Er steht vom Schreibtisch auf, setzt sich wieder hin. Er bereitet einen Kaffee, wenig später einen zweiten, überlegt, ob es mit Zigaretten besser ginge. Zigaretten erhöhen das Denkvermögen, kurzfristig zumindest, so hat er gelesen. Er hätte es bestätigen können, in der Zeit, in der er selber rauchte, in der sich eine gelungene Kurzgeschichte vor allem durch drei Merkmale auszeichnete: einen Stapel vollgeschriebener Blätter, eine leere Kaffeekanne und einen vollen Aschenbecher. Er mochte dieses ekstatische Schreiben, diese aus einem Schwung niedergeschriebenen Erzählungen, die entweder gelungen waren oder völlig daneben, für die Ewigkeit oder den Papierkorb. Er mochte diesen Zustand, wenn er sich buchstäblich leergeschrieben hatte und ein leichtes Zittern ihn darauf hinwies, dass er seit Stunden nicht gegessen hatte und dass es im Übrigen nicht gesund war, was er da trieb. Er beruhigte das unangenehme Gefühl mit Bier oder Wein, setzte den Höhenflug in seiner Stammkneipe fort, bis er selbst daran glaubte, ein Held zu sein – oder eine Niete, je nach dem, wie ihm seine Geschichte zuvor gelungen war, und manchmal war der Unterschied zwischen beidem gar nicht so groß.
Nun wünschte er die Zigaretten wieder herbei, sagte sich, dass es besser gewesen wäre zu reduzieren statt aufzuhören, sich zumindest die Zigaretten beim Schreiben nicht zu verbieten, jene, die es brauchte, damit die Gedanken in Bewegung kamen und er die Welt und alles, was sie von ihm wollte, mit einer Wand aus Tabakrauch von sich fernhalten konnte. Er sagte sich, dass es besser gewesen wäre, ein Genuss- und Arbeitsraucher zu bleiben, ein Kurzprosaraucher gewissermaßen, der auf die Einheit von Erzählung, Kaffee und Zigaretten vertraute – ein Akkord klingt nicht mit zwei Tönen. Gute Geschichten schreiben ohne Raubbau an der Gesundheit zu treiben, ging das überhaupt?
Das Dilemma begann, als er beschloss, einen Roman zu schreiben. So viele Zigaretten am Stück konnte niemand rauchen, so viel Kaffee niemand trinken. Der Literaturmarkt verlange nach Romanen, alles andere verkaufe sich nicht, so sagte man es ihm, so las er es in Fachzeitschriften, hörte es bei Fortbildungen. Wollte er Schriftsteller sein, wollte er vom Schreiben leben, musste er Romane produzieren. Der Literaturmarkt, dieser gefräßigen Schlund, dieses seltsame, nicht zu fassende Gebilde vieler Menschen, die sich selbst zu wichtig nahmen, interessierte sich nicht für Erzählungen, jedenfalls nicht für seine, noch nicht. Es interessierte auch niemanden, dass Wettbewerbe gewonnen und in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht hatte, dass seine Erzählungen offenbar also etwas taugten. Romane sollten, mussten es sein. Also wollte er sie liefern, wollte den gefräßigen Schlund bedienen, ihn überlisten, in dem er ihn mit seinen eigenen Waffen schlug –, mit Romanen, um sich dann in Ruhe wieder Erzählungen zuwenden zu können.
Es half auch nichts, dass viele Leser offenbar gerne Kurzgeschichten lasen, half nichts, dass Autoren sie gerne schrieben – der Literaturmarkt lag dazwischen wie ein Graben, der verhinderte, dass die Königskinder zusammenfanden. Es hätten Meistererzählungen sein können, sie wurden kaum angesehen in den Verlagen, in diesen merkwürdigen Häusern, aus denen ihn immer ähnlich klingende, vorformulierte Absageschreiben erreichten. Unterschrieben waren sie nur selten von einem Lektor, meist von jemandem mit dem Titel „Lektoratsassistenz“. Wer also entschied über seine Manuskripte, seine Zukunft, seinen Erfolg, seinen Verdienst? Praktikanten, Volontäre, und woran er Jahre gearbeitet hatte, das kam vielleicht nicht einmal über den Schreibtisch von jemandem hinaus, der nur ein paar Wochen da war, bevor sein Praktikum endete. Machten das alle Verlage so? Wie sollte eine Praktikantin, ein Praktikant nach den ersten Semestern Germanistik die Perlen aus den Bergen unaufgefordert eingereichter Manuskripte herausfinden? Diese erste Hürde, war es nicht die wichtigste, hätte dort nicht, gleich in welchem Verlag, der Mitarbeiter mit der größten Erfahrung sitzen müssen? Lektoren und Verleger bekamen seine Arbeiten vermutlich ohnehin nicht zu Gesicht.
Und wenn es sich um die Kurzgeschichten eines bekannten Autors handelte, dessen Name Gewinn versprach, dann nannten sie es „Erzählroman“ oder „Ein Roman in (wievielauchimmer) Erzählungen“, und wenn der „Roman“ nur fünfzig Seiten hatte, dann druckten sie ihn in Vierzehn- oder Sechzehnpunktschrift, nahmen 120-Gramm-Papier, ließen die halbe Seite weiß, damit ein vernünftiger Einband dabei herauskam, der später im Bücherregal nicht unterging. Aber das machten sie nur bei arrivierten Autoren, bei ihm machten sie gar nichts, gleichgültig was er versuchte. Er hätte eidesstattlich Versicherungen beilegen können, von Testlesern, die bestätigten, dass sie nach der Lektüre seines Manuskripts trotz der Kapitelüberschriften den Eindruck gehabt hätten, durchaus etwas Zusammenhängendes, durchaus so etwas wie einen Roman gelesen zu haben, Professoren und namhafte Kritiker hätten dies bezeugen können, dennoch hätte es nichts genutzt. Alles, was nach Erzählungen roch, kam über den Schreibtisch der „Lektoratsassistenz“ nicht hinaus. Wenn er es in diesem Leben als Schriftsteller zu etwas bringen wollte, musste er Romane schreiben. Er war noch nicht alt, und doch hatte er das Gefühl, dass die Uhr tickte und die Zeit nicht unbegrenzt war, dass er sich beeilen musste, wollte er zum Schluss, wenn seine Zeit ablief, auf so etwas wie ein „Werk“ zurückblicken, eines, das nicht gleich wieder in Vergessenheit geriet. Das ging nur mit Romanen, vielleicht zweien, dreien, besser einem Dutzend. Bis jetzt aber hatte er nicht einen einzigen guten Entwurf. Ob sich das je ändern ließe?
Er machte sich das Schreiben zur Pflicht, versuchte jeden Tag ein bestimmtes Pensum zu schaffen, professionell zu arbeiten, wie ein Unternehmer. Andere schafften das doch auch, sagte er sich, andere setzten sich jeden Morgen hin und füllten eine bestimmte Zahl von Seiten, und füllten sie sie nicht, arbeiteten sie den Rückstand am nächsten Tag nach. Andere gaben nicht eher Ruhe, bis ihr Pensum geschafft war; für andere war „Schreibblockade“ ein Fremdwort. Ob in schlechter oder guter Stimmung, krank oder gesund, andere setzten sich einen Abgabetermin, setzten sich Etappenziele, arbeiteten in Zeitfenstern, die sie sich selbst vorgaben – was nicht ganz abwegig war, hatten die Vermieter, Stadtwerke, Telefongesellschaften doch ebenfalls ihre Zeitfenster und schickten Rechnungen und Mahnungen in schöner Regelmäßigkeit. Es wäre nur folgerichtig gewesen, hätte er seine Produktion dem Markt angepasst, doch am Schreibtisch zu sitzen und nichts zu schaffen war in diesem Markt nicht vorgesehen, eine Auszeit stand ihm nicht zu.
Andere ließen sich nicht abschrecken von einem weißen, leeren Blatt, andere hatten Kurse besucht, in denen sie lernten, wie man diesen Knoten zerschlug - wenn ein solches Problem überhaupt in diesen Kursen behandelt wurde. Schließlich gab es Wichtigeres zu tun, z.B. Setting und Plot und Spannungsbogen zu entwerfen; das Zögern vor dem weißen Blatt etwas für Anfänger, die selbst in den Anfängerkursen nicht aufgepasst hatten. Auch er hatte Kurse besucht, aber er hätte in diesem Moment nicht einmal genau zu sagen gewusst, was ein Plot war. War es die Auflösung des Konflikts am Schluss oder die Konstruktion der Geschichte, die sich durch die ganze Handlung zog? Vor kurzem hatte er von „Plot-Twists“ gelesen. Erklärt wurde der Begriff nicht, offenbar wussten alle Leser Bescheid, alle außer ihm. Doch gleich, was es war, verwendet hatte er es noch nicht, dessen war er sicher. Oder? Vielleicht unwissentlich, zufällig? Unwissenheit schützt vor Strafe nicht und Schreiben nicht vor Plot-Twists.
Eine Lektorin schrieb ihm, sie bevorzuge Storys, die Plot-driven seien. Was konnte er ihr schicken, hatte er Geschichten, die diesem Kriterium entsprachen? Sollte er, sollten die Autoren nicht ganz auf Englisch umstellen, angesichts der vielen Anglizismen, die in diesen Beruf Einzug hielten? Vermutlich wusste jeder Laie, der einen Englisch-Grundkurs besucht hatte, mehr über Plots als er. Er, der Schriftsteller, der eigentlich am liebsten Peanuts-Comics las. Daran hatte sich seit seiner Schulzeit wenig geändert. Und irgendwo waren sie noch verstaut, die orangenen, quadratischen Büchlein, und immer noch kamen ihm Szenen daraus in den Sinn, in denen er sich, einer Ahnung und ersten Schreibversuchen folgend, damals schon wiedererkannte: Snoopy, zum Briefkasten vor dem Haus gehend, zu einem dieser dickbauchigen amerikanischen Briefkästen, einen Verlagsbrief herausziehend: „Sehr geehrter Schriftsteller. Vielen Dank für ihr Manuskript. Vermutlich liegt für Sie im Schreiben eine große Zukunft“ -, nächstes Bild, Snoopy liegt auf dem Dach seiner Hundehütte, wie er immer dort liegt und hält den Brief in die Luft: „ … zum Beispiel im Adressenschreiben.“
Er fragte sich, wie viele Verlagsanschreiben Charles M. Schulz verschickt haben mochte und wie viele Absagen er erhalten hatte, bevor er der Hochliteratur abschwor und sich den Peanuts zuwandte. Er wiederum musste zugeben, dass diese ihn vermutlich mehr beeinflusst hatten als alle wichtigen historischen und zeitgenössischen Schriftsteller zusammen. Zuletzt hatte er sich vergeblich an Kafkas „Der Prozeß“ und Rilkes „Die Aufzeichnungen des Maltes Laurids Brigge“ versucht, hatte beide Bücher nicht zu Ende geschafft, trotz des festen Vorsatzes, diesmal, wie bei so vielen anderen wichtigen Büchern zuvor, nicht aufzugeben. Seine Freundin, die sich anschickte, Germanistin zu werden (und ihn auch auf diesem Feld zu überholen) schrieb ihre Abschlussarbeit über die beiden Bücher, er wollte sie lesen, um ihr zu helfen, doch tatsächlich war er ihr mit seinen Fragen, Vorschlägen und Bemerkungen wohl eher ein Klotz am Bein.
Erst legte erst Kafka, dann Rilke beiseite, blätterte lieber noch einmal in den alten orangenen, quadratischen Comics, in seinen Lieblingsszenen, zum Beispiel jener, in der Charlie Brown für Spike – Snoopys schnurrbärtigen, fernsehsüchtigen, mit einem Schlapphut bekleideten Bruder – ein Zuhause sucht. Ein Nachbarskind streckt den Kopf aus der Tür und fragt: „Ist er bissig?“ Spike wendet den Blick ab, während Charlie Brown zögerlich antwortet: „Er kann es werden, wenn er im dritten Satz vorne liegt.“ Natürlich wird es nichts mit dem neuen Zuhause für Spike, und in den folgenden Szenen steht dieser trampend am Straßenrand, während hinter ihm der Fernseher, von dem er sich nie trennt, läuft und eine Sprechblase heraustönt: „Ah, Marshall Dillon!“
Das einzige, was er kultivierte, war der Lebenswandel des Schriftstellers: länger schlafen als die anderen, den Tag in einem Café beginnen, mit einem kleinen Frühstück und Tageszeitungen, Nachrichten, Feuilletons, Debatten über Bücher und dem Traum, dort einmal Rezensionen über sein Buch zu lesen. Er stellte sich vor, wie die Leute an den Nebentischen sein Bild in der Zeitung entdeckten und verstohlen zu ihm herübergafften, und er gaffte verstohlen zurück, studierte die anderen, weil er Protagonisten, Typen, Charaktere für neue Geschichten brauchte. Gleichermaßen genervt und geschmeichelt wäre er von den Blicken, aber ganz darauf verzichten würde er auch nicht wollen. Rohmaterial wäre es, das er in den Cafés sammelte, um zuhause daraus etwas Neues zu formen, und wenn er oft genug ins Café ginge und genug Rohmaterial zusammenhätte, dann würde auch eine Geschichte dabei herauskommen, die den Titel „Roman“ verdiente. Mochten die Leute in den Cafés anfangs auch genervt sein, irgendwann waren sie stolz, in seinen Büchern erwähnt zu sein und von ihm, dem Autor, aus dem Einerlei des Alltags herausgehoben zu werden. Die aufmerksamen unter seinen Lesern würden sich wiedererkennen, und sie würden herüberblinzeln im Café, mit dem Anflug eines Lächelns. Manche würden sich bewusst auffällig benehmen, damit er sie erwähnte, aber darauf fiele er natürlich nicht herein.
Er würde das Café verlassen und auf dem Weg nach Hause das kaufen, was ein Schriftsteller für seine Arbeit benötigte: Papier, Stifte, Datenträger, Druckerpatrone, Versandtaschen, Briefmarken, Süßigkeiten, Traubenzucker, Kaffee, Tee und manchmal, als Nachbrenner gewissermaßen, etwas Alkohol. Derart ausgerüstet würde ihn sein Weg gleich an den Schreibtisch führen, und den ersten, sich hämisch lachend ankündigenden Schreibblockaden würde er mit starkem Kaffee und dunkler Schokolade leichtfüßig tänzelnd aus dem Wege gehn.
Die Abende dann würde er in immer derselben Kaschemme verbringen, würde sich wild genug benehmen, dass es dem Wirt zum Rausschmiss und Biografen zur Legendenbildung taugte, und seine vier „S“ des gelungenen Romans hießen Schlafen, Schreiben, Sex und Saufen.
Das mit dem Schlafen und Saufen klappte schon ganz gut, das mit dem Sex hin und wieder, nur das wichtigste Element, das Schreiben, kam zu kurz. Nicht viel fehlte, und er hätte alles hingeschmissen, doch auch zu diesem Schritt – und ein der Eitelkeit abschwörender und nichts mehr produzierender Literat, das konnte ja durchaus eine Haltung sein – rang er sich nicht durch. So inkonsequent er lange Zeit mit dem Rauchen gewesen war, so zwiespältig blieb sein Verhältnis zum Schreiben. Hatte er, um endlich Nichtraucher zu sein, häufig alle Rauchutensilien über Baustellenzäune geworfen und war tags darauf auf die Baustellen geklettert, um sie wieder einzusammeln, so klebte er nun die Seiten wieder zusammen, die er zuvor zerriss.
Es half auch nichts, halbfertige Manuskripte, Stifte, Lieblingskaffeetasse, Blöcke und all das, was ihn an seine unglückliche Leidenschaft erinnerte, in die hintersten Ecken und untersten Schubladen seiner Wohnung zu verbannen und ihrem Gebrauch für alle Zeiten abzuschwören, wenn er sie einen Tag später wieder hervorzog und einen weiteren vergeblichen Versuch unternahm, die leer gebliebenen Seiten zu füllen. Eine Schreibblockade war ein hartnäckiges Ding, vergleichbar einem falsch geplanten Fundament, und alles, was er darauf setzte, wurde schief. Nun stand er mit dem Hammer davor und versuchte Stücke aus dem Beton zu brechen, doch es wollte ihm nicht gelingen -, es hätte Sprengstoff gebraucht und eines lauten ohrenbetäubenden Knalls, um all die misslungenen, halbherzigen, halbfertigen Versuche hinwegzufegen.
Wenn er jetzt durch die Stadt lief und seine Gedanken wiederum und vergeblich um den Beginn und – was auch immer das war – Plot eines Romans kreisten, dann glaubte er, kurz vor einem Amoklauf zu stehen, es bedurfte nur noch eines geringen Auslösers, eines falschen Kommentars, einer blöden Bemerkung –, und hätte ihn jemand abfällig „Schreiberling“ oder nur mit ironischem Unterton „Dichter“ genannt, er wäre ihm an die Gurgel gesprungen. Doch niemand rempelte ihn an, niemand sagte das Falsche; er blieb allein mit seinem Frust, kein Ventil verschaffte ihm Luft, keine Flucht Erleichterung. An Buchhandlungen und Schreibwarengeschäften vorbeizugehen wurde zur Qual, ähnlich wie es Alkoholiker empfinden mochten, die gute Vorsätze gefasst hatten und nun an den üppigen Getränkeauslagen der Kioske vorbeimussten.
„Du wirst es nie in unsere Reihen schaffen, vergiss es“, lachten ihn die Autoren auf den Reklamepostern in den Buchhandlungen aus – jene Autoren, die es geschafft hatten. Was machten sie richtig und er falsch? „Das sagen wir dir nicht“, lachten sie weiter, und er sah sich schon nach Pflastersteinen um, mit denen er die Schaufenster hätte einschlagen können. Natürlich nur gedanklich. Schriftsteller leben ihre Aggressionen gedanklich aus und selten tatsächlich, und wenn, dann richten sie die Wut gegen sich selbst.
In den Schreibwarengeschäften, da lagen sie, all die hochwertigen Füllfederhalter, Papierbögen, ledernen Schreibmappen, die auf die wahren Schriftsteller warteten und denen er sich nicht gewachsen fühlte. Ein Montblanc in der Hand von jemandem, der nichts zu sagen wusste, nichts mitzuteilen hatte, es war kein Fehler, es war eine Sünde.