Eine ausweglose Situation

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Mel­lenkamp wachte auf und dachte, dass dies ein geeigneter Tag für einen Selb­st­mord sei. Die Sonne schien hell, die Luft war mild, eine Hochstim­mung erfasste ihn, dass er dachte: Heute oder nie!

Gewis­senhaft und gründlich, wie es seine Art war, begann er Vor­bere­itun­gen zu tre­f­fen: Er spülte das Geschirr, füllte eine Waschmas­chine Schmutzwäsche ein, saugte, wis­chte Staub, kon­trol­lierte, ob kein Brief ungeöffnet, kein Schrift­stück unerledigt geblieben war. Denn Mel­lenkamp besaß eine Charak­tereigen­schaft, die andere, Arbeit­ge­ber, Kol­le­gen und die weni­gen Fre­unde, die er hat­te, an ihm schätzten: Er wollte nie­man­dem zur Last fall­en. So war es für ihn selb­stver­ständlich, alles Per­sön­liche geord­net und sauber zu hin­ter­lassen, und auch sein Ableben sollte nicht mit Unrat, Fleck­en, Exkre­menten behaftet sein.

 

Gegen zehn Uhr ver­ließ er das Haus, und sein erster Weg führte ihn zum Bau­markt. Er suchte lange, bis er einen Verkäufer fand, den er nach reißfesten Seilen fra­gen kon­nte.

„Zum Abschlep­pen?“, erkundigte sich dieser.

„Nein, zum Selb­st­mord“, erwiderte Mel­lenkamp, und der Verkäufer zeigte ihm – nach kurzem Zögern und trotz man­gel­nder Erfahrung in diesen Din­gen, wie er ein­räumte – einen Strang, den er für geeignet hielt.

„Und wenn er reißt?“, fragte Mel­lenkamp.

„Dann kom­men Sie wieder und tauschen ihn gegen das näch­st­dickere Seil um. Das machen Sie so lange, bis es passt.“

„Und wenn schon Gebrauchsspuren daran sind?“

„Dann reini­gen Sie es mit Haushalt­sreiniger. Wichtig ist, dass Sie die Orig­i­nalver­pack­ung auf­be­wahren.“

Mel­lenkamp ver­sprach es und bedank­te sich.

 

Zuhause suchte er eine geeignete Stelle, wo er das Seil anbrin­gen kon­nte. Alles in sein­er Woh­nung war mod­ern gear­beit­et – Vor­sprünge eingeeb­net, Kan­ten abgerun­det, Fen­ster­rah­men tief, Quer­balken nicht zu sehen –, so dass er keine Möglichkeit fand. Aus dem Fen­ster blick­end sah er die Kas­tanie und die Sitzgele­gen­heit­en im Innen­hof, auf denen er und seine Nach­barn sich an milden Som­mer­aben­den gerne aufhiel­ten. Er ging hin­unter und prüfte die Äste auf Sta­bil­ität. Über einen, der stark genug aus­sah, warf er das Seil. Dann hielt er bei­de Enden in den Hän­den und wusste nicht recht, wie es weit­erge­hen solle.

Im Erdgeschoss lehnte sich ein Nach­bar aus dem Fen­ster. „Was soll das geben, wenn’s fer­tig ist?“, fragte er neugierig.

„Selb­st­mord“, erk­lärte Mel­lenkamp, „aber es will noch nicht recht.“

„Warten Sie“, rief der Nach­bar, schloss das Fen­ster und kam kurze Zeit später durch die Kellertür in den Hof. Er prüfte den Ast, den Mel­lenkamp aus­gewählt hat­te und schüt­telte den Kopf. Gemein­sam fan­den sie einen besseren, und der Nach­bar sagte ermunternd: „Dann wollen wir mal.“

Mel­lenkamp bat ihn, das Seil so lange straff zu hal­ten, bis alles über­standen sei. Der Nach­bar ver­sprach es. Doch kaum hat­ten sie begonnen, das Vorhaben in die Tat umzuset­zen, mis­cht­en sich andere Anwohn­er ein, im Glauben, der Nach­bar wolle ihn umbrin­gen. Sie ver­hin­derten dies, und sie wun­derten sich, warum Mel­lenkamp keine Dankbarkeit zeigte.

 

Unter seinen Fre­un­den und Bekan­nten fiel ihm nie­mand ein, der ihm helfen kon­nte. Alle möglichen Spezial­is­ten waren darunter, doch nie­mand aus diesem Bere­ich. Wozu aber gab es das Inter­net? War dort nicht auf jede Frage eine Antwort zu find­en? Wieder in sein­er Woh­nung, set­zte er sich an den Schreibtisch, stellte den Com­put­er an, gab in die Such­mas­chine das Wort „Selb­st­mord“ ein. Die Zahl der Ein­träge war riesig. Er klick­te die ersten Beiträge an und stellte bald fest, dass sich viele Artikel nicht mit der Aus­führung, son­dern der Ver­hin­derung dieses Vorhabens beschäftigten. Staat, Kirchen und Selb­sthil­fe­grup­pen erhoben mah­nend ihre Stim­men, und Mel­lenkamp fand mehr als eine Hot­line, wo er Hil­fe und Trost in der Not erhal­ten kon­nte. Dann wieder stieß er auf schauer­liche Zeich­nun­gen und furcht­bare Fotos von Per­so­n­en, bei denen das Vorhaben zwar geglückt war, jedoch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat­ten. Dien­ten die Bilder zur Abschreck­ung oder kranken Gehir­nen zur Ergötzung? Doch wie ein blutiges, halbfer­tig gegrilltes Steak wollte er nicht enden, und einen gewis­sen ästhetis­chen Anspruch bei seinem Vorhaben wollte er bewahren.

 

Wie wäre es, wenn er sich zu Tode trank? Ein Abschied im Voll­rausch, lal­lend, but­ter­we­ich, mit blöde lachen­dem Gesicht – und danach nichts als Leere? Im Kühlschrank fand er eine Flasche preiswerten Weißwein und im Regal einen eben­falls nicht sehr teuren roten. Diese Mis­chung würde nicht zum Tode, nicht ein­mal zur Blind­heit, son­dern nur zum Erbrechen führen. Er zog seine Jacke an, nahm sein Porte­mon­naie, ging zum Super­markt. Lange prüfte er das Ange­bot, denn zur Feier des Abschieds soll­ten es edle Getränke sein. Am näch­sten Tag würde er kein Geld mehr brauchen, also wählte er je eine Flasche guten Whisky, Wod­ka und Gin. Abge­se­hen von etwas Wod­ka hat­te er der­gle­ichen noch nicht getrunk­en, war nicht daran gewöh­nt, was die Chan­cen auf Erfolg erhöhte. Drei Flaschen nahm er aus dem Regal, stellte sie in seinen Einkauf­swa­gen, ging zur Kasse – als ihn zwei andere Kun­den grüßten. Es waren Arbeit­skol­le­gen. Er ver­suchte noch, sich hin­ter Obst und Gemüse zu ver­steck­en, doch sie kamen auf ihn zu und fragten, was er vorhabe, ob es ein neuen Mix, ein Kult­getränk gäbe, von dem sie nichts wüssten. „Mann, wird das’ne Par­ty“, lacht­en sie, klopften ihm auf die Schul­ter und fragten, ob sie eben­falls kom­men dürften. Mel­lenkamp beteuerte, dieser Einkauf­swa­gen gehöre ihm nicht, er sei nur zufäl­lig daran ger­at­en und suche den wahren Besitzer. Seine Kol­le­gen brachen in Gelächter aus und wink­ten ab. Mel­lenkamp sah, dass er nichts ret­ten kon­nte. Er sagte, er habe sein Porte­mon­naie vergessen und lief aus dem Geschäft.

 

Allein würde er es nicht schaf­fen. Fachkundi­ge Hil­fe brauchte er, doch wo war die zu find­en? Bei staatlichen oder kirch­lichen Stellen, bei freien Trägern? „Die Ver­braucher­ber­atung“, fiel ihm ein. Ein Ver­such dort, befand er, sei es alle­mal wert.

Er fuhr ein paar Sta­tio­nen mit dem Bus bis zur Geschäftsstelle, die unweit der Innen­stadt lag. Groß waren die Räume und bis auf einige Regale, eine Sitz­gruppe und zwei Arbeit­splätze beina­he leer. Eine Angestellte befand sich im Kun­denge­spräch. Sie wandte sich kurz zu ihm und sagte, es könne noch dauern, er solle so lange in den aus­gelegten Rat­ge­bern und Broschüren nach­se­hen, ob er dort bere­its eine Antwort auf seine Frage finde.

Also begann er, unter dem Buch­staben „S“ nachzuschauen, zwis­chen „Selb­sthil­fe für Allein­erziehende“ und „Selb­st­mon­tage Heimaus­bau“. Kein Stich­wort aber entsprach dem, das er suchte. Alles war da für Bauher­rn, wer­dende Eltern, Inter­essen­ten zweit­er Bil­dungswege, doch nichts für einen Fall wie seinen. Bes­timmt, so ver­mutete er, hiel­ten sie die Akten unter Ver­schluss, damit labile und frus­tri­erte Men­schen gar nicht erst auf die Idee kamen und sich sagten: „Ach, kön­nte ich doch eigentlich auch ein­mal ...“

Der Beratungsplatz wurde frei, er set­zte sich. Die Angestellte begrüßte ihn über­aus fre­undlich und mit einem Lächeln, das ihn für einen Moment am Sinn seines Vorhabens zweifeln ließ. Er schilderte sein Prob­lem und fragte, ob sie ihm helfen könne. Sie bejahte, sagte aber, dass sie dafür eine ärztliche Bescheini­gung benötige. Sie reichte ihm eine Über­sicht über alle in der Stadt niederge­lasse­nen Neu­rolo­gen und bat ihn, einen davon aufzusuchen.

„Neu­rolo­gen? Ich bin doch nicht ver­rückt!“, empörte sich Mel­lenkamp, sprang auf und ging unruhig ein paar Schritte auf und ab. „Gibt es keine anderen Stellen, an die ich mich wen­den kann?“

Die Angestellte zögerte. Nach­den­klich wiegte sie ihren Kugelschreiber in der Hand, bis sie ihm mit wis­sen­dem Blick riet, es ein­mal in den städtis­chen Kliniken zu ver­suchen. Dort lägen Selb­st­mörder, die es beina­he geschafft hät­ten, vielle­icht kön­nte er von ihnen einen Tipp bekom­men, vielle­icht reichte es ja schon, aus ihren Fehlern zu ler­nen.

Das klang ein­leuch­t­end. Mel­lenkamp bedank­te sich, stand auf und reichte ihr die Hand. Er sah, wie ihr Blick zu seinen Handge­lenken wan­derte und war froh, dass er nichts zu ver­ber­gen hat­te – noch nicht.

 

Er fuhr zum Bahn­hof, stieg um in die Straßen­bahn Rich­tung Kranken­haus. Beim Pfört­ner erkundigte er sich, wo jene Patien­ten lagen, die er suchte. Doch er erhielt keine befriedi­gende Auskun­ft. Offen­sichtlich fühlten sich die Bürg­er dieser Stadt hier wohl, denn es gab keine Sta­tion für Selb­st­mörder. Der Pfört­ner riet ihm, es auf der Inten­sivs­ta­tion zu ver­suchen, dort sei die Wahrschein­lichkeit am größten.

Die Kranke­nanstal­ten waren ein Kom­plex aus Hochhäusern und flachen Gebäu­den. Es dauerte, bis er das richtige Haus gefun­den hat­te.

„Für Selb­st­mörder und solche, die es wer­den wollen“, dachte er und sah die gläserne Fas­sade hin­auf, in der sich die Wolken spiegel­ten. Er fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben, und in jed­er Etage stiegen Patien­ten mit anderen Gebrechen ein und wieder aus. Er erre­ichte die Inten­sivs­ta­tion, wo auch die Selb­st­mörder sein soll­ten. An den fehlen­den Fen­ster- und Tür­grif­f­en erkan­nte er, dass er hier richtig war. Ein Gefühl tiefer Ver­bun­den­heit erfasste ihn. Ster­ile Klei­dung und Schuhe musste er überziehen, dann durfte er jene Patien­ten besuchen, die sich von ihrem Aben­teuer erholt und auf dem Wege der Besserung waren.

 

Der erste, den er ansprach, war ein Mann Mitte vierzig, der ihm sogle­ich das Du anbot, wie einem Ver­traut­en, einem Mit­glied der­sel­ben Gemein­schaft. Er habe sich von ein­er Brücke in den Fluss stürzen wollen, sagte er und fügte an, dass jenes Bauw­erk, das er benutzt habe, viel zu niedrig gewe­sen sei. Ent­ge­gen sein­er Absicht sei sein Kör­p­er nicht unterge­gan­gen, son­dern geschwom­men. Er empfehle ihm, Mel­lenkamp, einen Sprung aus größer­er Höhe und ein flach­es Auf­schla­gen auf das Wass­er.

Mel­lenkamp fragte, wie es mit ein­er Auto­bahn­brücke sei. Ger­ade im Süden gebe es sehr hohe und schöne.

Der Mann ver­zog das Gesicht: Er wolle nicht von Reisekosten sprechen, sagte er, aber in sein­er let­zten Stunde solle man ein wenig Heimatver­bun­den­heit zeigen und eine der hiesi­gen Brück­en wählen. Mel­lenkamp nick­te nach­den­klich und wiegte den Kopf hin und her, als spiele er den Ablauf in Gedanken bere­its ein­mal durch. Zuvor, sagte er, wolle er noch Alter­na­tiv­en prüfen, dies sei sein gutes Recht als End­ver­brauch­er im wahrsten Wortsinn.

 

Im näch­sten Zim­mer lag eine Frau etwa des­sel­ben Alters, ein klas­sis­ch­er Fall, die Pul­sadern aufgeschnit­ten, jedoch quer anstatt längs. Anfänger­fehler, selb­st er wusste – zumin­d­est the­o­retisch – wie es richtig geht. Für sich selb­st, der er nicht ein­mal eine Spritze, geschweige denn Blut sehen kon­nte, war dies nicht die geeignete Meth­ode. Er wollte eine Tode­sart wählen, bei der am Ende nicht alles voller Blut war.

„Beim näch­sten Mal machen Sie es bes­timmt richtig“, sagte er zu der Pati­entin und hoffte, sie damit ein wenig wieder aufzu­muntern. Sie nick­te zus­tim­mend. Ihr die Hand zu geben kam noch nicht in Betra­cht, also wink­te er ihr zum Abschied zu und ging weit­er.

 

Ein hoff­nungslos­er Fall nach dem näch­sten begeg­nete ihm. Viele hat­ten sich der­art däm­lich angestellt, dass sie die Strafe weit­erzuleben in seinen Augen mehr als ver­di­en­ten. Wenn schon Pillen, Strom, Gas, Schießpul­ver, dann genug und nicht nur ein biss­chen davon, gle­ich so, als müsse man in den let­zten Minuten noch haushal­ten und sparsam sein.

Einige der­er, die er auf­suchte, waren entstellt und wür­den es bleiben, und er dachte, dass es möglicher­weise bess­er gewe­sen wäre, sie hät­ten ihr Ziel erre­icht. Doch ihnen dabei zu helfen, dazu war er nicht berufen, außer­dem war er im Kranken­haus nir­gends allein, und ger­ade in dieser Abteilung wurde ständig ein Auge auf ihn gewor­fen.

 

Gab es wom­öglich Fördergelder für sein Vorhaben? Immer­hin ersparte er dem Staat viel Geld, denn bish­er hat­te er die Öffentlichkeit nichts gekostet, son­dern allein Beiträge eingezahlt. Dass diese Bilanz so pos­i­tiv blieb und sich im Alter nicht ins Gegen­teil umkehrte, war das nicht eine Unter­stützung wert?

Im Glauben, nichts weit­er in Anspruch zu nehmen als sein gutes Recht, wählte er die Tele­fon­num­mer des Arbeit­samtes. Zunächst fand sich nie­mand, der für seine Anfrage zuständig gewe­sen wäre, viele Male wurde er weit­er­ver­bun­den. Der Angestellte, bei dem er schließlich lan­dete, es schien der Depp der Behörde zu sein. Er hörte sich Mel­lenkamps Schilderun­gen geduldig an und ließ auch mehrere Male ein Räus­pern vernehmen, doch als er antwortete, wurde schnell klar, dass er wed­er gewil­lt war, die Idee zu ver­ste­hen noch sie zu unter­stützen. Mel­lenkamp ver­langte den Chef zu sprechen, doch er wurde nicht durchgestellt. Er dro­hte, seine berechti­gen Ansprüche einzuk­la­gen, doch auch dies ließ den Sach­bear­beit­er kalt. „Das ist ihr gutes Recht“, sagte er gle­ichgültig.

„Kein Wun­der, dass sich der Stan­dort Deutsch­land nicht erholt!“, rief Mel­lenkamp in den Tele­fon­hör­er und legte auf.

 

Er wollte die Tele­fonzelle ver­lassen, als er einen großen Aufk­le­ber der Tele­fon­seel­sorge ent­deck­te. War das etwas für ihn? Wer außer Per­versen, Ver­sagern und Selb­st­mördern rief dort an? Da fiel ihm ein, dass er selb­st zu ein­er dieser Grup­pen zählte, die ihm soeben durch den Sinn gegan­gen waren. Außer­dem kostete ein Anruf nur zwölf Cent, gle­ich wie lange er dauerte; ein über­aus fre­undlich­es Ange­bot, und er suchte in seinem Porte­mon­naie nach passenden Münzen.

Er wählte die Num­mer und wartete. Jemand nahm ab. Mel­lenkamp fragte, ob er anonym bleiben dürfte. Sein Gegenüber bejahte. Sein Gesprächspart­ner hat­te eine männliche, ein­fühlsam klin­gende Stimme, so dass Mel­lenkamp sich ermutigt fühlte, zu fra­gen, ob er über alles, auch über ungewöhn­liche Dinge sprechen dürfe. Die Antwort war wiederum Ja. Also erzählte er von seinem Entschluss und der Unmöglichkeit, ihn umzuset­zen, von den Widrigkeit­en und Fehlver­suchen. Er fragte, ob dies gerecht sei und was er tun könne, um das zu ändern.

Sein Gegenüber stellte die Gegen­frage, ob er sich diesen Schritt auch gut über­legt habe, schließlich sei das Leben ein Geschenk, das er nicht weg­w­er­fen dürfe.

„Wer bes­timmt das?“, fragte Mel­lenkamp und fuhr fort, er sei immer noch Herr über seine Entschei­dun­gen. Er habe es sich gut über­legt, erst nach gründlichem Abwä­gen sei er zu dieser Absicht gelangt.

„Sie müssen sehr verzweifelt sein“, ver­mutete sein Gesprächspart­ner.

„Keineswegs“, wehrte Mel­lenkamp ab, „mir geht es den Umstän­den entsprechend gut.“

Still war es in der Leitung, und es dauerte lange, bis der andere sagte, dieses Vorhaben sei nicht nur ver­boten, mehr noch, es sei Sünde.

„Sie meinen, ich darf nicht?“, empörte sich Mel­lenkamp.

„Genau.“

„Wollen Sie bes­tim­men, was ich zu tun und was ich zu lassen habe?“

„Wenn es nicht anders geht.“

Mel­lenkamp ver­bat sich jede Ein­mis­chung, so gut diese auch gemeint sei. „Ich mache, was ich will!“, sagte er trotzig und legte auf.

Dann ver­ließ er die Tele­fonzelle und blieb rat­los ste­hen.

 

Es gibt keine Ver­bün­de­ten, dachte er, ich muss es alleine schaf­fen. Er ging durch die Straßen der Innen­stadt und über­legte nach Möglichkeit­en, die ihm bish­er noch nicht einge­fall­en waren. Er nahm Abschied von allem, das ihm ver­traut war, und mehr als ein­mal grüßte ihn ein Bekan­nter – denn in dieser mit­tel­großen Stadt unerkan­nt zu bleiben war für jeman­den, der schon Jahre hier lebte, unmöglich. Hat­te es ihn son­st immer gestört, emp­fand er dies nun als angenehm. Es war, als sei die Stadt zu seinem Abschied noch ein­mal vol­lzäh­lig ange­treten.

Er kam an einem Waf­fengeschäft vor­bei. Noch nie war er drin­nen gewe­sen und wäre wohl auch jet­zt vor­beige­gan­gen, wäre da nicht der Entschluss gewe­sen, den er am Mor­gen dieses Tages gefasst hat­te.

Lange blieb er vor dem Schaufen­ster ste­hen, sah auf die Aus­la­gen – und sah sich ängstlich um, ob ihn auch nie­mand erkan­nte, kein Fre­und, kein Kol­lege, kein Nach­bar.

Er öffnete die Tür und huschte hinein. Anstatt eines Glöckchens erk­lang die Melodie „Spiel mir das Lied vom Tod“, und ein Mann – nicht mehr weit von eben diesem ent­fer­nt – betrat den Raum.

„Wom­it kann ich Ihnen dienen?“, fragte er mit hin­ter­hälti­gen Ton in der Stimme, dass es klang wie: „Wom­it kann ich Sie am besten um die Ecke brin­gen?“

„Nun“, zögerte Mel­lenkamp, „ich suche eine Möglichkeit, jeman­den schnell, ohne größere Schmerzen und größeres Blutvergießen umzubrin­gen.“

„Haben Sie einen Waf­fen­schein?“

Mel­lenkamp verneinte.

„Dann kann ich nichts für Sie tun“, sagte der Mann bes­timmt und wen­dete sich ab.

„Warten Sie“, rief ihm Mel­lenkamp hin­ter­her, „es ist nicht für jemand anderen, es ist für mich selb­st!“

Mit langsamen Trip­pelschrit­ten drehte sich der Alte um, neigte den Kopf zur Seite, wandte sich ihm zu und sah ihn aus kleinen Augen an: „Für Sie selb­st, sagen Sie? Dann schlage ich Ihnen vor: Kaufen Sie sich im Bau­markt einen Strick.“

Mel­lenkamp bedank­te sich und sagte, darauf sei er selb­st bere­its gekom­men, doch es habe nicht funk­tion­iert. Der Besitzer reagierte nicht, son­dern ging und ließ ihn mit all den Waf­fen, die das Geschäft zierten, alleine zurück. Ziem­lich fahrläs­sig, doch mochte er mit sicherem Instinkt spüren, dass von diesem Kun­den keine Gefahr für sein Geschäft aus­ging – umgekehrt lei­der auch nicht, und Mel­lenkamp trat miss­mutig wieder auf die Straße.

 

In der Bäck­erei am Bahn­hof trank einen Kaf­fee. Die Ver­spä­tung mehrerer Züge wurde angezeigt, und er dachte daran, wie es wäre, sich von einem Zug über­rollen zu lassen. Ein Klas­sik­er – warum war er nicht schon früher darauf gekom­men? Ein sicher­er Weg, den schon zig Tausende gewählt hat­ten, um ins Jen­seits zu gelan­gen. Warum sich also nicht auf ihre Seite stellen, allein schon aus Sol­i­dar­ität?

Zur Feier des Tages sollte es ein Inter­ci­ty sein. Er ging zum Gleis, wo der näch­ste in weni­gen Minuten ankom­men sollte. Unruhig lief er auf und ab und fragte sich, ob man ihm sein Vorhaben ansah: Ein Reisender mit merk­würdi­gem Gesicht­saus­druck und ohne Gepäck, war das nicht verdächtig?

Der Zug nahte. Er machte sich bere­it, lock­erte sich ein wenig, sprang dann hin­unter und legte sich auf die Gleise. In sicher­er Erwartung, es endlich geschafft zu haben, schloss er die Augen, als er die Durch­sage hörte, dass der „IC Sauer­land“ heute abwe­ichend auf dem Neben­gleis ein­fahren werde.

Eilig ver­suchte er, auf das zweite Paar Schienen hinüberzurobben, aber spät: Der Zug rollte an ihm vor­bei, und er wun­derte sich, wie leise heutzu­tage Züge sind. Keine kreis­chen­den Brem­sen, ein san­fter Halt, und es wäre auch ein san­ftes Ableben gewe­sen. Doch er lag immer noch lebendig da, ent­täuscht und zugle­ich in Hochspan­nung, voller Adren­a­lin, das sein Kör­p­er aus ihm unbekan­nten Quellen bis in jede Pore geschickt hat­te.

Wider­willig rap­pelte er sich auf. Ein fre­undlich­er Beamter reichte ihm die Hand, half ihm zurück auf den Bahn­steig und geleit­ete ihn durch die wartende Menge. „Schaulustige sind doch eine Plage“, bemerk­te Mel­lenkamp, und der Bah­n­mi­tar­beit­er gab ihm Recht. Aber gehen lassen wollte er ihn den­noch nicht. Er geleit­ete ihn zum RTW, was er auf Mel­lenkamps Nach­frage hin als „Ret­tungstragsport­wa­gen“ über­set­zte.

„Ein SSZ wäre mir lieber gewe­sen“, sagte Mel­lenkamp und über­set­zte es mit „Selb­st­mord­son­derzug“. Nur mit Mühe kon­nte er Arzt und San­itäter davon überzeu­gen, dass es sich um einen Schwächean­fall gehan­delt habe und dass nun alles wieder in Ord­nung sei.

 

Doch er war mit seinem Latein am Ende. Was er noch tun kön­nte, er wusste es nicht. Was er dachte – er schrieb es in kurzen Worten auf einen großen Papp­kar­ton. Diesen stellte er in die Fußgänger­zone und set­zte sich daneben. Mit einem Plas­tik­bech­er von einem Schnell­restau­rant bat er um Spenden.

Ein älteres Ehep­aar blieb ste­hen. Der Mann fuchtelte mit sein­er Gehhil­fe von Mel­lenkamps Gesicht herum und rief, dass er sich schä­men solle: „So jung und schon auf der Straße herum­lungern.“

Die Frau unter­brach ihn: „Lies doch“, sagte sie, „er sam­melt für seinen Selb­st­mord.“

Der Mann zögerte: „Für seinen Selb­st­mord?“

Mel­lenkamp nick­te.

„Nun, das ist etwas anderes“, sagte der Mann und zück­te sein Porte­mon­naie, „dafür gebe ich gerne.“