Die Zukunft des menschlichen Körpers

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Es riecht nach Abstel­lka­m­mer und Toi­let­ten­reiniger; Tis­che, Stüh­le und ein Red­ner­pult ste­hen zusam­mengeschoben in der Ecke. Die Wände hän­gen voller Plakate von Ausstel­lun­gen ander­er Städte, auch zwei Plakate dieser Ausstel­lung sind vertreten: „Die Zukun­ft des men­schlichen Kör­pers.“ Abge­bildet sind men­schenähn­liche Wesen, deren Glied­maßen an falschen Stellen sitzen und die ihn aus stumpfen dun­klen Augen anblick­en. Kopf­schüt­tel­nd geht Frank an ihnen vor­bei, geht zu seinem Spind, nimmt Pausen­brot und Zeitung her­aus, kehrt zurück nach oben, bit­tet den Kol­le­gen, seinen Bere­ich während sein­er Pause mit zu übernehmen. „Ist ja nicht viel los heute“, sagt er, es klingt wie eine Entschuldigung.

„Kein Muse­um­swet­ter“, antwortet der Kol­lege und zeigt zum Fen­ster, hin­ter dem die Park­land­schaft, die das Muse­um umgibt, im schön­sten Son­nen­schein liegt.

Die Hände des Kol­le­gen hal­ten ein Funkgerät fest umk­lam­mert, kleine Kam­eras sind an der Decke, und Streifen auf dem Boden zeigen an, wie nahe sich die Besuch­er den Bildern näh­ern dür­fen.

Es kann nichts passieren, sagt sich Frank und hat doch Zweifel. Ger­adezu ver­loren wirkt der andere in seinem dunkel­grauen und mit feinen roten Streifen abge­set­zten Dien­stanzug, keine Spur von der ein­drucksvollen Erschei­n­ung, die er eigentlich abgeben sollte.

Frank, der den gle­ichen Anzug trägt, hofft, darin eine bessere Fig­ur zu machen.

 

Die Kol­le­gin in der Cafe­te­ria bere­it­et ihm einen Kaf­fee und bringt ihn an den Tisch.

„Nicht viel los heute“, sagte sie.

„Kein Muse­um­swet­ter“, antwortet er. Er gibt ihr achtzig Cent, den Mitar­beit­er-Kaf­feep­reis, hängt sein Sakko über die Stuh­llehne, nimmt ein schmales Notizheft her­vor, macht sich Noti­zen über das, was ihm in den ersten Stun­den sein­er Schicht einge­fall­en ist, bevor er es ver­gisst. Er mag das Muse­um, die Ruhe, die Ein­tönigkeit der Tage. Die Arbeit hier ist genau das richtige für ver­schrobene Typen, gelang­weilte Rent­ner oder eben solche, die Schrift­steller sein wollen, solche wie ihn.

 

Eine junge Frau betritt die Cafe­te­ria, bleibt ste­hen, blickt sich suchend um, set­zt sich an einen Tisch wenige Meter von ihm ent­fer­nt. Sie bestellt Kaf­fee und Kuchen, nimmt ihr Handy, schreibt eine SMS. Sie fragt die Angestellte, ob sie hier rauchen dürfe, diese verneint. Den­noch sucht sie in ihrer Hand­tasche, und Frank fragt sich schon, ob sie sich über das Ver­bot hin­wegset­zen will, als sie statt Zigaret­ten ein Buch her­vorzieht. Er erschrickt: Es ist sein Buch. Sein Erstling, fast schon vergessen, kaum noch zu haben, nicht mehr liefer­bar, allen­falls auf Ram­schtheken zu find­en und tat­säch­lich: Auch dieses Exem­plar trägt jenen bre­it­en Edding-Streifen auf dem Rand, der es als Män­gelex­em­plar kennze­ich­nen soll.

Sein Buch, ein Män­gelex­em­plar? Die Ent­täuschung darüber kämpft in ihm mit der Neugierde, wer sie ist und warum sie aus­gerech­net dieses Buch liest. Kann jemand noch Gefall­en an den Geschicht­en find­en, die er vor vie­len Jahren schrieb?

Schon nach weni­gen Augen­blick­en ist sie ganz in das Buch ver­tieft, liest eine Erzäh­lung, die unge­fähr in der Mitte ste­hen muss, aber welche? Anhand der Absätze, anhand des Schrift­bildes der Seit­en ver­sucht er zu erken­nen, an welch­er Stelle sie sich befind­et, doch es gelingt ihm nicht.

­­Eine Vier­tel­stunde braucht sie für die Erzäh­lung, eine weit­ere begin­nt sie nicht mehr. Sie zahlt, steckt das Buch ein, geht in den zweit­en Teil der Ausstel­lung, in die Son­der­schau. Frank, der zurück in seinen Bere­ich müsste, fol­gt ihr.

 

Für die Son­der­schau sind alle Fen­ster ver­dunkelt wor­den, Pro­jek­toren wer­fen zuck­ende Lichter an Wände und Deck­en, es erin­nert an Höhlen, ein wenig auch an Geis­ter­bahn. Jed­er Raum ist eine Welt für sich, ein dun­kler Kos­mos mit hellen Ster­nen, die, von unsicht­bar­er Regie geführt, über die Decke huschen.

„Die Zukun­ft des men­schlichen Kör­pers.“ Die Kün­stler scheinen nichts anderes im Sinn gehabt zu haben, als Kör­p­er auseinan­derzunehmen, sie in ihre Glied­maßen zu zer­legen und in neuer Anord­nung wieder zusam­men­zuset­zen. Die Besuch­er glauben sich Men­schen zu näh­ern, doch es sind Pro­jek­tio­nen, die kopf­ste­hen, tanzen, lachen und vorgeben, mit ihnen zu sprechen. Es hört sich an, als lacht­en sie sie aus. Andere Fig­uren beste­hen aus Kun­st­stoff, haben zwei Köpfe und ein halbes Dutzend Geschlecht­steile. Wieder andere sind auf das zehn­fache ver­größert und nur in Teilen vorhan­den, weil sie als Ganzes in den Räu­men keinen Platz gefun­den hät­ten.

Frank ken­nt die Räume, bewegt sich nor­maler­weise in ihnen, als sei er dort zu Hause, doch nun kön­nte er nicht mehr sagen, wo er sich ger­ade befind­et. Er kommt ins Helle, ins Dun­kle, und soll die Anord­nung ihn vol­lends ver­wirren, haben die Kün­stler bei ihm ihr Ziel schon erre­icht.

„Bleib ruhig! Geh langsam!“, befiehlt er sich selb­st und ver­sucht so zu gehen, wie eine Muse­um­sauf­sicht üblicher­weise geht: gemäch­lichen Schrittes, die Hände auf dem Rück­en ver­schränkt, kri­tisch über den Rand ihrer Halb­brille sehend (sofern vorhan­den), mit ern­stem Gesicht und eher nach unten als nach oben geneigten Mund­winkeln.

 

In einem der Räume läuft ein Film. Das spär­liche Licht, das von der Lein­wand zurück­strahlt, ver­liert sich an den mit schwarzem Tuch verklei­de­ten Wän­den, es dauert, bis sich seine Augen daran gewöh­nt haben. Er tastet sich zu den Stuhlrei­hen vor, set­zt sich hin.

Der Film zeigt die Kün­stler der Ausstel­lung bei der Arbeit, ihre Pläne und Ideen. Sie sitzen in flachen Ses­seln, sehen in die Kam­era, rauchen und erk­lären, was sie mit ihren Arbeit­en meinen. Manche rauchen, ohne zu erk­lären.

Die Vor­führung inter­essiert ihn nicht. Ohne­hin kön­nte er sich darauf nicht konzen­tri­eren, denn er spürt die Anwe­sen­heit ein­er zweit­en Per­son, und er ist sich­er, dass es die Unbekan­nte ist. Er kann sie nicht sehen, doch er riecht ihr Par­füm, und er hört ein leis­es Räus­pern, das nicht aus den Laut­sprech­ern kommt. Sie muss nahe bei ihm sein. Er dreht sich um, aber er sieht nur Schwarz.

 

Der Film endet und begin­nt von vorn. Er hört, dass die Frau auf­ste­ht und geht, wartet einige Augen­blicke, geht eben­falls. Doch er find­et sie nicht, nicht in diesem Raum und nicht in den näch­sten, er geht schneller, begin­nt zu laufen, um ihn herum drehen sich die kün­stlichen Wesen, dreht sich „Die Zukun­ft des men­schlichen Kör­pers“, drehen sich Arme, Beine, Köpfe, Hände, Geschlecht­steile. Wort­fet­zen erschreck­en ihn, Bilder schießen vor­bei, die Kün­stler haben eine Fährte gelegt, die ger­adewegs in den Wahn zu führen scheint, er will nur noch eins: möglichst schnell wieder raus. Nicht mehr lange, fürchtet er, bis sein Wider­stand gebrochen ist, bis ihn unsicht­bare Hände pack­en, auseinan­der­reißen, neu zusam­menset­zen und in eine Rei­he zu den übri­gen Fig­uren stellen.

Er will eine Abkürzung nehmen, eine niedrige Mauer über­sprin­gen, die ihn vom näch­sten Raum tren­nt, doch er bleibt hän­gen, stolpert und fällt der Länge nach hin. Es dauert einige Augen­blicke, bis er sich beson­nen hat.

Vor ihm ste­ht die Unbekan­nte, neben ihr ein Kol­lege, und Frank weiß nicht, vor wem er sich mehr schä­men soll.

Sie beugt sich zu ihm und fragt, ob er sich ver­let­zt habe.

„Ich denke nicht“, sagt er, rap­pelt sich auf, set­zt sich auf die Mauer und tastet seine Beine ab.

„Noch alles ganz?“, fragt der Kol­lege.

„Ja“, antwortet Frank und spürt, dass er errötet.

„Sind Sie sich­er?“, fragt sie.

„Ich denke schon.“

Der Kol­lege will ihn stützen, ihm beim Auf­ste­hen helfen, sagt, dass er den Vor­fall ins Unfall­buch ein­tra­gen müsse, für den Fall, dass etwas nachkomme, doch Frank lehnt ab. Er sieht die Unbekan­nte zum Aus­gang gehen, sieht sie das Muse­um ver­lassen und eilt hin­ter­her.

 

Er fol­gt ihr durch den Park bis zur Straße, zu ein­er Kreuzung, wo sie anhält. „Ist wohl nicht jed­er­manns Sache, das mit den Kör­pern“, spricht er sie an.

Sie zögert, als wisse sie nicht, was sie von ihm hal­ten solle. „Ein wenig gewöh­nungs­bedürftig“, gibt sie ihm Recht.

Er fragt, ob sie zum ersten Mal in dem Muse­um gewe­sen sei.

„Nein“, sagt sie. „Und Sie?“

„Ich bin häu­figer dort“, antwortet er und ist froh, dass sie ihn nicht als Auf­sicht erken­nt. Sein Sakko hängt noch in der Cafe­te­ria, und die Hose ver­rät seinen Arbeit­splatz nicht. Wen­ngle­ich ihm ihr kurz­er Blick dor­thin nicht ver­bor­gen geblieben ist, denn frei­willig trägt so etwas nie­mand.

„Inter­essieren Sie sich für mod­erne Kun­st?“, fragt er.

„Nicht sehr“, sagt sie und spricht von ein­er freien Stunde, die sie über­brückt habe. Jet­zt müsse sie wieder zur Arbeit.

„Wo arbeit­en Sie?“

„In ein­er Buch­hand­lung.“

„Buch­hand­lung ...“, wieder­holt er, „das muss schön sein, von Büch­ern umgeben ...“

„Ich wollte nie etwas anderes.“

„Bewun­dern­swert, wenn man das so genau weiß ...“

Sie fragt ihn, warum er die Ausstel­lung besucht habe.

Er spricht eben­falls von freier Zeit und davon, dass er sie häu­fig im Muse­um ver­bringe. Dass es sich dabei um Dien­st­pausen han­delt, ver­schweigt er. Er nimmt seinen Mut zusam­men und fragt, ob sie mit ihm etwas trinken wolle, vielle­icht in dem Café im Park, das man von hier aus sehen könne?

Dafür reiche ihre Zeit nicht, erwidert sie.

Er fragt, ob er sie zur Arbeit begleit­en dürfe.

„Warum nicht?“, sagt sie, doch in ihrem Blick liegt Skep­sis, als frage sie sich in diesem Moment, ob mit ihm alles in Ord­nung sei und wann sie ihn wieder loswerde.

 

Die Buch­hand­lung liegt in ein­er Seit­en­straße, nicht weit vom Muse­um ent­fer­nt. Der Laden wirkt alt, ein wenig aus der Zeit gefall­en, Buchrück­en drän­gen bis ins Schaufen­ster, und die weni­gen Wer­be­plakate, die von Neuer­schei­n­un­gen kün­den, sind klein. Sie geht hinein. Er fol­gt ihr.

Regale, die sich in dem kleinen Geschäft nicht haben aus­bre­it­en kön­nen, sind umso mehr in die Höhe gewach­sen, für die oberen Rei­hen ste­hen Trittstufen bere­it. In den engen Gän­gen bekommt er schnell das Gefühl, ihm fehle die Luft zum Atem. Er find­et einen Tisch mit reduziert­er Ware, unter den Büch­ern auch seines, drei Stück sog­ar, hier also stammt es her. Warum aber hat sie aus­gerech­net dieses genom­men?

Vielle­icht nur, weil es Erzäh­lun­gen sind, ver­mutet er, weil diese sich für eine kurze Pause bess­er eignen als ein Roman. Es gefällt ihm nicht, seine eige­nen Büch­er hier auf der Ram­schtheke zu sehen; er hat das Gefühl, sie befreien, beschützen zu müssen und über­legt, wie es wäre, sie wieder aufzukaufen.

Die Verkäuferin sieht ihn fra­gend an, als er mit den drei Exem­plaren zur Kasse kommt, und sie blickt noch fra­gen­der, als er sie bit­tet, alle drei als Geschenk einzu­pack­en.

„Drei Mal?“

Das würde zu lange dauern, also sagt er: „Nein, zusam­men.“

Jet­zt muss sie ihn für vol­lends ver­rückt hal­ten, fürchtet er, und um das Schweigen nicht zu pein­lich wer­den zu lassen, fragt er sie, ob sie im Muse­um nicht das gle­iche Buch gele­sen habe.

Sie nickt.

„Wie gefällt es ihnen?“

„Kann ich noch nicht sagen.“

„Ist es inter­es­sant?“

Statt ein­er Antwort hält sie einen Bogen Geschenkpa­pi­er hoch und fragt, ob er mit dem Muster ein­ver­standen sei.

Er, der sich in diesem Fall wohl auch mit But­ter­brot­pa­pi­er zufriedengegeben hätte, nickt.

Sie begin­nt, die Büch­er einzu­pack­en.

Er sieht ihr zu. Wenn er etwas ein­packt, wirkt es lieb­los und nach­läs­sig, so sehr er sich auch bemüht. Und eine Schleife machen und die Enden über die Klinge ein­er Schere ziehen, dass sie wie kleine Luftschlangen ausse­hen – völ­lig undenkbar. Umso geban­nter fol­gt er ihren Bewe­gun­gen.

Sie steckt das Päckchen in eine Plas­tik­tüte, er nimmt diese ent­ge­gen und bezahlt.

„Und? Alles wieder in Ord­nung nach dem Sturz?“, fragt sie.

Er nickt: „Ein paar blaue Fleck­en, son­st nichts.“

Es scheint, dass sie unmerk­lich lächelt in Erin­nerung an die Sit­u­a­tion, und sie entschuldigt sich dafür.

„Nein, nein“, wehrt er ab: „Es muss tat­säch­lich komisch aus­ge­se­hen haben, wie ich dort lag.“

Dann weiß er nicht mehr, was er sagen soll. Sie erneut einzu­laden, sich zu verabre­den, er traut es sich nicht, denn er ist nicht allein, und in dem Geschäft ist es so ruhig, dass die weni­gen anderen Kun­den jedes Wort ver­ste­hen wür­den. Auch hat er seine Pause bere­its weit über­zo­gen und möchte die Geduld seines Kol­le­gen nicht über Gebühr stra­pazieren. Er sagt sich, dass er jed­erzeit wiederkom­men könne; vielle­icht auch, hofft er, wird sie bald wieder im Muse­um sein; er nickt hinüber zur Kasse, ver­ab­schiedet sich und geht.

 

An der Straße vor dem Muse­umspark hat eine Glaubens­ge­mein­schaft Tis­che mit Info­ma­te­r­i­al aufgestellt, verteilt kosten­los Broschüren, Kaf­fee und Gebäck. Viele Men­schen ste­hen an, frag­würdi­ge Gestal­ten, aber auch solche, die in Franks Augen völ­lig nor­mal ausse­hen. Er stellt sich dazu, wartet, bis er dran ist und erhält zwei kleine Stücke Kuchen.

Ein Dunkel­häutiger wen­det sich ihm zu: „Hey, man, do you know about Jesus?“

Frank sieht ihn fra­gend an.

„Yes, man, I’m talk­ing about him!“ Der Mann hat einen amerikanis­chen Akzent, spricht laut und bes­timmt, er lacht und hat etwas so Gewin­nen­des in seinem Wesen, dass Frank eben­falls lachen muss. Den­noch winkt er ab: „Danke, aber ich bin schon in ein­er Kirche.“

Der andere tut, als habe er ihn nicht gehört und stellt ihm ein ganzes Bün­del an Broschüren zusam­men.

„Please stopp, not too much“, sagt Frank und nimmt es ent­ge­gen. Er blät­tert in den Heften und staunt nicht schlecht, als er Ratschläge find­et, die ihm genau vorschreiben, wie er zu leben hat, um zum Schluss, wenn alles zusam­me­nad­diert wird, auf der richti­gen Seite zu sein. Vor allem kommt es darauf an, die Gottes­di­en­ste und Gespräch­skreise der Glaubens­ge­mein­schaft regelmäßig zu besuchen.

Der Dunkel­häutige gebärdet sich, als habe er soeben ein neues Mit­glied für seine Gemein­schaft gewon­nen. Er lädt ihn ein, die Tre­f­fen zu besuchen, beschreibt ihm den Weg zum Ver­samm­lung­sort und nen­nt ihm eine Tele­fon­num­mer, die er jed­erzeit anrufen könne. „Jesus liebt dich, weißt du das?“, sagt er, während sich seine Stimme vor Begeis­terung fast über­schlägt.

Frank lächelt ver­legen. Er sagt, dass er weit­er­muss. „Sor­ry“, sagt er.