Zuerst erkannte er sie nicht. Dann stoppte er, drehte sich um und rief ihren Namen. Sie zögerte.
Er ging zurück und fragte sie, was sie hier mache.
„Ich steige um“, sagte sie.
„Fährst du nach Hause?“
„Wohnst du hier?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage.
Er bejahte, sagte, dass er sich freue, sie zu sehen und schlug vor, in ein Café zu gehen, eines, das nicht weit entfernt gleich im Bahnhofsgebäude liege.
Sie nickte.
Er nahm ihr das Gepäck ab. Viel war es nicht: ein Rollkoffer und eine kleine Tasche, beides aus festem schwarzem Stoff. Ihre Kleidung, ebenfalls schwarz, wirkte vornehmer, schicker als das, was sie früher getragen hatte.
Sie ging langsam. Er passte sich ihr an. Er ging nicht gerne langsam, es entsprach nicht dem Tempo einer Stadt, in der alle schnell gingen.
„Was machst du hier? Arbeit? Fortbildung? Urlaub?“ Er fragte hastig, als wolle er keine Antwort.
Im Café zeigte er auf einen freien Tisch am Fenster, sie setzten sich.
„Bist du oft hier?“, fragte sie.
„Immer nach der Arbeit. Eine knappe Stunde. Sie haben alle wichtigen Zeitungen.“
„Alle wichtigen Zeitungen“, wiederholte sie.
„Es ist eine Art Fluchtpunkt“, erklärte er.
„Wovor flüchtest du?“
„Jeder Mensch braucht einen Fluchtpunkt“, sagt er und hoffte, sich keine Blöße zu geben.
Das Café gehörte zu einer Buchhandlung, die zwei Eingänge hatte. Man konnte sie vom Bahnhof und von der Straße aus betreten, durfte Bücher mit ins Café nehmen und darin lesen. Tatsächlich war er fast jeden Tag da. Versteckt hinter Tageszeitungen, deren Inhalt er überflog, beobachtete er die Menschen. Hinter den aufgeschlagenen Seiten der Zeitung fühlte er sich geschützt, fühlte er sich der Stadt und den Menschen verbunden. Jeden Tag kam er, um sich dieser Verbundenheit aufs Neue zu versichern.
Pächterin und Angestellte des Cafés begrüßten ihn wie einen alten Bekannten und brachten ihm die immer gleiche Bestellung: Milchkaffee und ein mit Quark bestrichenes und allerlei gesundem Grün belegtes Schwarzbrot. Das hatte er bei seinem ersten Besuch auf einem Nebentisch gesehen, hatte das gleiche verlangt und war seitdem dabei geblieben. Ein Glas Wasser gab es kostenlos dazu; wenn er etwas anderes wollte, musste er es gleich nach dem Hereinkommen sagen.
Ihr fiel auf, dass er sich wie zuhause fühlte, und sie fragte, ob das Café sein Wohnzimmer sei.
Er nickte.
„Wo liegt deine Wohnung?“
„Einige U-Bahn-Stationen von hier.“
„Zeigst du sie mir?“
Er blickte sie fragend an.
„Es interessiert mich, wie du jetzt lebst.“
„Wie früher: ein Zimmer, Diele, Küche, Bad, Balkon. Ich brauche nicht viel.“
„Malst du noch?“
„Nein“, sagte er, „keine Ideen.“
Sie schwieg, und er fuhr fort: „Das Leben ist teurer hier. Und der Wechsel hat gekostet. Außerdem wollte ich nicht so weitermachen wie bisher.“
„Du hast immer gerne gemalt“, sagte sie.
„Ich kann jederzeit wieder anfangen: Block, Stifte, ein paar Farben, mehr braucht es nicht.“
Etwas drückte ihm auf den Magen. Er sagte, dass er zur Toilette müsse und entschuldigte sich. Er schloss sich in eine Kabine ein, legte den Brillenrand mit Klopapier aus und setzte sich.
Die Luft war stickig, und blaues Licht, das Junkies abschrecken sollte, ließ den Raum unwirklich erscheinen. Es erinnerte ihn an seine Besuche im Museum für moderne Kunst, nicht weit vom Bahnhof entfernt, an Installationen, die ganze Räume veränderten. Neue Wahrnehmungen – in ihm einzig den Wunsch wachrufend, solche Räume möglichst schnell wieder zu verlassen.
Er dachte daran, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. Und er dachte, dass er verrückt sein müsse, dies in Betracht zu ziehen. Wusste er, was sie die letzte Zeit gemacht hatte? Er erinnerte sich an ihre Diskussionen „mit oder ohne Gummi“, und dass es meist auf „ohne Gummi“ hinausgelaufen war. Sie hatten sich benommen, als hätten sie nicht ein, sondern mehrere Leben.
„Mit dir schlafe ich ohne Kondom“, hatte sie gesagt.
„Ach, und mit anderen?“
Er erinnerte sich an seine Versuche, Widersprüche und Eifersucht in Alkohol aufzulösen, erinnerte sich an den morgendlichen Katzenjammer und den viel zu oft gefassten Entschluss: Ich muss etwas ändern!
Dass sie wieder da war, versetzte ihn zurück. Es war, als sei sein Umzug für ungültig erklärt worden.
Er ging zurück zum Tisch und bestellte, die Theke passierend, zwei Biere. Noch nie hatte er hier Alkohol getrunken. Er wusste nicht einmal, ob sie welchen hatten. Die Chefin und ihre Angestellte, beide blickten ihn verdutzt an, so dass er seine Bitte vorsichtshalber wiederholte.
Doch er hatte auf einmal Lust, sich hemmungslos zu betrinken, mit ihr, und wenn sie nicht wollte, dann auch ohne sie.
*
Sie verließen das Café kurz vor Ladenschluss. Angetrunken, albern, grundlos lachend gingen sie zur U-Bahn. Er wusste nicht, ob er ihr die Hand reichen sollte, sie schien es ebenfalls nicht zu wissen, so dass es bei kurzen, wie zufällig aussehenden Berührungen blieb.
Nach wenigen Kilometern wurde die U-Bahnlinie oberirdisch. Neugierig blickte sie aus dem Fenster, schien alle neuen Eindrücke aufnehmen, festhalten zu wollen.
„Bist du gerne hier?“, fragte sie.
Er bejahte und fragte, wie lange sie bleiben werde.
„Der Zug, den ich nehmen wollte, ist weg.“
„Wir sind gleich da“, sagte er, stand auf und nahm ihr Gepäck.
Unterwegs kamen sie an einer Gaststätte vorbei, die er häufiger besuchte; er fragte, ob sie Lust habe einzukehren.
„Warum nicht“, sagte sie.
Samstagabend, es war voll, die Musik lief laut, der Billardtisch war besetzt, obwohl es kaum möglich schien, in dieser Enge zu spielen. Die Kellner arbeiteten sich mit Tabletts, die sie über die Köpfe hielten, durch die Menge und verteilten Biere und Striche auf Deckel.
Er fragte, was sie trinken wolle und sorgte dafür, dass sie schnell etwas bekam.
„Lust auf ein Spiel?“, fragte er und zeigte auf den Tisch.
„Erwarte nicht zu viel“, sagte sie, „ich kann das nicht besonders.“
„Macht nichts“, erwiderte er und bot ihr seine Hilfe an – nicht ganz ohne Hintersinn, war Billard doch eine der wenigen Möglichkeiten, sich jemandem zu nähern, ohne dass es gleich als Zudringlichkeit aufgefasst wurde. Er legte zwei Eurostücke an den Rand.
Seine Bitte, ein Spiel mit seiner Begleitung alleine machen zu dürfen, lehnten die Gewinner am Tisch ab, also mussten sie gegen sie antreten. Er warf einen Euro ein, baute die Kugeln auf und – wer baut, der haut – stieß an. Da er davon ausging, dass sie ohnehin verlieren würden, hielt sich sein Ehrgeiz in Grenzen. Lieber konzentrierte er sich darauf, ihr zu helfen, stellte sich hinter sie und hielt ihren Queue, während sie spielte. Er spürte, wie schlank sie war, wie gut sie sich bewegte, und selbst in der Kneipenluft konnte er ihr Deo riechen.
Ihre Gegner versenkten die schwarze Kugel falsch, und sie blieben am Tisch. Ein weiteres Spiel begann, wieder half er ihr, führte ihre Hand bei jedem Stoß, obwohl sie es schon gut, vielleicht besser, alleine hinbekommen hätte. Er wünschte, das Spiel höre nie auf. Täuschte es ihn, oder ließ sie sich nach jedem gelungenen Spielzug ein wenig gegen ihn fallen, damit er sie hielt? Seine Kneipenkumpels gafften verstohlen herüber, ihr Neid gefiel ihm gut. Die Kneipe wurde zur kleinen Bühne, auf der sie ihren kurzen Auftritt hatten, und er fürchtete sich ein wenig vor dem Moment, da sie die Bühne verlassen mussten.
Schließlich verloren sie. Sich nochmals anzumelden hätte keinen Sinn gehabt, sie wären frühestens in einer Stunde wieder dran gewesen. Er nahm den übrig gebliebenen Euro vom Rand, zahlte die Getränke, verließ mit ihr die Gaststätte.
„Du hast dich gut eingelebt“, sagte sie.
„Findest du?“
„Alle grüßen dich.“
„Ja, aber wirkliche Freunde sind noch nicht dabei.“
Sie erreichten das Haus, in dem er wohnte, er schloss auf, ging voraus.
Sie fragte, wie viele Stockwerke es seien.
„Vier“, antwortete er, ging weiter, drehte sich ab und zu um, schickte ein Lächeln nach hinten, als fürchte er, sie wieder zu verlieren.
Im Vorbeigehen las sie die Namen an den Türen, Namen auf glänzenden Stahl- und Messingschildern – in einem ordentlichen Haus, in das seine Computerausdrucke, die er nach dem Einzug angebracht hatte, nicht passten. Sie störten das Bild, so stand es eines Tages auf einem Zettel, den er ohne Absender auf der Fußmatte vor seiner Wohnungstür fand. Darunter waren Name und Adresse eines Schilder- und Stempelmachers aufgeschrieben. „Jan Wegener“ prangte es schon wenige Tage später gülden von seiner Klingel und Wohnungstür.
Seine Garderobe war übervoll behängt. Er nahm ihre und seine Jacke und legte beides neben die Schlafcouch, versteckte seinen Schlafanzug, der herumlag.
„Musik?“
Sie zuckte die Achseln.
„Kaffee?“
„Was hast du sonst noch?“
„Etwas Wein.“
„Wein? Hattest du Besuch?“
Er spülte zwei Gläser nach, nahm eine noch halbvolle Flasche und goss ein. Er hielt sein Glas hoch und prostete ihr zu: „Auf uns!“
Sie prostete ihm ebenfalls zu, trank etwas, ging mit dem Glas in der Hand zum Bücherregel, las die Titel.
„Du hast viele neue Bücher“, bemerkte sie.
„Die Abende sind lang und einsam“, erklärte er, „deine auch?“
„Lang und einsam.“
Sie betrachtete seinen Schreibtisch, auf dem sich die Unterlagen stapelten. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die Tischplatte und hielt ihm die staubige Fingerkuppe hin: „Dir fehlt eine Frau!“
„Ich glaube kaum, dass ich eine finde, die ...“
„So meine ich das nicht“, unterbrach sie, „du achtest bestimmt mehr auf dich, wenn du jemanden hast.“
„Möglich“, antwortete er.
Sie trank ihr Glas aus und bat ihn nachzuschenken.
„Ich kann zum Kiosk gehen, neuen holen“, bot er an, und sie willigte ein.
Er nahm seine Jacke.
Sie kam zu ihm, fasste ihn um die Taille und hauchte ihm ins Ohr: „J’attendrais.“
*
Als er zurückkam, war die Dusche angestellt. Laut ließ er die Tür ins Schloss fallen, dass sie es hören musste.
Sie rief, ob er ein Handtuch habe.
Er nahm eins und legte es auf den Waschbeckenrand. Der Duschvorhang verdeckte den Blick auf sie. Ihre Kleidung lag ordentlich gefaltet auf einem Badezimmerstuhl.
Sie, die Kleidung, der Wasserdampf, der Geruch des Duschgels – all das erschien ihm wie eine Aufforderung. Er zog sich aus und legte, weil kein anderer Platz frei war, seine Sachen über ihre. Er wollte gerade zu ihr kommen, als das Wasser stoppte.
Sie schlug den Vorhang zurück und sah ihn verdutzt an. „Jetzt kannst du, es ist frei“, sagte sie und verließ die Kabine.
„Ja, Danke.“ Er stieg hinein, stellte das Wasser wieder an, duschte.
Als er ins Zimmer kam, stand sie in der Tür zum Balkon und rauchte.
Er sah sie an.
„Stört es dich?“, fragte sie, auf die Zigarette deutend.
„Nein, nein, schon o.k.“
„Ich kann sie ausmachen.“
„Ich hab’s drangegeben“, verkündete er stolz.
„Warum sind so viele deiner Bücher eingeschweißt?“, wechselte sie das Thema und zeigte auf die fünfzig Bände einer Sammelreihe, von denen er bestenfalls ein halbes Dutzend gelesen hatte. „Vielleicht stehen sie zum Angeben hier.“
Er wollte widersprechen, doch er schwieg und sagte sich, dass es keinen Grund gab, sich zu rechtfertigen.
Sie entdeckte seine Gitarre, die neben dem Bücherregal an die Wand gelehnt stand und bat ihn, etwas zu spielen.
„Was denn?“, fragte er.
Sie nannte ein paar Titel, die er entweder nicht kannte oder nicht gut beherrschte.
„House of the rising sun kann ich“, sagte er, „kennst du das?“
„Klar“, sagte sie und nickte als Zeichen, dass er anfangen solle.
Er setzte sich und stimmte die Saiten nach. „Wer nichts kann, spielt House of the rising sun“, lachte er und begann. Er spielte wohl nicht schlecht, denn sie summte mit und bewegte den Fuß im Takt. Doch schon bei der zweiten Strophe fiel ihm der Text nicht mehr ein, und er sang nur noch Lalala.
„Du bist nicht sehr textsicher.“
„Ich habe schon etwas getrunken.“
Er versuchte er sich an Yesterday. Der Auftakt klang vielversprechend, aber schon bei „Why she had to go?“ haperte es. Die Akkordfolge an dieser Stelle bekam er nicht hin, probierte es mehrere Male, doch verspielte sich immer wieder. Er unterbrach und schlug stattdessen Let it be vor. Hier setzten die Schwierigkeiten gleich mit den ersten Silben ein. Also sparte er sich die Strophen, kam gleich zum Refrain und trällerte „Let it be“. Sie summte mit, doch mehr aus Anstand als aus Begeisterung, wie ihm schien. Die Anfänge von Come together und All you need is love folgten, doch jetzt noch ein Stück mit mehreren Taktwechseln hinzubekommen – nichts lag ferner. Das kleine Beatles-Medley verpuffte so zaghaft, wie es begonnen hatte. Ihn wunderte, dass er sie damit noch nicht in die Flucht gesungen hatte.
Er reichte ihr die Gitarre und sagte, sie solle es versuchen. Er setzte sich neben sie, beugte sich zu ihr, führte ihre Hand über das Griffbrett, ließ ihre Finger über die Saiten wandern.
Sie schlug an, er griff die Akkorde dazu, sie lachte und sagte, sie und die Gitarre, das habe wohl keinen Sinn.
Er beugte sich zu ihr und versuchte sie zu küssen.
„Und das wohl auch nicht“, fügte sie hinzu.
*
Die Nacht war kurz und schlecht, Kopfschmerzen plagten ihn, und er fragte sich, wer eigentlich den Spruch erfunden hatte: „Wein auf Bier, das rat ich dir“?
Es gefiel ihm gut, dass jemand da war, und er dachte daran, wie es wäre, wieder in einer festen Beziehung zu sein. Er hatte sich so ans Alleinsein gewöhnt, dass ihm der Gedanke, es könne etwas fehlen, gar nicht mehr kam. Er beobachtete seinen Gast im blassen Licht, das von draußen durch die Vorhänge ins Zimmer schien und fragte sich, wovor er damals eigentlich geflüchtet war, vor ihr oder vor sich selbst? Doch er war ein schlechter Psychologe, kannte die Antwort bis heute nicht, und damals hatte es für ihn nur die Lösung gegeben, etwas Neues zu beginnen.
Bald schon wurde es hell, seine dünnen Vorhänge hielten die Morgensonne kaum noch zurück. Sie störte das offenbar nicht, sie schlief weiter auf seiner Couch, während er aufstand und die Decken beiseite räumte, auf denen er gelegen hatte. Er ging in die Küche, bereitete Kaffee, öffnete das Fenster. Draußen herrschte die Tyrannei der Vögel, die um die Wette jubilierten, und in seinen Ohren klang es wie Kreide, die jemand über eine Schultafel zieht. Er dachte daran, sie mit einem Frühstück zu überraschen, doch bis auf Kaffee, Marmelade und einen Rest Butter war nichts da. Sein nächster Gedanke „Heute ist ja Sonntag!“ versetzte ihn in Panik. Zwei Straßen weiter war ein Kiosk. Der aber hatte nicht viel. Blieb nur der Bahnhof. Bis er hin und zurück war, wäre eine Stunde vergangen. Wenn er gleich losfuhr, könnte er es vielleicht schaffen, bevor sie aufwachte.
Am Spülbecken machte er sich frisch, zog sich an, schrieb ihr einen Zettel und verließ so leise wie möglich die Wohnung.
*
Auf der Straße klang das Vogelgezwitscher noch einmal ein paar Phon lauter. Und das Rosarot der japanischen Kirschbäume, die vor wenigen Tagen angefangen hatten zu blühen, stach ihm in die Augen. Keine zwei Wochen, dann würde der Spuk vorbei sein, würden die Blüten wie auf Kommando abfallen und die Straße aussehen lassen, als habe es geschneit. Noch Wochen später würde er die rosanen Blätter, die unter den Sohlen kleben blieben, in seiner Wohnung finden.
In den Straßen und in der U-Bahn waren kaum Menschen, erst im Hauptbahnhof kehrte das Leben zurück. Sonntagsausflügler warteten auf ihre Züge und brachten sich mit und ohne Alkohol in Stimmung.
Er ging zum Supermarkt und kaufte ein, ohne auf die Preise zu achten. Er kaufte mehr, als sie an diesem Tag je würden essen können, und mit zwei Tüten voller Lebensmittel und einer Sonntagszeitung fuhr er zurück.
*
Als er ankam, wollte sie gerade gehen, sie stand im Flur, den Rollkoffer neben sich.
„Vielleicht noch ein Frühstück, bevor du fährst?“ Er ging er in die Küche, legte Zeitung und Lebensmittel auf den Tisch.
Sie zog ihre Jacke wieder aus, kam zu ihm und setzte sich. „Hast du Tee?“, fragte sie.
Er bejahte und goss welchen auf.
Sie nahm die Zeitung und blätterte darin.
„Du kannst sie haben, für die Reise“, sagte er.
Er bereitete den Tisch vor, stellte alles hin, was er mitgebracht hatte und was noch im Kühlschrank war. Auch einen Piccolo hatte er gekauft, öffnete ihn und füllte zwei Gläser. Es waren normale Gläser, solche für Sekt besaß er nicht, er war auf Situationen wie diese nicht vorbereitet und nahm sich vor, dies gleich in den nächsten Tagen zu ändern.
Sie sagte, sie müsse erst etwas essen, sonst sei sie gleich betrunken.
Er nickte und sagte, bei ihm sei es dasselbe.
Sie hielt einen Teil der Zeitung in der Hand, er einen anderen, sie lasen, ihre Blicke trafen sich, sie lasen weiter -, und er dachte, dass es neben manch anderem vor allem dieses wortlose Verständnis war, das er seit seinem Umzug am meisten vermisste. Er war froh, dass sie da war, und er hatte den Eindruck, dass auch sie sich wohl bei ihm fühlte.
Bald aber merkte er, wie eine schon vergessene Anspannung zu ihm zurückkehrte, und er stellte sich die Frage, ob es beim Frühstück bleiben solle oder ob mehr passieren könne.
Ohne zu warten, bis sie zu Ende gegessen hatte, stand er auf und ging um den Tisch herum. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie aufgestanden und weggelaufen wäre, doch sie blieb sitzen und schien nicht einmal überrascht.
„Wieso bist du mitgekommen?“, fragte er.
„Weil ich dich mag.“ Sie musterte ihn, ihr Blick wechselte zwischen seinen Augen hin und her, es sah aus, als kontrolliere sie den Ausdruck seines Gesichts, kontrolliere ihn.
Er gab ihr einen Kuss, den sie erwiderte, küsste sie auf die Wange, den Hals, das Ohr, den Mund. Er spürte ihre schlanke Taille, ihren festen Busen, ihren kleinen Bauch. Pullover und T-Shirt zog er ihr aus.
„Nicht so schnell“, sagte sie.
„Gehen wir ins Zimmer?“, fragte er.
Im Radiowecker suchte er einen Sender mit passender Musik, legte ein Handtuch auf den Lautsprecher, damit es nicht zu schrill klang. Er holte den Sekt und stieß mit ihr an.
Sie fragte ihn nach einem Kondom.
Er müsse eines suchen, sagte er.
„Beeil dich“, sagte sie.
Er suchte im Bad, in der Küche, im Zimmer, zweifelnd, ob er überhaupt welche hatte. Schließlich entdeckte er zwei kleine schwarze Päckchen, die er vor Wochen von einem Infostand der Aids-Hilfe mitgenommen hatte, extra dicke und reißfeste Kondome, an denen auch das aggressivste Virus scheitern musste. Leider auch das Gefühl. Er kam zurück und legte die kleinen Packungen neben das Sofa.
Sie öffnete seinen Gürtel und Reißverschluss, berührte ihn mit der Hand und tat, als sei sie erstaunt, was passierte. „Nanu?“, fragte sie und sah ihn an.
Ihm war es peinlich: Was vor allem sichtbar wurde, verdiente nicht mehr die Bezeichnung Bauch, sondern Wampe. Wenn er sich weiter gehen ließ, würde bald kein Herankommen mehr sein an all das, was sich nach Berührung sehnte. In solchen Momenten nahm er sich vor, dies gleich am nächsten Tag zu ändern, auf Alkohol zu verzichten, Sport zu treiben, wieder der zu werden, der er einmal gewesen war. Er nahm sich vor, Männer- und Fitnessmagazine im Dutzend einzukaufen, die Anweisungen darin streng zu befolgen (dabei hatte er gerade den Erfolg, den solche Zeitschriften als Lohn für alle Mühen versprechen), oder er kramte die drei Medaillen aus seiner Leichtathletik-, sprich: aus grauer Vorzeit hervor, von denen nicht umsonst die erste golden, die zweite silbern und die dritte bronzen war. Zeugnisse des Abstiegs, Dokumente des Verfalls. Was fand sie an ihm?
Doch sie beugte sich zu ihm, küsste und streichelte ihn, dass er angesteckt wurde von ihrer Lust und seine Furcht zu versagen vergaß.
*
Sie waren laut, Nachbarn hätten sie hören können – hören in dieser ruhigen, als bevorzugt geltenden Wohngegend, mit diesen Menschen, die in ihren Zimmern vor dem Fernseher saßen und das Leben an sich vorbeiziehen ließen. Jedes Mal sah er das gleiche Bild, wenn er aus dem Fenster blickte. Wann, wo und wie oft schliefen sie miteinander? Weder sah er etwas, noch hörte er Geräusche, die auf Lust und Erregung hingedeutet hätten.
Hinter den meisten Fenstern sah er alte Leute. Im Haus, das dem Badezimmerfenster seiner Wohnung gegenüber lag, schien niemand unter sechzig zu sein. Frauen versorgten ihre am Rollator gehenden oder im Rollstuhl sitzenden Männer. Sie schauten zu ihm herüber, als seien die gardinenlosen Fenster seiner Wohnung unanständig, und er schaute zurück, bis sie wegsahen und ihre Gardinen wieder vorzogen. Menschen, deren Tage gleich schienen, die die Vorhänge zurückschlugen, um einen Blick auf die Verderbtheit anderer zu werfen – nichts weiter brauchte er zu tun, als etwas länger als nötig zurückzusehen, und die Schatten verschwanden, und die Gardinen fielen wieder in Reih und Glied.
Sie sagte, dass sie rauchen wolle und tastete nach ihrer Handtasche. Er beobachtete sie: Ihren Busen konnte er sehen, während sie sich zurücklehnte, ihre gebräunte Haut, ihre Scham, die Haare an den Seiten nachrasiert, der Beginn dessen, das Courbet in seinem Bild den „Ursprung der Welt“ genannt hatte.
Auf der anderen Seite der Straße stand jemand am Fenster und sah in ihre Richtung. Jan konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, jemand, der beobachtete oder der ins Blaue schaute. Was sah der Fremde? Jan zog eine unsichtbare Linie über die Straße hinweg, und beruhigt stellte er fest, dass es nicht viel sein konnte. Der andere hätte aufs Dach klettern müssen, um mehr als ihre Köpfe zu sehen. War es ein Spanner?
Siehst du alles, fragte Jan ihn, ist dein Fernglas scharf genug?
Ja, antwortete der Unbekannte.
Und, fragte Jan weiter, was sollen wir als Nächstes machen?
Nicht so schnell, sagte der Spanner, lass dir Zeit, ihr habt noch alle Zeit der Welt und ich auch.
*
Sie verließen das Haus, er begleitete sie zum Bahnhof.
„Gilt dein Ticket noch?“, fragte er.
Sie zuckte die Achseln: „Ich denke schon.“
„Soll ich dir etwas leihen?“
Sie schüttete den Kopf, wirkte unruhig, als sehne sie das Eintreffen des Zuges herbei.
„Sehen wir uns wieder?“
„Ich weiß nicht.“
„Wie ist deine Adresse, gibst du sie mir?“
„Ich muss darüber nachdenken.“
„Hast du ein Kärtchen? Ich verspreche auch, ich nerve nicht.“
Sie schwieg, und er sah, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu fragen. Er bot ihr an, einen Kaffee und etwas zu essen für die Reise zu kaufen.
„Einen Kaffee, ja“, sagte sie.
Er ging zum Kiosk in der Mitte des Bahnsteigs und kaufte einen großen Kaffee im Becher, außerdem ein fertig verpacktes Sandwich.
Dann fuhr der Zug ein. Sie umarmte ihn zum Abschied.
„Melde dich, wenn du magst“, sagte er, sie nickte.
Er wartete, bis sie einen Platz gefunden hatte und winkte ihr zu.
Die Sonntagszeitung!, fiel ihm ein, er nahm sie aus dem Rucksack und hielt sie vor das Fenster. Er zeigte zur Tür, gestikulierte, ob sie sie holen wolle. Sie blieb sitzen.
Dann ein schriller Pfiff, die Türen fielen ins Schloss, der Zug fuhr langsam los und gewann schnell an Fahrt. Jan lief mit, winkte ins Abteil, legte noch einen Sprint hin, bis die Wagen zu schnell geworden waren. Er gab auf, blieb stehen, kam langsam wieder zu Atem.
Der Bahnsteig leerte sich. Er verließ ihn als letzter, ging in das Café, in dem sie gewesen waren, fragte, ob noch ein Bier da sei oder ob sie tags zuvor alles ausgetrunken hätten.
Die Angestellte brachte ihm eins.
Er nahm einige der ausliegenden Zeitungen, setzte und las darin. Trotz der großen Seiten fühlte er sich nackt, gleich so, als habe ihm jemand die Deckung weggerissen. Tief vergrub er sich in die Seiten und erst, nachdem er mehrere Zeitungen durchhatte, glaubte er, den Schutz, den sie boten, langsam wiederzugewinnen.