Gestohlene Stunden

Von

Die Fort­bil­dung hat­te nicht so lange gedauert wie geplant. Alle waren sich einig gewe­sen, lieber die Pausen zu verkürzen und dafür statt Fre­itagabend schon Fre­itag­mit­tag zu gehen. Bei der Abschlussrunde kon­nte Michael die Gedanken der anderen deut­lich lesen: „Mach’s kurz!“ hießen sie, und mit durch­bohren­den Blick­en wur­den all jene ges­traft, die mein­ten, noch ein­mal weit aus­holen und sich in Posi­tur wer­fen zu müssen.

Wer wollte, kon­nte noch zum Mit­tagessen bleiben. Michael blieb, und während er aß, blick­te er den Autos nach, die draußen eins nach dem anderen den Park­platz ver­ließen. Er über­legte, ob es nicht doch Zeit wäre, endlich den Führerschein zu machen. Dann holte er seine Sachen, ver­ab­schiedete sich an der Rezep­tion, ging zur Hal­testelle und nahm den näch­sten Bus zum Bahn­hof.

 

Noch Stun­den, bis sein Zug fuhr, zu dumm, dass er sich beim Sparpreis auf eine bes­timmte Verbindung hat­te fes­tle­gen müssen. Er ging zum Schal­ter und fragte, ob er das Tick­et tauschen könne.

„Aber klar, wenn Sie die Dif­ferenz zum Nor­mal­preis nachzahlen“, sagte ihm ein gut gelaunter Angestell­ter, der sich auch von Michaels leisen Ver­wün­schun­gen nicht beein­druck­en ließ.

 

Er über­legte, die Zeit mit einem Muse­ums­be­such zu über­brück­en. In der Touris­ten­in­for­ma­tion fragte er nach Museen und Ausstel­lun­gen. Gle­ich in der Nähe des Bahn­hofs sollte eine inter­es­sante Schau mod­ern­er Kun­st sein, er ließ sich den Weg beschreiben, ging los, doch er fand den Ort nicht. Also schlen­derte er weit­er durch das Bahn­hofsvier­tel, in dem sich bald ein unmoralis­ches Ange­bot an das näch­ste rei­hte. Die Gegend kan­nte er bish­er nur aus ein­er Fernsehserie, in der ein Anwalt und ein Pri­vat­de­tek­tiv gemein­sam ermit­teln, und er rech­nete jeden Moment damit, in einen Fall, ein krummes Geschäft oder eine Schießerei ver­wick­elt zu wer­den.

 

Ein Laden lock­te mit dem Ver­sprechen: „Table-Dance, 10 Euro, 1 Getränk gratis“. Das Schaufen­ster sah aus, als sei es in den 80er Jahren zum let­zten Mal deko­ri­ert wor­den: Schaufen­ster­pup­pen, in Dessous gek­lei­det, blick­ten gelang­weilt drein, und vergilbte Fotos von Life-Auftrit­ten zeigten Tänz­erin­nen, die längst das Rentenal­ter erre­icht haben mussten.

„Auch eine Art Muse­um“, sagte er sich und ging hinein.

 

Drin­nen war es fast leer, außer ihm nur zwei Män­ner in den hin­ter­sten Eck­en des Raumes, die Hände tief in den Man­teltaschen ver­graben. Er set­zte sich und hielt die Hände so, dass jed­er sie sehen kon­nte. Vor ihm war eine kleine Bühne, darauf ein run­des Podest, das sich langsam drehte. Eine Met­all­stange reichte vom Boden bis zur Decke, und die Frau, die auf der Bühne tanzte, umkreiste sie wie einen Tanz­part­ner. Ihr Tanz wirk­te lust­los und gelang­weilt. Sie been­dete ihre Vorstel­lung, sam­melte Slip und BH ein und ver­ließ den Raum durch einen Nebe­naus­gang.

„Applaus“, tönte es aus dem Laut­sprech­er, doch bis auf ihn klatschte nie­mand. Klapp, klapp, klapp – drei Schläge, dann war es ihm zu dumm.

„Und jet­zt, meine Her­ren, als näch­stes unsere Chan­tal.“ Die Stimme klang wie ein Radio, dem man langsam den Ton abdreht: Eines der Mäd­chen, die an der Bar saßen, kam zur Bühne. Sie begann zu tanzen; Michael sah auf ihre blau lack­ierten Fußnägel und ihre Füße, die in hochhack­i­gen und viel zu kurzen Schuhen steck­ten.

„Noch zwei Minuten, Chan­tal“, sagte die Laut­sprech­er­stimme, woraufhin die sichtlich gen­ervte Tänz­erin begann, ihre knappe Bek­lei­dung abzule­gen.

„Noch sechzig Sekun­den, meine Her­ren, noch sechzig

Sekun­den, Chan­tal.“

Chan­tal streifte den Slip herunter und hielt, während sie weit­er­tanzte, eine Hand vor ihr Geschlecht.

 

Nach ein­er Weile, nach­dem schon die näch­ste Tänz­erin ihren Tanz been­det hat­te, kam Chan­tal zurück an die Bar. Sie set­zte sich neben ihn, entzün­dete eine Zigarette und schenk­te ihm ein Lächeln. Sie fragte, woher er sei und wie lange er in der Stadt bleibe.

Er fühlte, wie ihm das Blut in die Wan­gen stieg, und wäre es nicht schumm­rig, beina­he dunkel gewe­sen, jed­er hätte sehen kön­nen, wie rot er wurde. Er beant­wortete Chan­tals Fra­gen wie ein Schüler, der nach vorn an die Tafel muss.

Sie bot ihm eine Extrashow an, im Neben­raum, nur für ihn allein.

„Wie viel kostet das?“, fragte er.

„Dreißig.“

„So viel habe ich nicht“, wehrte er ab.

Sie kam ihm nahe und sprach leise, er roch ihr Par­füm, ihren nach Zigarette riechen­den Atem, und er schwank­te zwis­chen dem Wun­sch nach Nähe und dem nach Flucht.

Ein ander­er Kunde ver­ließ den Neben­raum, gefol­gt von ein­er Tänz­erin, bei­de gin­gen zur Bar, set­zten sich und stießen mit Sekt an.

Der Bar­keep­er kam zu Michael.

Chan­tal fragte, ob er sie ein­lade, und er, der den Blick des Bar­keep­ers drück­end auf sich spürte, nick­te. Sie bestellte Sekt, er ein weit­eres Bier.

Der Bar­keep­er beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: „Die ist in Ord­nung, die zieht dich nicht über den Tisch.“ Er brachte die Getränke und sagte, nun wieder in nor­maler Laut­stärke: „Zum Wohl!“

 

Chan­tal strahlte etwas Ver­rucht­es aus. Michael fand das zu seinem Erstaunen nicht abstoßend, son­dern anziehend, und ver­stohlen sah er immer wieder hinüber, auf ihre gebräunte Haut, ihre knappe Bek­lei­dung. Chan­tal berührte ihn leicht am Arm und gab ihm das Gefühl, wichtig und in diesem Moment genau der richtige Part­ner für sie zu sein. Hil­f­los wirk­te sie und schutzbedürftig, und er ertappte sich bei dem Gedanken, sie aus dieser Umge­bung befreien zu wollen. Dann aber sagte er sich, dass dies eine Falle sei; er hat­te schon davon gehört, dass Män­ner sich häu­figer in Frauen des Gewerbes ver­liebten und sie dort her­aus­holen woll­ten – und dass dies höchst sel­ten gelang. Den­noch war er ganz Ohr, als sie ihn fragte, ob sie noch woan­ders hinge­hen soll­ten.

„Wohin denn?“, fragte er, genau wis­send, was sie meinte.

„Ins Hotel.“

„Und dann?“

„Dann bum­sen wir ein biss­chen.“ Sie sagte es ver­schwörerisch und leise, dass klang wie: Komm, lass uns etwas Ver­botenes tun.

Er wusste nichts zu erwidern. Hil­fe­suchend sah er sich um, doch sein Blick blieb nur am Bar­keep­er hän­gen, der ihm auf­munternd zuzwinkerte.

„Ver­bün­de­ter oder Feind?“, fragte sich Michael und sah wieder zu Chan­tal, die eine Zigarette genom­men hat­te und nun darauf wartete, dass er ihr Feuer gab. San­ft berührte sie seine Hand, während er ihr ein Stre­ich­holz hin­hielt.

„Wie heißt du?“, fragte sie ihn.

„Habe ich meinen Namen noch nicht gesagt?“

Sie schüt­telte den Kopf.

„Michael …“, sagte er, „Michael Wehmeier“, und wün­schte, es hätte etwas mehr gehabt von „Bond ..., James Bond“.

„Bist du geschäftlich hier?“

„Ja.“

„Bleib­st du länger?“, fragte sie und zeigte auf sein Gepäck.

„Ich muss noch weit­er“, sagte er.

„Du warst noch nicht in der Bar, stimmt’s?“

„Sieht man das?“

„Du wirkst unsich­er und etwas schüchtern.“

„Ich bin unsich­er und etwas schüchtern“, ges­tand er ein.

„Das ist doch nicht schlimm“, sagte sie.

 

Sie zog sich einen dün­nen Man­tel über, bevor sie mit ihm zusam­men die Bar ver­ließ. Mit ihren hochhack­i­gen Schuhen kon­nte sie auf dem Pflaster kaum gehen, und Michael bot ihr an, sich bei ihm einzuhak­en. Wie ein selt­sames Paar, das aus ein­er Rock­op­er oder Trav­es­tieshow kommt, gin­gen sie den Bürg­er­steig ent­lang. Mit der freien Hand zog er seinen Trol­ley hin­ter sich her, und die Frauen und Män­ner in den Hau­se­ingän­gen blick­ten sie unver­wandt an.

„Wie teuer wird das eigentlich?“, fragte er.

„Fün­fzig.“

„Mehr nicht?“

„Es kommt noch etwas für das Hotel hinzu.“

Er sagte, er wolle noch etwas Geld am Auto­mat­en ziehen. In der Nähe fand er einen, von einem frem­den Insti­tut, was hohe Gebühren bedeutete, aber das war ihm in diesem Moment egal. Er ver­drängte den Gedanken an seinen Kon­to­stand, schob seine EC-Karte in den Schlitz, tippte die Geheimzahl ein und drück­te die Taste mit der „150“.

 

„Hier ist es?“, fragte er, als Chan­tal vor einem unschein­baren Haus ste­hen­blieb.

Sie bejahte.

Er schaute ungläu­big drein, denn in seinen Augen deutete wenig auf ein Hotel hin. Es gab auch keinen Emp­fang, nur ein düsteres Trep­pen­haus. Ein Mann kam in den Flur, Chan­tal schien ihn zu ken­nen. Sie grüßten sich beiläu­fig, und Chan­tal forderte Michael auf, fün­fundzwanzig Euro für das Zim­mer zu entricht­en.

Er fragte, ob sie nicht woan­ders hinge­hen soll­ten, in ein besseres Hotel. Gerne wäre er jet­zt in ein­er anderen Umge­bung gewe­sen, selb­st wenn es das Dreifache gekostet hätte.

Chan­tal lehnte ab.

Für einen Moment über­legte er, abzubrechen, alles zu vergessen, dann aber nahm er kurzentschlossen sein Porte­mon­naie und zahlte.

„Etwas zu trinken?“, fragte Chan­tals Bekan­nter, der eine Art Hauswart zu sein schien.

„Was ist denn im Ange­bot?“, erkundigte sich Michael, und wie zuvor in der Bar, lief es auch hier auf Sekt und Bier hin­aus, Sekt für sie, Bier für ihn.

„Brauchst du noch etwas?“, fragte ihn der Mann.

„Was denn?“, fragte Michael, woraufhin ihn der Mann am Ärmel zu sich zog, ihm einen Streifen eingeschweißter Pillen zeigte und behauptete: „Damit kannst du dreimal so lange.“

„Gar nicht auszu­denken!“, gab Michael zurück und machte sich von der frem­den Hand los. Der Mann ver­schwand in der Parterre-Woh­nung.

„Dann wollen wir mal!“, sagte Chan­tal, und Michael trot­tete hin­ter ihr her.

 

Das Zim­mer sah ungere­inigt und nach häu­figem Besuch aus. Chan­tal streifte ihren Man­tel ab und forderte ihn auf, es sich bequem zu machen.

Er schaute sich um, wo er Platz nehmen könne, doch er sah nur eine alte Zweier­couch am ver­dunkel­ten Fen­ster und set­zte sich lieber aufs Bett.

Chan­tal bat um Bezahlung. Allerd­ings war das Ein­stiegsange­bot von fün­fzig Euro, das sie jet­zt den Kon­tak­t­preis nan­nte, nicht mehr gültig und hat­te sich auf hun­dert erhöht. Mit den Getränken in der Bar und den fün­fundzwanzig für das Zim­mer, rech­nete er, war er bald bei zwei­hun­dert angekom­men.

Seinen fra­gen­den Blick beant­wortete sie mit den Worten: „So sind die Spiel­regeln.“

Er gab ihr das Geld. Er kan­nte die Spiel­regeln nicht und wollte nicht als klein­lich oder Spielverder­ber daste­hen.

Sie set­zte sich zu ihm aufs Bett, bat ihn, die Getränke zu öff­nen, wartete, bis er ihr und sich eingeschenkt hat­te und stieß mit ihm an.

„Kann ich vorher nochmal zur Toi­lette?“, fragte er.

„Klar“, sagte sie und zeigte ihm den Weg.

 

Die Toi­lette lag im Trep­pen­haus zwis­chen den Eta­gen, die Kabine war eng, es roch schlecht. Er öffnete ein kleines Fen­ster.

„Zu klein, um zu fliehen“, stellte er fest. Nach­dem er die Tür ver­riegelt und sich geset­zt hat­te, dachte er, dass er für die näch­ste halbe Stunde am lieb­sten dort geblieben wäre, wo er jet­zt war. Dafür aber hat­te er nicht bezahlt. Er über­prüfte den Inhalt sein­er Geld­börse und gelobte sich für die näch­sten Tage eis­erne Sparsamkeit.

 

Zurück im Zim­mer, forderte Chan­tal ihn auf, zu ihr zu kom­men. „Entspann dich“, sagte sie.

Genau das aber wollte ihm nicht gelin­gen.

„Und jet­zt?“, fragte er.

„Jet­zt musst du dich freimachen“, sagte sie.

„Wie beim Arzt“, scherzte er.

Sie wartete, bis er halb­nackt vor ihr saß, streck­te die Hand aus und fühlte über den Stoff sein­er Shorts.

„Ob Han­dau­fle­gen reicht?“

Sie sagte, er solle die Hose ganz ausziehen und sich zurück­le­gen.

Er tat, wie ihm geheißen, und er spürte, dass sie nun mit der eigentlichen Behand­lung begann.

So, dachte er, muss sich ein Tier fühlen, wenn es zum Laborver­such geht. Er ver­suchte, Erre­gung zu empfind­en, verge­blich.

Auf dem Bett liegend, nach oben zur Decke blick­end, die ein­mal weiß gewe­sen sein musste, nun aber beige­braun war, dachte er an all die Besuch­er, die schon vor ihm in diesem Zim­mer waren und ihre Haare, Aus­dün­stun­gen, Schup­pen und son­sti­gen Spuren dage­lassen hat­ten. In der Mitte der Decke, gle­ich über ihm, hing eine Lampe mit einem Stof­füberzug, der wie blankgescheuerte Ele­fan­ten­haut aus­sah. Nach unten hin war der Schirm offen, und das Licht blendete ihn wie eine OP-Lampe.

Er schloss die Augen und ver­suchte, an etwas Schönes zu denken, an seine let­zten, schon etwas länger zurück­liegen­den ero­tis­chen Erleb­nisse zum Beispiel, an das, was ihm daran gefall­en hat­te. Er ver­suchte, das Schöne daran auf diese Sit­u­a­tion zu über­tra­gen und sagte sich, dass er aufhören müsse zu denken, dass es die Gedanken seien, die ihn block­ierten und ihm im Weg stün­den beim Ver­such, sich auf Chan­tal einzu­lassen.

„Wenn ich bedenke, dass ich nur auf Fort­bil­dung bin …“, sagte er leise und schaffte es schließlich, Gefall­en daran zu find­en, was sie machte. Sie hat­te etwas an sich, das ihn seine Furcht vergessen ließ. Er lag auf dem Rück­en, die Augen geschlossen – für sie eine Rou­ti­ne­op­er­a­tion, für ihn eine schick­salss­chwere Stunde, unwis­send, ob das helle Licht über ihm von der Lampe oder schon vom näch­sten Leben her­rührte.

Chan­tals Bluse war aus syn­thetis­chem Mate­r­i­al und knis­terte, wenn er darüber­strich. Er stre­ichelte ihren Rück­en, ver­suchte, ihren Busen zu berühren, was sie abwehrte. Doch sie wusste, wie ihre Kun­den funk­tion­ierten, und hat­te er bis dahin geglaubt, es müsse Liebe oder zumin­d­est große Zunei­gung da sein, bevor etwas lief, erfuhr er nun, dass es auch anders ging. Noch war er jung, und sein Kör­p­er ließ ihn nicht im Stich – wie er nicht ohne Stolz fest­stellte – kein Grund, sich zu ver­steck­en, nicht vor Chan­tal und nicht vor dem Rest der Welt.

 

Dann aber unter­brach sie. Gle­ich, sagte sie, gle­ich gehe es richtig los, aber dafür müsse er nochmal ein­mal etwas zahlen.

„Warum?“, fragte er.

Er sei kein leichter Fall, sagte sie, also werde es etwas teur­er. Schließlich sei es kein Gesamt­paket, das er bestellt habe, da hätte er zu Beginn schon etwas großzügiger sein müssen.

Schla­gar­tig fühlte er sich ernüchtert und glaubte nun, das Prinzip dieser Begeg­nung ver­standen zu haben: Solange er nicht das bekam, was er wollte, solange kon­nte Chan­tal Geld von ihm nehmen, erbit­ten, fordern – wenn sie es geschickt anstellte, lange genug, bis er pleite war. Und je mehr er aus­gab, umso schw­er­er wurde es aufzuhören.

Er fragte, ob das alles sei: hun­dert Euro für zehn Minuten, kein schlechter Schnitt, ein wenig mehr habe er sich schon vorgestellt.

Sie zuck­te mit den Achseln und sagte, er könne es sich über­legen, solle damit aber nicht zu lange warten, sie müsse zurück in die Bar.

Er dachte an das Geld, das er bere­its aus­gegeben hat­te, und dass es nicht nur für die Rück­fahrt zum Nor­mal­tarif, son­dern für die erste Klasse gere­icht hätte. Nun wün­schte er sich nichts sehn­lich­er, als aus diesem Zim­mer, diesem Haus wieder her­aus zu sein, auf der Straße, zurück im Bahn­hof, nahe den Zügen, die ihn von hier fort­bracht­en.

 

Er solle nicht ent­täuscht sein, sagte sie, näch­stes Mal klappe es bes­timmt bess­er. Nun wisse er, was auf ihn zukomme und könne sich darauf ein­stellen. Mit vie­len, mit denen sie es zu tun habe, laufe gar nichts, die woll­ten nur reden.

„Ziem­lich teure Gespräche“, warf er ein.

„Wenn es ihm anschließend bess­er geht?“ Ihm sagte sie, als seien alle Kun­den gle­ich, und Michael ver­mutete, dass sie es für sie auch waren und dass sie ihn vergessen würde, sobald sie das Zim­mer ver­lassen hät­ten.

Er zog sein Hemd an, seine Hose, streifte die Jacke über. Chan­tal stand bere­its wieder im Man­tel vor ihm, sie ging zur Tür und bat ihn, vorauszuge­hen. Sie fol­gte ihm durch das Trep­pen­haus nach unten, über aus­ge­tretene Stufen, vor­bei an ein­er dun­klen Tapete – in einem Haus, das ein­mal großbürg­er­lich gewe­sen sein musste, Grün­derzeit oder Jugend­stil, gebaut für ein wohlhaben­des Bürg­er­tum, Leute, deren Kinder Klavierun­ter­richt und Reit­stun­den nah­men, nicht aber für die Gäste eines Stun­den­ho­tels.

 

Sie ver­ab­schiedete sich von ihm. Er müsse sich­er zum Bahn­hof, sagte sie, reichte ihm die Hand, und er wun­derte sich, wie schwach ihr Händ­e­druck war.

„In welche Rich­tung muss ich?“, fragte er.

„Zum Bahn­hof? Da ent­lang!“, sagte sie, zeigte die Straße hin­unter, wandte sich um und ging.

Er blick­te ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war, dann machte er sich auf den Weg. Ohne Seit­en­blick passierte er all die halb­sei­de­nen Ange­bote, die ihn – wie er nun wusste – mit falschen Ver­sprechen lock­ten, und je näher er dem Bahn­hof kam, umso mehr begann er, sich auf die Rück­fahrt, auf seine über­schaubare, ruhige und zuweilen etwas lang­weilige Heimat­stadt zu freuen.