Sonntagabend halb neun, ich fragte mich, wo er blieb, normalerweise konnte ich die Uhr nach ihm stellen. Othmarschen hieß er, doch ich vermute, dass der Name ein Pseudonym war, eines, das er sich in Anlehnung an den gleichnamigen Hamburger Stadtteil zugelegt hatte. Ein schöner Stadtteil und, wie ich fand, ein schöner Name. Hamburg. Da hatte er hingewollt, es aber nicht geschafft. Stattdessen war er in einem Kaff, fünfhundert Kilometer entfernt, hängen geblieben. Unnötig zu erwähnen, dass ihm das nicht gefiel.
Das erste, was ich von ihm sah, war die große Wochenendausgabe der „Hamburger Nachrichten“, die samstags erschien und sonntags auch bei uns im Bahnhof zu haben war. Er hielt sie fest, während er mit dem Widerstand der Schwingtür kämpfte, hereinkam und zur Seite trat, um keinen Schubser in den Rücken zu bekommen. Langsam ging er zur Theke, zog seine Jacke aus, hievte sich auf einen Barhocker, rückte seine Schiffermütze zurecht und verzog die Mundwinkel hinter seinem Bart zu einem Gruß: „Mojn.“
„Mojn“, antwortete ich und fragte ihn nach dem Grund für die Verspätung.
„Sie haben vergessen, die Zeitung zurückzulegen.“ Seine Stimme klang gequält, als koste ihn jedes Wort Mühe. Seit er gehört hatte, dass Norddeutsche eher wortkarg sind, bemühte er sich, es ihnen gleichzutun, zumindest solange er noch nichts getrunken hatte.
„Und die du mitgebracht hast?“ fragte ich – ihn, der um vieles älter war, wie selbstverständlich duzend.
„Eigentlich für jemand anderen bestimmt“, sagte er, „aber der ist nicht gekommen.“
Ich bereitete ihm einen Tee der Sorte „Ostfriesenmischung“, die ich bestellte, seit er hier verkehrte. Dazu servierte ich ihm einen Korn. Er unterdessen setzte eine Lesebrille auf, schob Tee und Schnaps auf einen sicheren Platz, entfaltete den ersten Teil der Zeitung und begann kopfschüttelnd zu lesen – kopfschüttelnd, weil er auf diese Weise am besten ein Gespräch beginnen konnte. Jetzt musste er nur noch einen Artikel finden, der sich dafür eignete.
„Im Hafenbecken bei den Landungsbrücken haben sie eine Fliegerbombe gefunden. Halb St. Pauli musste geräumt werden.“ Er sprach trocken wie ein Nachrichtensprecher.
„Dass man die Dinger nach so vielen Jahren immer noch findet“, antwortete ich, um irgendetwas zu sagen.
„Möchte nicht wissen, wer sein Häuschen alles auf einer Bombe gebaut hat“, sagte er nachdenklich.
Ich gab ihm Recht und spürte zugleich Unbehagen: Hatte ich doch gerade Wohneigentum gekauft, teurer als geplant, weshalb ich nach meiner Arbeit noch kellnern ging. Das war zwar anstrengend, machte aber auch Spaß. In der kleinen Stadt, in der ich jetzt wohnte, war der Bahnhof der einzige Ort, an dem wenigstens manchmal etwas passierte und ich nicht das Gefühl hatte, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein.
Othmarschens einziges Interesse galt Hamburg. Über die Neuigkeiten dort wusste er besser Bescheid als über die bei uns. Wenn er noch nicht viel getrunken hatte, stimmte es auch meist, was er erzählte.
„Die Köhlbrandbrücke hat Geburtstag. Großes Volksfest“, sagte er beiläufig.
„Aha“, bemerkte ich.
„Zwei Halbstarke haben einen Lebensmittelhändler umgebracht, wegen ein paar Euro in der Kasse“, empörte er sich wenig später.
„Was kann man tun?“, fragte ich.
„Wegschließen!“, sagte er bestimmt, „und zwar für immer.“ Einige der Gäste drehten sich um und sahen uns befremdet an.
„Nun ja“, versuchte ich zu beschwichtigen, „vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten.“
„Ach was!“, beendete er und wandte sich den nächsten Artikeln zu, die, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wieder von erfreulicheren Themen handelten. Er faltete und entfaltete, bildete zwei Haufen, Gelesenes und Ungelesenes, schichtete um, räumte auf, arbeitete sich wie ein Bagger durch die großen Seiten der Zeitung.
Für die Stellen- und Immobilienanzeigen ließ er sich Zeit, nahm einen Stift zur Hand und markierte einzelne Inserate. Er prüfte, welche Stellen für ihn infrage kamen und suchte Wohnungen, die nicht weit vom Arbeitsort entfernt lagen.
„Mit fünfundfünfzig kriegt man nichts mehr“, sagte er, was ihn nicht daran hinderte, über Bewerbungen, Wohnungen und Lösungen für die Probleme nachzudenken, die der neue Alltag mit sich bringen würde.
„Eppendorf, Harvestehude, Nienstetten“, sagte er und wiegte den Kopf hin und her, als könne er sich nicht entscheiden, wo es am schönsten sei. „Hier, wieder dieselbe Anzeige: Kleine Studentenwohnungen in Wedel. Steht schon viele Wochen lang drin.“
„Und? Kannst du sie dir leisten?“, fragte ich.
„Nicht ganz“, sagte er, „vielleicht, wenn ich auf Bier und Korn verzichte.“
„Wir wollen nicht gleich vom schlimmsten Fall ausgehen“, wehrte ich ab, doch nur zum Schein, denn da bestand in meinen Augen keine Gefahr. Seine sonntäglichen Besuche waren Ritual: drei Stunden, gefüllt mit Tee, Bier, Schnaps und Nachrichten aus Hamburg, drei Stunden, die er, wie er sagte, brauchte, um den Rest der Woche schicksalsergeben ertragen zu können, mochte da kommen, was wolle.
Was kam, waren zum Beispiel die Formulare der Arbeitsagentur, mit denen er sich nicht zurechtfand, die er mitbrachte, um mich zu bitten, einen Blick darauf zu werfen. Was ich las, es erschien mir, als wolle man einen alten Mann fit für Olympia machen und verpasse ihm nun täglich Lauf-, Schwimm- und Radtraining. Bei ihm hießen die Disziplinen Beraten, Bewerben und Vorstellen, und ich fragte mich, wer von den Beteiligten noch an den Erfolg der Übung glaubte. Man hielt ihn auf Trab, versetzte ihn in eine ständige Unruhe, die ihm aufs Gemüt und den Magen schlug – den Magen, den er bei mir an der Theke zu beruhigten suchte.
Waren die Gläser leer, stellte ich ihm ungefragt die nächste Runde hin. Zuerst nahm er das kleine Glas, kippte den Inhalt hinunter und sah mich mit verklärtem Blick an, als habe er soeben sein Lebenselixier eingenommen. Ein Außenstehender hätte noch nichts bemerkt, doch ich sah, dass er bereits ein wenig starrer als zu Beginn in die Zeitung blickte und etwas länger brauchte, um die Artikel zu verstehen.
„In Hamburg, da machen immer mehr Traditionsgeschäfte dicht. Es lohnt sich einfach nicht mehr.“
Fragend sah ich ihn an, überlegte nach einer Antwort, doch er war schon beim nächsten Thema: „Auf dem Kiez ist es auch nicht mehr wie früher“, sagte er, „zu viel Gewalt, keine Ehre.“
„Es gibt keinen Zusammenhalt mehr“, gab ich ihm Recht.
Dann blätterte er zum Veranstaltungsteil, wo die Tipps für die kommende Woche standen. Er kreuzte Termine an, als überlege er allen Ernstes, in der fünfhundert Kilometer entfernten Stadt auszugehen.
„Ich könnte einen Trödelmarkt besuchen“, sagte er, „anschließend ein Konzert und, zu guter Letzt, eine Lesung im Literaturhaus. Dann zurück mit dem letzten Zug.“
„Wird das nicht ein bisschen viel?“, warf ich ein.
„Man muss das Angebot nutzen, das die Stadt bereithält“, erwiderte er und sprach das Wort „Stadt“ mit spitzem „s“ aus, wie es die Norddeutschen tun: „ßtadt“.
Er setzte seine Lesebrille ab, stand auf, ging zur Toilette, stützte sich an Tischen und Stuhllehnen ab. Unsagbar alt kam er mir in diesen Momenten vor. Minuten vergingen, bevor er zurückkehrte und sich auf den Barhocker hievte, schwer, wie von einem Kran dort abgesetzt.
„Dasselbe nochmal?“, fragte ich.
Er nickte; ich schenkte ihm Korn ein und stellte ein weiteres Bier dazu.
Er winkte mich zu sich heran und rang sich zu einer Frage durch, die ihn offenbar Überwindung kostete: Ob ich ihm mit einer Bewerbung helfen könne?
Ich fragte, wie er das meine.
Daraufhin zog er einige Blätter hervor und reichte sie mir. Ich überflog das Anschreiben und sah, dass es voller Fehler war. Auch sein Lebenslauf hatte nicht die Form, die man einem Arbeitgeber hätte zumuten können.
„Bis wann brauchst du das?“, fragte ich.
„Ende nächster Woche“, sagte er.
„Bist du nächsten Sonntag wieder da?“
Er bejahte.
„Dann habe ich alles durchgesehen“, versprach ich.
„Wie kann ich das wiedergutmachen?“, fragte er.
„Indem du für Umsatz sorgst“, sagte ich halb ernst, halb im Scherz.
Einige Minuten später sagte er, dass er losmüsse, wenn er seinen Zug, den letzten an diesem Tag in seine Richtung, noch erreichen wolle. Die Zeitung ließ er da, und ich legte sie für die kommenden Tage beiseite, um darin zu lesen, wenn wenig zu tun war. Je mehr ich über Hamburg erfuhr, umso sympathischer wurde mir die Stadt. Wenn Zeit und Geld es erlaubten, würde ich hinfahren und mir alles ansehen, wovon Othmarschen erzählte und worüber ich las.
Noch einmal ging er zur Toilette, kam zurück, zahlte, gab etwas Trinkgeld und entschuldigte sich, dass es nur wenig sei.
Ich winkte ab und sagte, es sei mehr als genug.
Er zog die Jacke an, rückte die Mütze zurecht, und so, wie er gegrüßt hatte, verabschiedete er sich auch: „Mojn.“
Ich erwiderte den Gruß, während einige der Gäste erstaunt zu uns herüberblickten.
„Komm gut nach Haus“, sagte ich und bat ihn, noch einen Moment zu warten: Schnell nahm ich eine Flasche Weizenbier aus dem Kühlschrank und gab sie ihm mit, für unterwegs.
Er dankte, öffnete die Schwingtür und hielt sie fest, bis er draußen war. Die Treppe zur Unterführung ging er hinunter, und nach langen Sekunden, nachdem ich schon fürchtete, er könne seinen Zug verpassen, sah ich ihn auf dem richtigen Bahnsteig wieder auftauchen. Wenig später fuhr die Regionalbahn ein. Er stieg ein, setzte sich, nahm die Mütze ab, sah in meine Richtung, und ich glaubte, ein Nicken zu erkennen. Dann blickte er geradeaus, bis der Zug abfuhr.
Ich nahm seine Unterlagen und las: Er schrieb an ein Unternehmen, das nicht weit von hier seinen Sitz hatte und einen Lagermeister suchte. Kein schlechter Job für ihn, wie mir schien. Ich nahm mir vor, sein Schreiben zu verbessern, so gut ich konnte. Zeugniskopien hatte er beigelegt, in vielen Städten war er bereits gewesen. Von Hamburg stand da nichts.