor­den­er Herz­schlag ver­langsamte sich, als er den Bahn­steig ent­langspazierte. Vor ein­er schw­eren, ver­chromten und mit Fen­stern aus dick­em, bräun­lichem und undurch­sichtigem Glas verse­henen Schwingtür blieb er ste­hen. Leicht war beißen­der Uringeruch wahrzunehmen. Ein blaues Schild verkün­dete, was sich hin­ter der Tür befand. Die Tür schloss nicht ganz, hing ein wenig nach innen, sodass etwas von den hellen, schmutzi­gen Fliesen und ein Stück eines Papier­hand­tuch­fet­zens zu sehen waren. Er sah sich um – nie­mand – und set­zte sich wieder in Bewe­gung. Sog­ar als der Zug kam, ging er noch auf und ab. Vielle­icht – er wusste es selb­st nicht – redete er sog­ar mit sich selb­st aus Langeweile. Er erin­nerte sich, auf der Anzeigetafel gese­hen zu haben, dass nach dem einen wieder lange Zeit kein Zug käme, aber diese Erin­nerung war dunkel und unwichtig. Er war in ein­er Art Däm­merzu­s­tand, und, ja, er sprach wirk­lich mit sich selb­st. Er merk­te es, als er plöt­zlich im Augen­winkel etwas wahrnahm, was sich ihm zwar nicht physisch näherte, was er jedoch trotz­dem näherkom­men fühlte – ein prüfend­er Blick. Er wandte den Kopf ein kleines Stück, um sich zu vergewis­sern. Dann holte er tief Luft und stieß die Schwingtür auf. In dem Raum war es nicht wärmer als auf dem Bahn­steig, bloß wind­still. Er nahm eine der jet­zt wieder klimpern­den Münzen aus der Tasche und steck­te sie nach kurzem Zögern mit zit­tern­der Hand und ver­hal­tenem Atem in den Schlitz der unter dem Griff der Kabi­nen­tür ange­bracht­en Met­all­box. Als die Münze ein­fiel, klang es, wie es in der Kirche klang, wenn der Klin­gel­beu­tel umging, und dann klack­te es, und er kon­nte die Tür öff­nen. –

Nach dem einen war ein zweit­er gekom­men und, als er schon gehen wollte, sog­ar noch ein drit­ter. Müde und mit einem Gefühl, als hätte er ein Loch, einen Ball aus Nichts in seinem Inneren, fuhr er mit dem Auto­bus durch die stille Gegend nach Hause. Ohne Schwierigkeit­en käme er nun bis ans Ende des Monats, das, er wusste es, sich nun, da er wieder Geld hat­te, unver­mit­telt ein­stellen würde; die Zeit würde nicht mehr zäh ver­fließen, son­dern ver­fliegen.
Zwei Sta­tio­nen vor sein­er legte der Bus einen kurzen Halt ein, der Fahrer stieg aus und gab etwas an der Post ab. Er, in ein­er der hin­teren Rei­hen sitzend und die Wärme genießend und allmäh­lich wieder ganz wer­dend, nahm ein weit­eres Schnaps­fläschchen aus der Sakko­tasche, schraubte es auf und nahm einen Schluck. Der gute warme Schnaps. Er blick­te aus dem Fen­ster. Zwis­chen zwei Häusern, weit dahin­ter, blink­ten die roten und blauen Punk­te ein­er Lichter­kette. Das eben­falls blink­ende rote Herz kon­nte er von hier aus nicht sehen. Aber er sah es den­noch deut­lich vor sich. Nichts anderes sah er auf ein­mal mehr. Plöt­zlich dachte er: Hol’s der Teufel!, und er sprang auf und lief nach draußen. Das Geld würde reichen, und danach würde er zu Fuß nach Hause gehen.