Mellenkamp wachte auf und dachte, dass dies ein geeigneter Tag für einen Selbstmord sei. Die Sonne schien hell, die Luft war mild, eine Hochstimmung erfasste ihn, dass er dachte: Heute oder nie!
Gewissenhaft und gründlich, wie es seine Art war, begann er Vorbereitungen zu treffen: Er spülte das Geschirr, füllte eine Waschmaschine Schmutzwäsche ein, saugte, wischte Staub, kontrollierte, ob kein Brief ungeöffnet, kein Schriftstück unerledigt geblieben war. Denn Mellenkamp besaß eine Charaktereigenschaft, die andere, Arbeitgeber, Kollegen und die wenigen Freunde, die er hatte, an ihm schätzten: Er wollte niemandem zur Last fallen. So war es für ihn selbstverständlich, alles Persönliche geordnet und sauber zu hinterlassen, und auch sein Ableben sollte nicht mit Unrat, Flecken, Exkrementen behaftet sein.
Gegen zehn Uhr verließ er das Haus, und sein erster Weg führte ihn zum Baumarkt. Er suchte lange, bis er einen Verkäufer fand, den er nach reißfesten Seilen fragen konnte.
„Zum Abschleppen?“, erkundigte sich dieser.
„Nein, zum Selbstmord“, erwiderte Mellenkamp, und der Verkäufer zeigte ihm – nach kurzem Zögern und trotz mangelnder Erfahrung in diesen Dingen, wie er einräumte – einen Strang, den er für geeignet hielt.
„Und wenn er reißt?“, fragte Mellenkamp.
„Dann kommen Sie wieder und tauschen ihn gegen das nächstdickere Seil um. Das machen Sie so lange, bis es passt.“
„Und wenn schon Gebrauchsspuren daran sind?“
„Dann reinigen Sie es mit Haushaltsreiniger. Wichtig ist, dass Sie die Originalverpackung aufbewahren.“
Mellenkamp versprach es und bedankte sich.
Zuhause suchte er eine geeignete Stelle, wo er das Seil anbringen konnte. Alles in seiner Wohnung war modern gearbeitet – Vorsprünge eingeebnet, Kanten abgerundet, Fensterrahmen tief, Querbalken nicht zu sehen –, so dass er keine Möglichkeit fand. Aus dem Fenster blickend sah er die Kastanie und die Sitzgelegenheiten im Innenhof, auf denen er und seine Nachbarn sich an milden Sommerabenden gerne aufhielten. Er ging hinunter und prüfte die Äste auf Stabilität. Über einen, der stark genug aussah, warf er das Seil. Dann hielt er beide Enden in den Händen und wusste nicht recht, wie es weitergehen solle.
Im Erdgeschoss lehnte sich ein Nachbar aus dem Fenster. „Was soll das geben, wenn’s fertig ist?“, fragte er neugierig.
„Selbstmord“, erklärte Mellenkamp, „aber es will noch nicht recht.“
„Warten Sie“, rief der Nachbar, schloss das Fenster und kam kurze Zeit später durch die Kellertür in den Hof. Er prüfte den Ast, den Mellenkamp ausgewählt hatte und schüttelte den Kopf. Gemeinsam fanden sie einen besseren, und der Nachbar sagte ermunternd: „Dann wollen wir mal.“
Mellenkamp bat ihn, das Seil so lange straff zu halten, bis alles überstanden sei. Der Nachbar versprach es. Doch kaum hatten sie begonnen, das Vorhaben in die Tat umzusetzen, mischten sich andere Anwohner ein, im Glauben, der Nachbar wolle ihn umbringen. Sie verhinderten dies, und sie wunderten sich, warum Mellenkamp keine Dankbarkeit zeigte.
Unter seinen Freunden und Bekannten fiel ihm niemand ein, der ihm helfen konnte. Alle möglichen Spezialisten waren darunter, doch niemand aus diesem Bereich. Wozu aber gab es das Internet? War dort nicht auf jede Frage eine Antwort zu finden? Wieder in seiner Wohnung, setzte er sich an den Schreibtisch, stellte den Computer an, gab in die Suchmaschine das Wort „Selbstmord“ ein. Die Zahl der Einträge war riesig. Er klickte die ersten Beiträge an und stellte bald fest, dass sich viele Artikel nicht mit der Ausführung, sondern der Verhinderung dieses Vorhabens beschäftigten. Staat, Kirchen und Selbsthilfegruppen erhoben mahnend ihre Stimmen, und Mellenkamp fand mehr als eine Hotline, wo er Hilfe und Trost in der Not erhalten konnte. Dann wieder stieß er auf schauerliche Zeichnungen und furchtbare Fotos von Personen, bei denen das Vorhaben zwar geglückt war, jedoch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Dienten die Bilder zur Abschreckung oder kranken Gehirnen zur Ergötzung? Doch wie ein blutiges, halbfertig gegrilltes Steak wollte er nicht enden, und einen gewissen ästhetischen Anspruch bei seinem Vorhaben wollte er bewahren.
Wie wäre es, wenn er sich zu Tode trank? Ein Abschied im Vollrausch, lallend, butterweich, mit blöde lachendem Gesicht – und danach nichts als Leere? Im Kühlschrank fand er eine Flasche preiswerten Weißwein und im Regal einen ebenfalls nicht sehr teuren roten. Diese Mischung würde nicht zum Tode, nicht einmal zur Blindheit, sondern nur zum Erbrechen führen. Er zog seine Jacke an, nahm sein Portemonnaie, ging zum Supermarkt. Lange prüfte er das Angebot, denn zur Feier des Abschieds sollten es edle Getränke sein. Am nächsten Tag würde er kein Geld mehr brauchen, also wählte er je eine Flasche guten Whisky, Wodka und Gin. Abgesehen von etwas Wodka hatte er dergleichen noch nicht getrunken, war nicht daran gewöhnt, was die Chancen auf Erfolg erhöhte. Drei Flaschen nahm er aus dem Regal, stellte sie in seinen Einkaufswagen, ging zur Kasse – als ihn zwei andere Kunden grüßten. Es waren Arbeitskollegen. Er versuchte noch, sich hinter Obst und Gemüse zu verstecken, doch sie kamen auf ihn zu und fragten, was er vorhabe, ob es ein neuen Mix, ein Kultgetränk gäbe, von dem sie nichts wüssten. „Mann, wird das’ne Party“, lachten sie, klopften ihm auf die Schulter und fragten, ob sie ebenfalls kommen dürften. Mellenkamp beteuerte, dieser Einkaufswagen gehöre ihm nicht, er sei nur zufällig daran geraten und suche den wahren Besitzer. Seine Kollegen brachen in Gelächter aus und winkten ab. Mellenkamp sah, dass er nichts retten konnte. Er sagte, er habe sein Portemonnaie vergessen und lief aus dem Geschäft.
Allein würde er es nicht schaffen. Fachkundige Hilfe brauchte er, doch wo war die zu finden? Bei staatlichen oder kirchlichen Stellen, bei freien Trägern? „Die Verbraucherberatung“, fiel ihm ein. Ein Versuch dort, befand er, sei es allemal wert.
Er fuhr ein paar Stationen mit dem Bus bis zur Geschäftsstelle, die unweit der Innenstadt lag. Groß waren die Räume und bis auf einige Regale, eine Sitzgruppe und zwei Arbeitsplätze beinahe leer. Eine Angestellte befand sich im Kundengespräch. Sie wandte sich kurz zu ihm und sagte, es könne noch dauern, er solle so lange in den ausgelegten Ratgebern und Broschüren nachsehen, ob er dort bereits eine Antwort auf seine Frage finde.
Also begann er, unter dem Buchstaben „S“ nachzuschauen, zwischen „Selbsthilfe für Alleinerziehende“ und „Selbstmontage Heimausbau“. Kein Stichwort aber entsprach dem, das er suchte. Alles war da für Bauherrn, werdende Eltern, Interessenten zweiter Bildungswege, doch nichts für einen Fall wie seinen. Bestimmt, so vermutete er, hielten sie die Akten unter Verschluss, damit labile und frustrierte Menschen gar nicht erst auf die Idee kamen und sich sagten: „Ach, könnte ich doch eigentlich auch einmal ...“
Der Beratungsplatz wurde frei, er setzte sich. Die Angestellte begrüßte ihn überaus freundlich und mit einem Lächeln, das ihn für einen Moment am Sinn seines Vorhabens zweifeln ließ. Er schilderte sein Problem und fragte, ob sie ihm helfen könne. Sie bejahte, sagte aber, dass sie dafür eine ärztliche Bescheinigung benötige. Sie reichte ihm eine Übersicht über alle in der Stadt niedergelassenen Neurologen und bat ihn, einen davon aufzusuchen.
„Neurologen? Ich bin doch nicht verrückt!“, empörte sich Mellenkamp, sprang auf und ging unruhig ein paar Schritte auf und ab. „Gibt es keine anderen Stellen, an die ich mich wenden kann?“
Die Angestellte zögerte. Nachdenklich wiegte sie ihren Kugelschreiber in der Hand, bis sie ihm mit wissendem Blick riet, es einmal in den städtischen Kliniken zu versuchen. Dort lägen Selbstmörder, die es beinahe geschafft hätten, vielleicht könnte er von ihnen einen Tipp bekommen, vielleicht reichte es ja schon, aus ihren Fehlern zu lernen.
Das klang einleuchtend. Mellenkamp bedankte sich, stand auf und reichte ihr die Hand. Er sah, wie ihr Blick zu seinen Handgelenken wanderte und war froh, dass er nichts zu verbergen hatte – noch nicht.
Er fuhr zum Bahnhof, stieg um in die Straßenbahn Richtung Krankenhaus. Beim Pförtner erkundigte er sich, wo jene Patienten lagen, die er suchte. Doch er erhielt keine befriedigende Auskunft. Offensichtlich fühlten sich die Bürger dieser Stadt hier wohl, denn es gab keine Station für Selbstmörder. Der Pförtner riet ihm, es auf der Intensivstation zu versuchen, dort sei die Wahrscheinlichkeit am größten.
Die Krankenanstalten waren ein Komplex aus Hochhäusern und flachen Gebäuden. Es dauerte, bis er das richtige Haus gefunden hatte.
„Für Selbstmörder und solche, die es werden wollen“, dachte er und sah die gläserne Fassade hinauf, in der sich die Wolken spiegelten. Er fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben, und in jeder Etage stiegen Patienten mit anderen Gebrechen ein und wieder aus. Er erreichte die Intensivstation, wo auch die Selbstmörder sein sollten. An den fehlenden Fenster- und Türgriffen erkannte er, dass er hier richtig war. Ein Gefühl tiefer Verbundenheit erfasste ihn. Sterile Kleidung und Schuhe musste er überziehen, dann durfte er jene Patienten besuchen, die sich von ihrem Abenteuer erholt und auf dem Wege der Besserung waren.
Der erste, den er ansprach, war ein Mann Mitte vierzig, der ihm sogleich das Du anbot, wie einem Vertrauten, einem Mitglied derselben Gemeinschaft. Er habe sich von einer Brücke in den Fluss stürzen wollen, sagte er und fügte an, dass jenes Bauwerk, das er benutzt habe, viel zu niedrig gewesen sei. Entgegen seiner Absicht sei sein Körper nicht untergegangen, sondern geschwommen. Er empfehle ihm, Mellenkamp, einen Sprung aus größerer Höhe und ein flaches Aufschlagen auf das Wasser.
Mellenkamp fragte, wie es mit einer Autobahnbrücke sei. Gerade im Süden gebe es sehr hohe und schöne.
Der Mann verzog das Gesicht: Er wolle nicht von Reisekosten sprechen, sagte er, aber in seiner letzten Stunde solle man ein wenig Heimatverbundenheit zeigen und eine der hiesigen Brücken wählen. Mellenkamp nickte nachdenklich und wiegte den Kopf hin und her, als spiele er den Ablauf in Gedanken bereits einmal durch. Zuvor, sagte er, wolle er noch Alternativen prüfen, dies sei sein gutes Recht als Endverbraucher im wahrsten Wortsinn.
Im nächsten Zimmer lag eine Frau etwa desselben Alters, ein klassischer Fall, die Pulsadern aufgeschnitten, jedoch quer anstatt längs. Anfängerfehler, selbst er wusste – zumindest theoretisch – wie es richtig geht. Für sich selbst, der er nicht einmal eine Spritze, geschweige denn Blut sehen konnte, war dies nicht die geeignete Methode. Er wollte eine Todesart wählen, bei der am Ende nicht alles voller Blut war.
„Beim nächsten Mal machen Sie es bestimmt richtig“, sagte er zu der Patientin und hoffte, sie damit ein wenig wieder aufzumuntern. Sie nickte zustimmend. Ihr die Hand zu geben kam noch nicht in Betracht, also winkte er ihr zum Abschied zu und ging weiter.
Ein hoffnungsloser Fall nach dem nächsten begegnete ihm. Viele hatten sich derart dämlich angestellt, dass sie die Strafe weiterzuleben in seinen Augen mehr als verdienten. Wenn schon Pillen, Strom, Gas, Schießpulver, dann genug und nicht nur ein bisschen davon, gleich so, als müsse man in den letzten Minuten noch haushalten und sparsam sein.
Einige derer, die er aufsuchte, waren entstellt und würden es bleiben, und er dachte, dass es möglicherweise besser gewesen wäre, sie hätten ihr Ziel erreicht. Doch ihnen dabei zu helfen, dazu war er nicht berufen, außerdem war er im Krankenhaus nirgends allein, und gerade in dieser Abteilung wurde ständig ein Auge auf ihn geworfen.
Gab es womöglich Fördergelder für sein Vorhaben? Immerhin ersparte er dem Staat viel Geld, denn bisher hatte er die Öffentlichkeit nichts gekostet, sondern allein Beiträge eingezahlt. Dass diese Bilanz so positiv blieb und sich im Alter nicht ins Gegenteil umkehrte, war das nicht eine Unterstützung wert?
Im Glauben, nichts weiter in Anspruch zu nehmen als sein gutes Recht, wählte er die Telefonnummer des Arbeitsamtes. Zunächst fand sich niemand, der für seine Anfrage zuständig gewesen wäre, viele Male wurde er weiterverbunden. Der Angestellte, bei dem er schließlich landete, es schien der Depp der Behörde zu sein. Er hörte sich Mellenkamps Schilderungen geduldig an und ließ auch mehrere Male ein Räuspern vernehmen, doch als er antwortete, wurde schnell klar, dass er weder gewillt war, die Idee zu verstehen noch sie zu unterstützen. Mellenkamp verlangte den Chef zu sprechen, doch er wurde nicht durchgestellt. Er drohte, seine berechtigen Ansprüche einzuklagen, doch auch dies ließ den Sachbearbeiter kalt. „Das ist ihr gutes Recht“, sagte er gleichgültig.
„Kein Wunder, dass sich der Standort Deutschland nicht erholt!“, rief Mellenkamp in den Telefonhörer und legte auf.
Er wollte die Telefonzelle verlassen, als er einen großen Aufkleber der Telefonseelsorge entdeckte. War das etwas für ihn? Wer außer Perversen, Versagern und Selbstmördern rief dort an? Da fiel ihm ein, dass er selbst zu einer dieser Gruppen zählte, die ihm soeben durch den Sinn gegangen waren. Außerdem kostete ein Anruf nur zwölf Cent, gleich wie lange er dauerte; ein überaus freundliches Angebot, und er suchte in seinem Portemonnaie nach passenden Münzen.
Er wählte die Nummer und wartete. Jemand nahm ab. Mellenkamp fragte, ob er anonym bleiben dürfte. Sein Gegenüber bejahte. Sein Gesprächspartner hatte eine männliche, einfühlsam klingende Stimme, so dass Mellenkamp sich ermutigt fühlte, zu fragen, ob er über alles, auch über ungewöhnliche Dinge sprechen dürfe. Die Antwort war wiederum Ja. Also erzählte er von seinem Entschluss und der Unmöglichkeit, ihn umzusetzen, von den Widrigkeiten und Fehlversuchen. Er fragte, ob dies gerecht sei und was er tun könne, um das zu ändern.
Sein Gegenüber stellte die Gegenfrage, ob er sich diesen Schritt auch gut überlegt habe, schließlich sei das Leben ein Geschenk, das er nicht wegwerfen dürfe.
„Wer bestimmt das?“, fragte Mellenkamp und fuhr fort, er sei immer noch Herr über seine Entscheidungen. Er habe es sich gut überlegt, erst nach gründlichem Abwägen sei er zu dieser Absicht gelangt.
„Sie müssen sehr verzweifelt sein“, vermutete sein Gesprächspartner.
„Keineswegs“, wehrte Mellenkamp ab, „mir geht es den Umständen entsprechend gut.“
Still war es in der Leitung, und es dauerte lange, bis der andere sagte, dieses Vorhaben sei nicht nur verboten, mehr noch, es sei Sünde.
„Sie meinen, ich darf nicht?“, empörte sich Mellenkamp.
„Genau.“
„Wollen Sie bestimmen, was ich zu tun und was ich zu lassen habe?“
„Wenn es nicht anders geht.“
Mellenkamp verbat sich jede Einmischung, so gut diese auch gemeint sei. „Ich mache, was ich will!“, sagte er trotzig und legte auf.
Dann verließ er die Telefonzelle und blieb ratlos stehen.
Es gibt keine Verbündeten, dachte er, ich muss es alleine schaffen. Er ging durch die Straßen der Innenstadt und überlegte nach Möglichkeiten, die ihm bisher noch nicht eingefallen waren. Er nahm Abschied von allem, das ihm vertraut war, und mehr als einmal grüßte ihn ein Bekannter – denn in dieser mittelgroßen Stadt unerkannt zu bleiben war für jemanden, der schon Jahre hier lebte, unmöglich. Hatte es ihn sonst immer gestört, empfand er dies nun als angenehm. Es war, als sei die Stadt zu seinem Abschied noch einmal vollzählig angetreten.
Er kam an einem Waffengeschäft vorbei. Noch nie war er drinnen gewesen und wäre wohl auch jetzt vorbeigegangen, wäre da nicht der Entschluss gewesen, den er am Morgen dieses Tages gefasst hatte.
Lange blieb er vor dem Schaufenster stehen, sah auf die Auslagen – und sah sich ängstlich um, ob ihn auch niemand erkannte, kein Freund, kein Kollege, kein Nachbar.
Er öffnete die Tür und huschte hinein. Anstatt eines Glöckchens erklang die Melodie „Spiel mir das Lied vom Tod“, und ein Mann – nicht mehr weit von eben diesem entfernt – betrat den Raum.
„Womit kann ich Ihnen dienen?“, fragte er mit hinterhältigen Ton in der Stimme, dass es klang wie: „Womit kann ich Sie am besten um die Ecke bringen?“
„Nun“, zögerte Mellenkamp, „ich suche eine Möglichkeit, jemanden schnell, ohne größere Schmerzen und größeres Blutvergießen umzubringen.“
„Haben Sie einen Waffenschein?“
Mellenkamp verneinte.
„Dann kann ich nichts für Sie tun“, sagte der Mann bestimmt und wendete sich ab.
„Warten Sie“, rief ihm Mellenkamp hinterher, „es ist nicht für jemand anderen, es ist für mich selbst!“
Mit langsamen Trippelschritten drehte sich der Alte um, neigte den Kopf zur Seite, wandte sich ihm zu und sah ihn aus kleinen Augen an: „Für Sie selbst, sagen Sie? Dann schlage ich Ihnen vor: Kaufen Sie sich im Baumarkt einen Strick.“
Mellenkamp bedankte sich und sagte, darauf sei er selbst bereits gekommen, doch es habe nicht funktioniert. Der Besitzer reagierte nicht, sondern ging und ließ ihn mit all den Waffen, die das Geschäft zierten, alleine zurück. Ziemlich fahrlässig, doch mochte er mit sicherem Instinkt spüren, dass von diesem Kunden keine Gefahr für sein Geschäft ausging – umgekehrt leider auch nicht, und Mellenkamp trat missmutig wieder auf die Straße.
In der Bäckerei am Bahnhof trank einen Kaffee. Die Verspätung mehrerer Züge wurde angezeigt, und er dachte daran, wie es wäre, sich von einem Zug überrollen zu lassen. Ein Klassiker – warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Ein sicherer Weg, den schon zig Tausende gewählt hatten, um ins Jenseits zu gelangen. Warum sich also nicht auf ihre Seite stellen, allein schon aus Solidarität?
Zur Feier des Tages sollte es ein Intercity sein. Er ging zum Gleis, wo der nächste in wenigen Minuten ankommen sollte. Unruhig lief er auf und ab und fragte sich, ob man ihm sein Vorhaben ansah: Ein Reisender mit merkwürdigem Gesichtsausdruck und ohne Gepäck, war das nicht verdächtig?
Der Zug nahte. Er machte sich bereit, lockerte sich ein wenig, sprang dann hinunter und legte sich auf die Gleise. In sicherer Erwartung, es endlich geschafft zu haben, schloss er die Augen, als er die Durchsage hörte, dass der „IC Sauerland“ heute abweichend auf dem Nebengleis einfahren werde.
Eilig versuchte er, auf das zweite Paar Schienen hinüberzurobben, aber spät: Der Zug rollte an ihm vorbei, und er wunderte sich, wie leise heutzutage Züge sind. Keine kreischenden Bremsen, ein sanfter Halt, und es wäre auch ein sanftes Ableben gewesen. Doch er lag immer noch lebendig da, enttäuscht und zugleich in Hochspannung, voller Adrenalin, das sein Körper aus ihm unbekannten Quellen bis in jede Pore geschickt hatte.
Widerwillig rappelte er sich auf. Ein freundlicher Beamter reichte ihm die Hand, half ihm zurück auf den Bahnsteig und geleitete ihn durch die wartende Menge. „Schaulustige sind doch eine Plage“, bemerkte Mellenkamp, und der Bahnmitarbeiter gab ihm Recht. Aber gehen lassen wollte er ihn dennoch nicht. Er geleitete ihn zum RTW, was er auf Mellenkamps Nachfrage hin als „Rettungstragsportwagen“ übersetzte.
„Ein SSZ wäre mir lieber gewesen“, sagte Mellenkamp und übersetzte es mit „Selbstmordsonderzug“. Nur mit Mühe konnte er Arzt und Sanitäter davon überzeugen, dass es sich um einen Schwächeanfall gehandelt habe und dass nun alles wieder in Ordnung sei.
Doch er war mit seinem Latein am Ende. Was er noch tun könnte, er wusste es nicht. Was er dachte – er schrieb es in kurzen Worten auf einen großen Pappkarton. Diesen stellte er in die Fußgängerzone und setzte sich daneben. Mit einem Plastikbecher von einem Schnellrestaurant bat er um Spenden.
Ein älteres Ehepaar blieb stehen. Der Mann fuchtelte mit seiner Gehhilfe von Mellenkamps Gesicht herum und rief, dass er sich schämen solle: „So jung und schon auf der Straße herumlungern.“
Die Frau unterbrach ihn: „Lies doch“, sagte sie, „er sammelt für seinen Selbstmord.“
Der Mann zögerte: „Für seinen Selbstmord?“
Mellenkamp nickte.
„Nun, das ist etwas anderes“, sagte der Mann und zückte sein Portemonnaie, „dafür gebe ich gerne.“