Die neue Stadt

Von

Zuerst erkan­nte er sie nicht. Dann stoppte er, drehte sich um und rief ihren Namen. Sie zögerte.

Er ging zurück und fragte sie, was sie hier mache.

„Ich steige um“, sagte sie.

„Fährst du nach Hause?“

„Wohnst du hier?“, antwortete sie mit ein­er Gegen­frage.

Er bejahte, sagte, dass er sich freue, sie zu sehen und schlug vor, in ein Café zu gehen, eines, das nicht weit ent­fer­nt gle­ich im Bahn­hof­s­ge­bäude liege.

Sie nick­te.

Er nahm ihr das Gepäck ab. Viel war es nicht: ein Rol­lkof­fer und eine kleine Tasche, bei­des aus fes­tem schwarzem Stoff. Ihre Klei­dung, eben­falls schwarz, wirk­te vornehmer, schick­er als das, was sie früher getra­gen hat­te.

Sie ging langsam. Er passte sich ihr an. Er ging nicht gerne langsam, es entsprach nicht dem Tem­po ein­er Stadt, in der alle schnell gin­gen.

„Was machst du hier? Arbeit? Fort­bil­dung? Urlaub?“ Er fragte hastig, als wolle er keine Antwort.

 

Im Café zeigte er auf einen freien Tisch am Fen­ster, sie set­zten sich.

„Bist du oft hier?“, fragte sie.

„Immer nach der Arbeit. Eine knappe Stunde. Sie haben alle wichti­gen Zeitun­gen.“

„Alle wichti­gen Zeitun­gen“, wieder­holte sie.

„Es ist eine Art Flucht­punkt“, erk­lärte er.

„Wovor flücht­est du?“

„Jed­er Men­sch braucht einen Flucht­punkt“, sagt er und hoffte, sich keine Blöße zu geben.

 

Das Café gehörte zu ein­er Buch­hand­lung, die zwei Eingänge hat­te. Man kon­nte sie vom Bahn­hof und von der Straße aus betreten, durfte Büch­er mit ins Café nehmen und darin lesen. Tat­säch­lich war er fast jeden Tag da. Ver­steckt hin­ter Tageszeitun­gen, deren Inhalt er über­flog, beobachtete er die Men­schen. Hin­ter den aufgeschla­ge­nen Seit­en der Zeitung fühlte er sich geschützt, fühlte er sich der Stadt und den Men­schen ver­bun­den. Jeden Tag kam er, um sich dieser Ver­bun­den­heit aufs Neue zu ver­sich­ern.

Päch­terin und Angestellte des Cafés begrüßten ihn wie einen alten Bekan­nten und bracht­en ihm die immer gle­iche Bestel­lung: Milchkaf­fee und ein mit Quark bestrich­enes und aller­lei gesun­dem Grün belegtes Schwarzbrot. Das hat­te er bei seinem ersten Besuch auf einem Neben­tisch gese­hen, hat­te das gle­iche ver­langt und war seit­dem dabei geblieben. Ein Glas Wass­er gab es kosten­los dazu; wenn er etwas anderes wollte, musste er es gle­ich nach dem Hereinkom­men sagen.

 

Ihr fiel auf, dass er sich wie zuhause fühlte, und sie fragte, ob das Café sein Wohnz­im­mer sei.

Er nick­te.

„Wo liegt deine Woh­nung?“

„Einige U-Bahn-Sta­tio­nen von hier.“

„Zeigst du sie mir?“

Er blick­te sie fra­gend an.

„Es inter­essiert mich, wie du jet­zt leb­st.“

„Wie früher: ein Zim­mer, Diele, Küche, Bad, Balkon. Ich brauche nicht viel.“

„Malst du noch?“

„Nein“, sagte er, „keine Ideen.“

Sie schwieg, und er fuhr fort: „Das Leben ist teur­er hier. Und der Wech­sel hat gekostet. Außer­dem wollte ich nicht so weit­er­ma­chen wie bish­er.“

„Du hast immer gerne gemalt“, sagte sie.

„Ich kann jed­erzeit wieder anfan­gen: Block, Stifte, ein paar Far­ben, mehr braucht es nicht.“

 

Etwas drück­te ihm auf den Magen. Er sagte, dass er zur Toi­lette müsse und entschuldigte sich. Er schloss sich in eine Kabine ein, legte den Bril­len­rand mit Klopa­pi­er aus und set­zte sich.

Die Luft war stick­ig, und blaues Licht, das Junkies abschreck­en sollte, ließ den Raum unwirk­lich erscheinen. Es erin­nerte ihn an seine Besuche im Muse­um für mod­erne Kun­st, nicht weit vom Bahn­hof ent­fer­nt, an Instal­la­tio­nen, die ganze Räume verän­derten. Neue Wahrnehmungen – in ihm einzig den Wun­sch wachrufend, solche Räume möglichst schnell wieder zu ver­lassen.

 

Er dachte daran, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. Und er dachte, dass er ver­rückt sein müsse, dies in Betra­cht zu ziehen. Wusste er, was sie die let­zte Zeit gemacht hat­te? Er erin­nerte sich an ihre Diskus­sio­nen „mit oder ohne Gum­mi“, und dass es meist auf „ohne Gum­mi“ hin­aus­ge­laufen war. Sie hat­ten sich benom­men, als hät­ten sie nicht ein, son­dern mehrere Leben.

„Mit dir schlafe ich ohne Kon­dom“, hat­te sie gesagt.

„Ach, und mit anderen?“

Er erin­nerte sich an seine Ver­suche, Wider­sprüche und Eifer­sucht in Alko­hol aufzulösen, erin­nerte sich an den mor­gendlichen Katzen­jam­mer und den viel zu oft gefassten Entschluss: Ich muss etwas ändern!

Dass sie wieder da war, ver­set­zte ihn zurück. Es war, als sei sein Umzug für ungültig erk­lärt wor­den.

 

Er ging zurück zum Tisch und bestellte, die Theke passierend, zwei Biere. Noch nie hat­te er hier Alko­hol getrunk­en. Er wusste nicht ein­mal, ob sie welchen hat­ten. Die Chefin und ihre Angestellte, bei­de blick­ten ihn ver­dutzt an, so dass er seine Bitte vor­sicht­shal­ber wieder­holte.

Doch er hat­te auf ein­mal Lust, sich hem­mungs­los zu betrinken, mit ihr, und wenn sie nicht wollte, dann auch ohne sie.

 

 

*

 

 

Sie ver­ließen das Café kurz vor Laden­schluss. Angetrunk­en, albern, grund­los lachend gin­gen sie zur U-Bahn. Er wusste nicht, ob er ihr die Hand reichen sollte, sie schien es eben­falls nicht zu wis­sen, so dass es bei kurzen, wie zufäl­lig ausse­hen­den Berührun­gen blieb.

Nach weni­gen Kilo­me­tern wurde die U-Bahn­lin­ie oberirdisch. Neugierig blick­te sie aus dem Fen­ster, schien alle neuen Ein­drücke aufnehmen, fes­thal­ten zu wollen.

„Bist du gerne hier?“, fragte sie.

Er bejahte und fragte, wie lange sie bleiben werde.

„Der Zug, den ich nehmen wollte, ist weg.“

„Wir sind gle­ich da“, sagte er, stand auf und nahm ihr Gepäck.

 

Unter­wegs kamen sie an ein­er Gast­stätte vor­bei, die er häu­figer besuchte; er fragte, ob sie Lust habe einzukehren.

„Warum nicht“, sagte sie.

Sam­stagabend, es war voll, die Musik lief laut, der Bil­lardtisch war beset­zt, obwohl es kaum möglich schien, in dieser Enge zu spie­len. Die Kell­ner arbeit­eten sich mit Tabletts, die sie über die Köpfe hiel­ten, durch die Menge und verteil­ten Biere und Striche auf Deck­el.

Er fragte, was sie trinken wolle und sorgte dafür, dass sie schnell etwas bekam.

„Lust auf ein Spiel?“, fragte er und zeigte auf den Tisch.

„Erwarte nicht zu viel“, sagte sie, „ich kann das nicht beson­ders.“

„Macht nichts“, erwiderte er und bot ihr seine Hil­fe an – nicht ganz ohne Hin­ter­sinn, war Bil­lard doch eine der weni­gen Möglichkeit­en, sich jeman­dem zu näh­ern, ohne dass es gle­ich als Zudringlichkeit aufge­fasst wurde. Er legte zwei Eurostücke an den Rand.

Seine Bitte, ein Spiel mit sein­er Begleitung alleine machen zu dür­fen, lehn­ten die Gewin­ner am Tisch ab, also mussten sie gegen sie antreten. Er warf einen Euro ein, baute die Kugeln auf und – wer baut, der haut – stieß an. Da er davon aus­ging, dass sie ohne­hin ver­lieren wür­den, hielt sich sein Ehrgeiz in Gren­zen. Lieber konzen­tri­erte er sich darauf, ihr zu helfen, stellte sich hin­ter sie und hielt ihren Queue, während sie spielte. Er spürte, wie schlank sie war, wie gut sie sich bewegte, und selb­st in der Kneipen­luft kon­nte er ihr Deo riechen.

 

Ihre Geg­n­er versenk­ten die schwarze Kugel falsch, und sie blieben am Tisch. Ein weit­eres Spiel begann, wieder half er ihr, führte ihre Hand bei jedem Stoß, obwohl sie es schon gut, vielle­icht bess­er, alleine hin­bekom­men hätte. Er wün­schte, das Spiel höre nie auf. Täuschte es ihn, oder ließ sie sich nach jedem gelun­genen Spielzug ein wenig gegen ihn fall­en, damit er sie hielt? Seine Kneipenkumpels gafften ver­stohlen herüber, ihr Neid gefiel ihm gut. Die Kneipe wurde zur kleinen Bühne, auf der sie ihren kurzen Auftritt hat­ten, und er fürchtete sich ein wenig vor dem Moment, da sie die Bühne ver­lassen mussten.

 

Schließlich ver­loren sie. Sich nochmals anzumelden hätte keinen Sinn gehabt, sie wären früh­estens in ein­er Stunde wieder dran gewe­sen. Er nahm den übrig gebliebe­nen Euro vom Rand, zahlte die Getränke, ver­ließ mit ihr die Gast­stätte.

„Du hast dich gut ein­gelebt“, sagte sie.

„Find­est du?“

„Alle grüßen dich.“

„Ja, aber wirk­liche Fre­unde sind noch nicht dabei.“

Sie erre­icht­en das Haus, in dem er wohnte, er schloss auf, ging voraus.

Sie fragte, wie viele Stock­w­erke es seien.

„Vier“, antwortete er, ging weit­er, drehte sich ab und zu um, schick­te ein Lächeln nach hin­ten, als fürchte er, sie wieder zu ver­lieren.

Im Vor­beige­hen las sie die Namen an den Türen, Namen auf glänzen­den Stahl- und Mess­ingschildern – in einem ordentlichen Haus, in das seine Com­put­er­aus­drucke, die er nach dem Einzug ange­bracht hat­te, nicht passten. Sie störten das Bild, so stand es eines Tages auf einem Zettel, den er ohne Absender auf der Fuß­mat­te vor sein­er Woh­nungstür fand. Darunter waren Name und Adresse eines Schilder- und Stem­pel­mach­ers aufgeschrieben. „Jan Wegen­er“ prangte es schon wenige Tage später gülden von sein­er Klin­gel und Woh­nungstür.

 

Seine Garder­obe war über­voll behängt. Er nahm ihre und seine Jacke und legte bei­des neben die Schlaf­couch, ver­steck­te seinen Schlafanzug, der herum­lag.

„Musik?“

Sie zuck­te die Achseln.

„Kaf­fee?“

„Was hast du son­st noch?“

„Etwas Wein.“

„Wein? Hat­test du Besuch?“

Er spülte zwei Gläs­er nach, nahm eine noch hal­b­volle Flasche und goss ein. Er hielt sein Glas hoch und prostete ihr zu: „Auf uns!“

Sie prostete ihm eben­falls zu, trank etwas, ging mit dem Glas in der Hand zum Bücher­regel, las die Titel.

„Du hast viele neue Büch­er“, bemerk­te sie.

„Die Abende sind lang und ein­sam“, erk­lärte er, „deine auch?“

„Lang und ein­sam.“

Sie betra­chtete seinen Schreibtisch, auf dem sich die Unter­la­gen stapel­ten. Mit dem Zeigefin­ger fuhr sie über die Tis­ch­plat­te und hielt ihm die staubige Fin­gerkuppe hin: „Dir fehlt eine Frau!“

„Ich glaube kaum, dass ich eine finde, die ...“

„So meine ich das nicht“, unter­brach sie, „du acht­est bes­timmt mehr auf dich, wenn du jeman­den hast.“

„Möglich“, antwortete er.

Sie trank ihr Glas aus und bat ihn nachzuschenken.

„Ich kann zum Kiosk gehen, neuen holen“, bot er an, und sie willigte ein.

Er nahm seine Jacke.

Sie kam zu ihm, fasste ihn um die Taille und hauchte ihm ins Ohr: „J’attendrais.“

 

 

*

 

 

Als er zurück­kam, war die Dusche angestellt. Laut ließ er die Tür ins Schloss fall­en, dass sie es hören musste.

Sie rief, ob er ein Hand­tuch habe.

Er nahm eins und legte es auf den Waschbeck­en­rand. Der Duschvorhang verdeck­te den Blick auf sie. Ihre Klei­dung lag ordentlich gefal­tet auf einem Badez­im­mer­stuhl.

Sie, die Klei­dung, der Wasser­dampf, der Geruch des Duschgels – all das erschien ihm wie eine Auf­forderung. Er zog sich aus und legte, weil kein ander­er Platz frei war, seine Sachen über ihre. Er wollte ger­ade zu ihr kom­men, als das Wass­er stoppte.

Sie schlug den Vorhang zurück und sah ihn ver­dutzt an. „Jet­zt kannst du, es ist frei“, sagte sie und ver­ließ die Kabine.

„Ja, Danke.“ Er stieg hinein, stellte das Wass­er wieder an, duschte.

 

Als er ins Zim­mer kam, stand sie in der Tür zum Balkon und rauchte.

Er sah sie an.

„Stört es dich?“, fragte sie, auf die Zigarette deu­tend.

„Nein, nein, schon o.k.“

„Ich kann sie aus­machen.“

„Ich hab’s drangegeben“, verkün­dete er stolz.

„Warum sind so viele dein­er Büch­er eingeschweißt?“, wech­selte sie das The­ma und zeigte auf die fün­fzig Bände ein­er Sam­mel­rei­he, von denen er besten­falls ein halbes Dutzend gele­sen hat­te. „Vielle­icht ste­hen sie zum Angeben hier.“

Er wollte wider­sprechen, doch er schwieg und sagte sich, dass es keinen Grund gab, sich zu recht­fer­ti­gen.

Sie ent­deck­te seine Gitarre, die neben dem Bücher­re­gal an die Wand gelehnt stand und bat ihn, etwas zu spie­len.

„Was denn?“, fragte er.

Sie nan­nte ein paar Titel, die er entwed­er nicht kan­nte oder nicht gut beherrschte.

„House of the ris­ing sun kann ich“, sagte er, „kennst du das?“

„Klar“, sagte sie und nick­te als Zeichen, dass er anfan­gen solle.

Er set­zte sich und stimmte die Sait­en nach. „Wer nichts kann, spielt House of the ris­ing sun“, lachte er und begann. Er spielte wohl nicht schlecht, denn sie summte mit und bewegte den Fuß im Takt. Doch schon bei der zweit­en Stro­phe fiel ihm der Text nicht mehr ein, und er sang nur noch Lalala.

„Du bist nicht sehr textsich­er.“

„Ich habe schon etwas getrunk­en.“

Er ver­suchte er sich an Yes­ter­day. Der Auf­takt klang vielver­sprechend, aber schon bei „Why she had to go?“ haperte es. Die Akko­rd­folge an dieser Stelle bekam er nicht hin, pro­bierte es mehrere Male, doch ver­spielte sich immer wieder. Er unter­brach und schlug stattdessen Let it be vor. Hier set­zten die Schwierigkeit­en gle­ich mit den ersten Sil­ben ein. Also sparte er sich die Stro­phen, kam gle­ich zum Refrain und trällerte „Let it be“. Sie summte mit, doch mehr aus Anstand als aus Begeis­terung, wie ihm schien. Die Anfänge von Come togeth­er und All you need is love fol­gten, doch jet­zt noch ein Stück mit mehreren Tak­twech­seln hinzubekom­men – nichts lag fern­er. Das kleine Bea­t­les-Med­ley ver­puffte so zaghaft, wie es begonnen hat­te. Ihn wun­derte, dass er sie damit noch nicht in die Flucht gesun­gen hat­te.

Er reichte ihr die Gitarre und sagte, sie solle es ver­suchen. Er set­zte sich neben sie, beugte sich zu ihr, führte ihre Hand über das Griff­brett, ließ ihre Fin­ger über die Sait­en wan­dern.

Sie schlug an, er griff die Akko­rde dazu, sie lachte und sagte, sie und die Gitarre, das habe wohl keinen Sinn.

Er beugte sich zu ihr und ver­suchte sie zu küssen.

„Und das wohl auch nicht“, fügte sie hinzu.

 

 

*

 

 

Die Nacht war kurz und schlecht, Kopf­schmerzen plagten ihn, und er fragte sich, wer eigentlich den Spruch erfun­den hat­te: „Wein auf Bier, das rat ich dir“?

Es gefiel ihm gut, dass jemand da war, und er dachte daran, wie es wäre, wieder in ein­er fes­ten Beziehung zu sein. Er hat­te sich so ans Allein­sein gewöh­nt, dass ihm der Gedanke, es könne etwas fehlen, gar nicht mehr kam. Er beobachtete seinen Gast im blassen Licht, das von draußen durch die Vorhänge ins Zim­mer schien und fragte sich, wovor er damals eigentlich geflüchtet war, vor ihr oder vor sich selb­st? Doch er war ein schlechter Psy­chologe, kan­nte die Antwort bis heute nicht, und damals hat­te es für ihn nur die Lösung gegeben, etwas Neues zu begin­nen.

 

Bald schon wurde es hell, seine dün­nen Vorhänge hiel­ten die Mor­gen­sonne kaum noch zurück. Sie störte das offen­bar nicht, sie schlief weit­er auf sein­er Couch, während er auf­s­tand und die Deck­en bei­seite räumte, auf denen er gele­gen hat­te. Er ging in die Küche, bere­it­ete Kaf­fee, öffnete das Fen­ster. Draußen herrschte die Tyran­nei der Vögel, die um die Wette jubilierten, und in seinen Ohren klang es wie Krei­de, die jemand über eine Schultafel zieht. Er dachte daran, sie mit einem Früh­stück zu über­raschen, doch bis auf Kaf­fee, Marme­lade und einen Rest But­ter war nichts da. Sein näch­ster Gedanke „Heute ist ja Son­ntag!“ ver­set­zte ihn in Panik. Zwei Straßen weit­er war ein Kiosk. Der aber hat­te nicht viel. Blieb nur der Bahn­hof. Bis er hin und zurück war, wäre eine Stunde ver­gan­gen. Wenn er gle­ich los­fuhr, kön­nte er es vielle­icht schaf­fen, bevor sie aufwachte.

Am Spül­beck­en machte er sich frisch, zog sich an, schrieb ihr einen Zettel und ver­ließ so leise wie möglich die Woh­nung.

 

 

*

 

 

Auf der Straße klang das Vogel­gezwitsch­er noch ein­mal ein paar Phon lauter. Und das Rosarot der japanis­chen Kirschbäume, die vor weni­gen Tagen ange­fan­gen hat­ten zu blühen, stach ihm in die Augen. Keine zwei Wochen, dann würde der Spuk vor­bei sein, wür­den die Blüten wie auf Kom­man­do abfall­en und die Straße ausse­hen lassen, als habe es geschneit. Noch Wochen später würde er die rosa­nen Blät­ter, die unter den Sohlen kleben blieben, in sein­er Woh­nung find­en.

 

In den Straßen und in der U-Bahn waren kaum Men­schen, erst im Haupt­bahn­hof kehrte das Leben zurück. Son­ntagsaus­flü­gler warteten auf ihre Züge und bracht­en sich mit und ohne Alko­hol in Stim­mung.

Er ging zum Super­markt und kaufte ein, ohne auf die Preise zu acht­en. Er kaufte mehr, als sie an diesem Tag je wür­den essen kön­nen, und mit zwei Tüten voller Lebens­mit­tel und ein­er Son­ntagszeitung fuhr er zurück.

 

 

*

 

 

Als er ankam, wollte sie ger­ade gehen, sie stand im Flur, den Rol­lkof­fer neben sich.

„Vielle­icht noch ein Früh­stück, bevor du fährst?“ Er ging er in die Küche, legte Zeitung und Lebens­mit­tel auf den Tisch.

Sie zog ihre Jacke wieder aus, kam zu ihm und set­zte sich. „Hast du Tee?“, fragte sie.

Er bejahte und goss welchen auf.

Sie nahm die Zeitung und blät­terte darin.

„Du kannst sie haben, für die Reise“, sagte er.

Er bere­it­ete den Tisch vor, stellte alles hin, was er mit­ge­bracht hat­te und was noch im Kühlschrank war. Auch einen Pic­co­lo hat­te er gekauft, öffnete ihn und füllte zwei Gläs­er. Es waren nor­male Gläs­er, solche für Sekt besaß er nicht, er war auf Sit­u­a­tio­nen wie diese nicht vor­bere­it­et und nahm sich vor, dies gle­ich in den näch­sten Tagen zu ändern.

Sie sagte, sie müsse erst etwas essen, son­st sei sie gle­ich betrunk­en.

Er nick­te und sagte, bei ihm sei es das­selbe.

Sie hielt einen Teil der Zeitung in der Hand, er einen anderen, sie lasen, ihre Blicke trafen sich, sie lasen weit­er -, und er dachte, dass es neben manch anderem vor allem dieses wort­lose Ver­ständ­nis war, das er seit seinem Umzug am meis­ten ver­mis­ste. Er war froh, dass sie da war, und er hat­te den Ein­druck, dass auch sie sich wohl bei ihm fühlte.

 

Bald aber merk­te er, wie eine schon vergessene Anspan­nung zu ihm zurück­kehrte, und er stellte sich die Frage, ob es beim Früh­stück bleiben solle oder ob mehr passieren könne.

Ohne zu warten, bis sie zu Ende gegessen hat­te, stand er auf und ging um den Tisch herum. Es hätte ihn nicht gewun­dert, wenn sie aufge­s­tanden und wegge­laufen wäre, doch sie blieb sitzen und schien nicht ein­mal über­rascht.

„Wieso bist du mit­gekom­men?“, fragte er.

„Weil ich dich mag.“ Sie musterte ihn, ihr Blick wech­selte zwis­chen seinen Augen hin und her, es sah aus, als kon­trol­liere sie den Aus­druck seines Gesichts, kon­trol­liere ihn.

Er gab ihr einen Kuss, den sie erwiderte, küsste sie auf die Wange, den Hals, das Ohr, den Mund. Er spürte ihre schlanke Taille, ihren fes­ten Busen, ihren kleinen Bauch. Pullover und T-Shirt zog er ihr aus.

„Nicht so schnell“, sagte sie.

„Gehen wir ins Zim­mer?“, fragte er.

Im Radioweck­er suchte er einen Sender mit passender Musik, legte ein Hand­tuch auf den Laut­sprech­er, damit es nicht zu schrill klang. Er holte den Sekt und stieß mit ihr an.

Sie fragte ihn nach einem Kon­dom.

Er müsse eines suchen, sagte er.

„Beeil dich“, sagte sie.

Er suchte im Bad, in der Küche, im Zim­mer, zweifel­nd, ob er über­haupt welche hat­te. Schließlich ent­deck­te er zwei kleine schwarze Päckchen, die er vor Wochen von einem Info­s­tand der Aids-Hil­fe mitgenom­men hat­te, extra dicke und reißfeste Kon­dome, an denen auch das aggres­sivste Virus scheit­ern musste. Lei­der auch das Gefühl. Er kam zurück und legte die kleinen Pack­un­gen neben das Sofa.

 

Sie öffnete seinen Gür­tel und Reißver­schluss, berührte ihn mit der Hand und tat, als sei sie erstaunt, was passierte. „Nanu?“, fragte sie und sah ihn an.

Ihm war es pein­lich: Was vor allem sicht­bar wurde, ver­di­ente nicht mehr die Beze­ich­nung Bauch, son­dern Wampe. Wenn er sich weit­er gehen ließ, würde bald kein Her­ankom­men mehr sein an all das, was sich nach Berührung sehnte. In solchen Momenten nahm er sich vor, dies gle­ich am näch­sten Tag zu ändern, auf Alko­hol zu verzicht­en, Sport zu treiben, wieder der zu wer­den, der er ein­mal gewe­sen war. Er nahm sich vor, Män­ner- und Fit­ness­magazine im Dutzend einzukaufen, die Anweisun­gen darin streng zu befol­gen (dabei hat­te er ger­ade den Erfolg, den solche Zeitschriften als Lohn für alle Mühen ver­sprechen), oder er kramte die drei Medaillen aus sein­er Leich­tath­letik-, sprich: aus grauer Vorzeit her­vor, von denen nicht umson­st die erste gold­en, die zweite sil­bern und die dritte bronzen war. Zeug­nisse des Abstiegs, Doku­mente des Ver­falls. Was fand sie an ihm?

Doch sie beugte sich zu ihm, küsste und stre­ichelte ihn, dass er angesteckt wurde von ihrer Lust und seine Furcht zu ver­sagen ver­gaß.

 

 

*

 

 

Sie waren laut, Nach­barn hät­ten sie hören kön­nen – hören in dieser ruhi­gen, als bevorzugt gel­tenden Wohnge­gend, mit diesen Men­schen, die in ihren Zim­mern vor dem Fernse­her saßen und das Leben an sich vor­beiziehen ließen. Jedes Mal sah er das gle­iche Bild, wenn er aus dem Fen­ster blick­te. Wann, wo und wie oft schliefen sie miteinan­der? Wed­er sah er etwas, noch hörte er Geräusche, die auf Lust und Erre­gung hingedeutet hät­ten.

Hin­ter den meis­ten Fen­stern sah er alte Leute. Im Haus, das dem Badez­im­mer­fen­ster sein­er Woh­nung gegenüber lag, schien nie­mand unter sechzig zu sein. Frauen ver­sorgten ihre am Rol­la­tor gehen­den oder im Roll­stuhl sitzen­den Män­ner. Sie schaut­en zu ihm herüber, als seien die gar­di­nen­losen Fen­ster sein­er Woh­nung unanständig, und er schaute zurück, bis sie wegsa­hen und ihre Gar­di­nen wieder vor­zo­gen. Men­schen, deren Tage gle­ich schienen, die die Vorhänge zurückschlu­gen, um einen Blick auf die Verderbtheit ander­er zu wer­fen – nichts weit­er brauchte er zu tun, als etwas länger als nötig zurück­zuse­hen, und die Schat­ten ver­schwan­den, und die Gar­di­nen fie­len wieder in Reih und Glied.

 

Sie sagte, dass sie rauchen wolle und tastete nach ihrer Hand­tasche. Er beobachtete sie: Ihren Busen kon­nte er sehen, während sie sich zurück­lehnte, ihre gebräunte Haut, ihre Scham, die Haare an den Seit­en nachrasiert, der Beginn dessen, das Courbet in seinem Bild den „Ursprung der Welt“ genan­nt hat­te.

Auf der anderen Seite der Straße stand jemand am Fen­ster und sah in ihre Rich­tung. Jan kon­nte nicht erken­nen, ob es ein Mann oder eine Frau war, jemand, der beobachtete oder der ins Blaue schaute. Was sah der Fremde? Jan zog eine unsicht­bare Lin­ie über die Straße hin­weg, und beruhigt stellte er fest, dass es nicht viel sein kon­nte. Der andere hätte aufs Dach klet­tern müssen, um mehr als ihre Köpfe zu sehen. War es ein Span­ner?

Siehst du alles, fragte Jan ihn, ist dein Fer­n­glas scharf genug?

Ja, antwortete der Unbekan­nte.

Und, fragte Jan weit­er, was sollen wir als Näch­stes machen?

Nicht so schnell, sagte der Span­ner, lass dir Zeit, ihr habt noch alle Zeit der Welt und ich auch.

 

 

*

 

 

Sie ver­ließen das Haus, er begleit­ete sie zum Bahn­hof.

„Gilt dein Tick­et noch?“, fragte er.

Sie zuck­te die Achseln: „Ich denke schon.“

„Soll ich dir etwas lei­hen?“

Sie schüt­tete den Kopf, wirk­te unruhig, als sehne sie das Ein­tr­e­f­fen des Zuges her­bei.

„Sehen wir uns wieder?“

„Ich weiß nicht.“

„Wie ist deine Adresse, gib­st du sie mir?“

„Ich muss darüber nach­denken.“

„Hast du ein Kärtchen? Ich ver­spreche auch, ich nerve nicht.“

Sie schwieg, und er sah, dass es keinen Sinn hat­te, weit­er zu fra­gen. Er bot ihr an, einen Kaf­fee und etwas zu essen für die Reise zu kaufen.

„Einen Kaf­fee, ja“, sagte sie.

Er ging zum Kiosk in der Mitte des Bahn­steigs und kaufte einen großen Kaf­fee im Bech­er, außer­dem ein fer­tig ver­pack­tes Sand­wich.

Dann fuhr der Zug ein. Sie umarmte ihn zum Abschied.

„Melde dich, wenn du magst“, sagte er, sie nick­te.

Er wartete, bis sie einen Platz gefun­den hat­te und wink­te ihr zu.

Die Son­ntagszeitung!, fiel ihm ein, er nahm sie aus dem Ruck­sack und hielt sie vor das Fen­ster. Er zeigte zur Tür, gestikulierte, ob sie sie holen wolle. Sie blieb sitzen.

Dann ein schriller Pfiff, die Türen fie­len ins Schloss, der Zug fuhr langsam los und gewann schnell an Fahrt. Jan lief mit, wink­te ins Abteil, legte noch einen Sprint hin, bis die Wagen zu schnell gewor­den waren. Er gab auf, blieb ste­hen, kam langsam wieder zu Atem.

 

Der Bahn­steig leerte sich. Er ver­ließ ihn als let­zter, ging in das Café, in dem sie gewe­sen waren, fragte, ob noch ein Bier da sei oder ob sie tags zuvor alles aus­getrunk­en hät­ten.

Die Angestellte brachte ihm eins.

Er nahm einige der aus­liegen­den Zeitun­gen, set­zte und las darin. Trotz der großen Seit­en fühlte er sich nackt, gle­ich so, als habe ihm jemand die Deck­ung weg­geris­sen. Tief ver­grub er sich in die Seit­en und erst, nach­dem er mehrere Zeitun­gen durch­hat­te, glaubte er, den Schutz, den sie boten, langsam wiederzugewin­nen.