Er hatte noch Zeit, bis sein Zug nach Berlin Gesundbrunnen einfuhr, betrat einen Zeitschriftenladen, um nach Gitarrenzeitungen zu suchen, doch er blieb an denen für Kinder hängen, solche, die Nik und Jul ihm so oft abgepresst hatten. Kernige dunkle Farben für die Jungs, Pink, Rosa und Himmelblau für Mädchen. Etwas mit Pferden für Jul. Etwas zum Basteln für Nik. Er kaufte ein Heft für Jul und steckte es zu den übrigen Geschenken für sie. Um Niks Geschenke würde er sich auf dem Rückweg kümmern.
Er hatte an diesem Morgen noch nichts gegessen und spürte Hunger. Auf dem Bahnsteig stellte er sich dorthin, wo das Bordrestaurant zum Stehen kommen sollte. Der ICE fuhr ein. Er stieg ein und setzte sich an einen freien Tisch.
„Ein Rühreifrühstück bitte.“
„Tut mir leid, gibt’s heute nicht, die Kühlung ist aus.“
„Kann man sie nicht einschalten?“
„Sie ist kaputt.“
„Gibt es dann überhaupt Frühstück?“
„Ich kann Ihnen ein Ciabattabrot und frisch gebrühten Kaffee anbieten.“
„Einverstanden. Aber warum nehmen Sie mir die Karte denn jetzt wieder weg?“
„Es lohnt sich heute es nicht, da hineinzuschauen.“
Halt kurz hinter Duisburg auf freier Strecke. Keine Durchsage. Fünf Minuten, zehn ... Eines dieser Dinge, die jeder Bahnreisende kennt, aber nicht versteht. Blick in eine Siedlung, auf einen Spielplatz. Dort, das war er, und in den Kinderschaukeln Nik und Jul. Nik, noch nicht genau wissend, wie man sich Schwung zum Schaukeln holt, er, ihn anschubsend, Nik schaukelt, endlich, immer weiter, immer höher. Sie in der Schaukel mit dem orangefarbenen Gestell, aus dem sie nicht herausfallen kann, er, sie anschubsend, dann in der Flugbahn stehend, ihr den Po hinhaltend und im letzten Moment wegspringend, Jul, die ihn mit dem Fuß zu erwischen versucht, aber in die Luft tritt, lachend und glucksend vor Freude.
Hinter der Siedlung eine Kirche. Monika in der Kirche. Sie sagte, sie würde auch auf Knien rutschend noch zum Gottesdienst kommen. Ach, deshalb sei sie immer so spät, erwiderte er, doch ihr war nicht zum Scherzen zumute.
Reizvoll, fast schon erotisch fand er es, wie sie in der Andreaskirche in der Düsseldorfer Altstadt auf die Knie ging, um zu beten. Er, protestantisch, blieb sitzen. Ihre Geste der Unterwerfung inmitten von barocker Pracht. Zu spät kommend, fanden sie immer nur ganz hinten Platz. Ihm war’s recht, denn eine Stunde Gottesdienst war ihm zu lang, und ihr wohl auch, wenngleich sie dies nie zugegeben hätte. Immerhin wurde er im katholischen Gottesdienst nicht so müde wie im evangelischen, weil man sich regelmäßig erhob, wieder setzte, auf die Knie ging, wieder aufstand, das hielt den Kreislauf in Schwung, im Gegensatz zu den Evangelischen, die sich nur zum Ende des Gottesdienstes hin erhoben, um das Vaterunser zu beten. Bis dahin waren ihm die Augen schon zugefallen.
Berlin, eine dreiviertel Stunde Aufenthalt. Er telefonierte mit Nik, der während seiner Reise bei seiner Cousine und ihrem Mann in Lübeck blieb. Nik sagte, dass er eine gute Zeit habe. Michael vermied es, ihn auf Jul und Monika anzusprechen.
In einem Bekleidungsgeschäft entdeckte er eine blaue, gesteppte Lederjacke. Viele Jahre lag es zurück, dass er zuletzt eine Lederjacke getragen hatte, und er fragte sich, ob es nicht wieder Zeit dafür sei. Die Jacke war von zweihundertachtzig auf zweihundert Euro reduziert und noch mal zehn Prozent gingen ab, wenn er Mitglied im Kunden-Club wurde. Er probierte sie an. Die Verkäuferin, die mit polnischem Akzent sprach, bot ihm dänische Buttercookies und ein Wasser an und sagte, dass ihm die Jacke ausgezeichnet stehe. Sie stammte aus Bydgoszcz. Da sei er schon umgestiegen, den Bahnhof kenne er, mehr leider nicht, wusste er zu berichten – die Jacke unterdessen drehend und wendend und zu dem Schluss kommend, dass sie mitmusste. Die Verkäuferin schickte weitere Komplimente nach, wie gut die Jacke zu ihm passe, sie trug etwas zu dick auf, aber ihre Worte fielen bei ihm wie Regen auf einen viel zu lange ausgedörrten Boden. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm zuletzt jemand Komplimente gemacht hatte.
Eine blaue Lederjacke aus Berlin, isn’t that cool? Seine alte C&A-Jacke ließ er gleich im Bahnhof, über einem Geländer, versehen mit einem Zettel „Zu verschenken“. Wer sie wohl mitnahm?
Dann fuhr er die Rolltreppen hoch zum Gleis 12, noch wenige Minuten bis zur Abfahrt des Warszawa-Express‘, der schon bereit stand. Er betrat das Restaurantabteil, hob Koffer und Taschen in die Ablage, setzte sich, wartete auf den Kellner, der den Gang entlang kam und ihm die Speisekarte auf Deutsch hinlegte. Das enttäuschte ihn ein wenig. Auf Englisch, gerne, auf Polnisch, perfekt, aber auf Deutsch? Sah er denn kein kleines bisschen international aus? Doch er verblüffte den Kellner mit einer einigermaßen fließend vorgetragenen Bestellung auf Polnisch, er lächelte, und der Kellner lächelte zurück. Für die dreieinhalb Stunden bis Poznań hatte Michael einen Verbündeten gefunden.
*
Im Düsseldorfer Hauptbahnhof gab es englischsprachige Gitarrenzeitschriften, ziemlich teure, doch aber das richtige Doping für die Mitglieder einer eingeschworenen Fangemeinde, und in seinen Buchregalen behauptete sich die Zahl an Gitarrenzeitschriften und -büchern immer besser gegen Lyrik, Belletristik und Sachbuch. Kaufen und verkaufen, behalten und aussortieren – er hatte sich einen Nebenerwerb damit aufbauen wollen, doch aber reichte das Talent nicht zum Geschäftsmann, fast immer zahlte er drauf. Zehn Gitarren nannte er sein Eigen und halb so viele Verstärker; seine Spielzeiten präzise festgehalten im Lärmprotokoll der Nachbarin über ihnen. Dass man einen Verstärker nicht aufdrehen musste und eine Jazzgitarre auch leise spielen konnte, schien außerhalb ihrer Vorstellungkraft zu sein. Oder störte sie seine mangelnde Spielkunst? Nein, er spielte nicht besonders gut, und systematisches Üben lag ihm fern. Monika schaute gequält drein, wenn er eine seiner Gitarren zur Hand nahm: „Oh nein, nicht schon wieder.“ Bei den Galliern wäre er geendet wie der Troubadour bei Asterix und Obelix. Damals gab es noch keine Lärmprotokolle – jene Listen, mit denen die Übermieterin ihnen ihr Fehlverhalten nachzuweisen versuchte. Und sie letztlich aus der Wohnung drängen. Sogar wörtliche Zitate aus ihren Streitereien hatte sie herausgeschrieben. Diese Listen waren ein Lebensbeweis!
Sie waren die einzigen mit Kindern in diesem Haus, natürlich waren sie die lautesten, wie sollte es anders sein, es wäre doch unnatürlich gewesen, hätten sie sich ebenso leise, geradezu lebensfern verhalten wie die älteren Ehepaare und alleinstehenden Frauen in den übrigen Etagen, und was sollte die Übermieterin schon gegen sie erreichen, schließlich kündigte man einer Familie mit zwei Kindern nicht so schnell, erst schickte man Sozialarbeiter, dann Anwälte, dann Gutachter ..., aber bis zu den Gutachtern kam es nicht mehr, denn die Familie zerbrach, und in der Wohnung blieben nur Vater und Sohn übrig. Doch die Übermieterin hatte wohl in Erwartung, dass sich nichts ändern werden, bereits gekündigt; so zogen sie aus, erst die einen, dann die anderen, Generationenwechsel in diesem Haus, und bei der Vermietergesellschaft konnten vermutlich einige prall gefüllte Aktenordner ins Archiv wandern.
Die Mülltonnen vorn in der Mauer des Hauses, mit ihren quietschenden Eisentüren, die drei Tonnen, von denen die mittlere, die versteckte, immer leer war, nun seine Tonne wurde – und manchmal nicht geleert, weil zu versteckt selbst für die Müllabfuhr.
Monikas Unterlagen, ein ganzer Schrank voller Papier, nur das Wichtigste bewahrte er auf, der Rest für die Tonne. Das Spielzeug der Kinder, mit jedem verband er eine Geschichte. Juls Kleidung, vieles davon schon zu klein: weg, alles weg, in den Müll und falls noch brauchbar: in die Give-Box ein paar Straßen weiter. Den Kork-Laminat, den er gewählt hatte, damit die beiden nicht so hart fielen, wenn sie fielen, weg, Stück für Stück. Wickelkommode, Kinderbett, Kleiderschrank: zum Sperrmüll, wo die Hälfte davon in polnischen Transportern verschwand und einen ähnlichen Weg nehmen würde, den Monika und Jul genommen hatten. Ob sie die Gegenstände in einem polnischen Gebrauchtmöbelladen wiederfanden? Monika hätte sich ihre neue Wohnung wie die alte einrichten können.
Vor jedem seiner Umzüge hatte er sich von Besitz getrennt, doch noch nie von so viel wie dieses Mal. Und dennoch fuhr der Umzugswagen, der nur einmal hatte fahren sollen, zweimal nach Krefeld. Und doch kam ihm das Ankommen in Krefeld wie eine Niederlage vor. Und Nik auch.
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Blick vom Vapiano im Berliner Hauptbahnhof aus auf den Bundestag. Ein kalter Tag, es regnete. Wir oft er im letzten Jahr schon in Berlin umgestiegen war, wie oft hier aus dem Fenster gesehen hatte ... Berlin war sein Zwischenschritt, seine Auszeit auf dem Weg nach Torun. Hier vollzog sich die Metamorphose vom fließend gesprochenen Deutsch zum nur rudimentär vorhandenen Polnisch, die Wandlung von der Sprache zur Sprachlosigkeit – immer dankbar, ins Englische flüchten zu können: „Przeprazam, do you speak English?“
„Yes, a little.“
Und das „little“, es reichte meist, denn ohnehin war es fast immer dasselbe, was Touristen wissen wollen: Wo war ein gutes Restaurant? Wo die nächste Toilette? Wo sein Hotel? Wo ein bewachter Parkplatz? Wo das Museum? Erstaunt die Blicke und etwas länger die Momente des Zögerns, wenn er nach dem Vorort Rubinkowo und der Ulica Rydygiera fragte. Dorthin verirrte sich kein Tourist. Aber er war ja auch keiner. Sehenswürdigkeiten und Ausstellungen interessierten ihn nur am Rande. Kopernikus und Ginger Bread – schön und gut, aber er war wegen einer Familienangelegenheit hier. Er trug die Maske des Touristen, sie machte vieles leichter. Man war nachsichtig mit ihm. Man verstand, wenn er sagte, er habe sich verlaufen. Wenn er sagte, er könne nur ein bisschen Polnisch. Man ahnte vielleicht, dass er eigens einen Sprachkurs besucht –, man ahnte bestimmt, dass der nicht viel gebracht hatte.
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Der Sitz im Speisewagen, es war kein Federkern, nur zehn Zentimeter dicker Schaumstoff. Am Ende der drei Stunden von Berlin bis Poznań würde sich einer dem anderen angepasst hatten: sein Po dem Sitz oder umgekehrt, und vielleicht wären beide auch bis dahin zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen.
Hinter Berlin nahm der Zug Fahrt auf. Die Telefonate verrieten ihm, dass außer ihm offenbar kein Deutscher im Wars-Speisewagen saß. Er wählte „Kotlet schabowy“ und ein Piwo. Ein Koch begann mit seiner Arbeit, klopfte das Fleisch, briet es an, der Duft zog durch den Speisewagen – nichts aus der Mikrowelle wie in deutschen ICEs. Er fotografierte sein Essen und postete es auf Facebook, schrieb „Welcome to Poland“ dazu. Schnell kamen einige Likes.
Die Lok hupte vor jedem Bahnübergang. Es ging mit 160 km/h voran, wie eine Anzeige ihm verriet – auf diesem Gleis, das keine Hochgeschwindigkeitsstrecke war; die Reise erinnerte ihn an das Bahnfahren in Deutschland vor der Einführung der ICEs. Damals wie heute hatte er es geliebt, das Reisen mit der Bahn, doch es gab einen Unterschied: Früher kamen die Reisenden miteinander ins Gespräch, er lernte die unterschiedlichsten Leute kennen, erfuhr von Biografien, die sich völlig von der eigenen unterschieden, wo sonst als im Zug war das möglich? In den polnischen Zügen war es noch so: Die Leute sprachen miteinander, trotz Smartphones, und ein weiteres Mal nahm er sich vor, richtig Polnisch zu lernen, um endlich mitreden zu können.
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Torun Glowny. Die schon greifbare Nähe zu Jul versetzte ihn in freudige Anspannung. Neidisch blickte er zu anderen, die von Angehörigen und Freunden abgeholt wurden. Er hatte Angehörige hier, aber sie waren keine Freunde. So blieb es ein merkwürdiger Spagat, im Hotel und manchen Geschäften bereits wie ein alter Bekannter begrüßt zu werden und anderen doch unwillkommen zu sein. Nicht ohne Sorge verfolgte er die nationalistischen Strömungen im Land, wäre er doch direkt von ihren Auswirkungen betroffen. Wer sollte ihm einmal ein Visum für den Besuch geben, wenn das nötig würde, wer für ihn bürgen, Monika, seine Schwiegermutter, sein Schwager?
Fahrt im Bus über die Weichsel-Brücke, Blick zur Toruner Altstadt mit ihren Kirchen, Gebäuden, ihrer gotischen, sich im Wasser spiegelnden Hanse-Romantik.
Zu Fuß über den Plac Rapackiego, durch einen kleinen Park, vorbei am teuren Hotel Copernikus, weiter zum billigen Ibis Budget, zu „seinem“ Hotel, „seinem“ Zimmer 412, Zahlen in Euro oder Zloty; in Zloty bitte, cash or card; card please.
Kurz frisch machen, dann wieder zurück zum Plac Rapackiego, schon halb neun Uhr abends; zu spät wollte er bei Monika und Jul nicht mehr aufkreuzen. Es dauerte ihm zu lange, bis die nächste Tram kam, er winkte ein Taxi herbei.
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Er hatte dem Fahrer die Adresse genannt, doch er korrigierte und bat, etwas vorher herausgelassen zu werden. Er reichte einen Zwanzig-Zloty-Schein hinüber, was fünf Euro entsprach, und verzichtete auf Wechselgeld. Er passierte einen kleinen Zabka-Supermarkt und überquerte die Straße, er schaute, ob er unter den Passanten Monika, Jul oder ein anderes Mitglied seiner Schwieger-Familie entdeckte. Entdeckte er nicht. Doch diesen Weg waren auch die beiden schon gegangen, es war ihr Weg von der Straßenbahn-Haltestelle zu ihrer Wohnung, hier, das war Juls neues Zuhause, hierhin war sie verpflanzt, versetzt worden. Mehr noch als Verbitterung fühlte er Erstaunen, dass so etwas überhaupt möglich war ...
Er ging um das Haus herum, um einen Blick in ihre Wohnung zu erhaschen, hoffte, dass ihn niemand für einen Einbrecher hielt, niemand ansprach. Alle Wohnungen in dem Block hatten Balkone, alle bis auf die mittleren, zu denen auch ihre gehörte. Jalousien versperrten ihm die Sicht, eine war ganz, die andere zweidrittel heruntergelassen. Er konnte nicht erkennen, ob jemand da war.
Vor dem Eingang wartete er, bis eine ältere Frau das Haus verließ. Er sagte etwas in gebrochenem Polnisch und lächelte sein breitestes Lächeln, damit sie ihn einließ. Gleich neben dem Eingang die Briefkästen. Wie ihre Klingel, so hatte auch dieser keinen Namen, nur eine Nummer. Doch seine Geschenke – Malsachen, ein Comic, Stickerheftchen, Modeschmuck, ein Stofftier – passten nicht alle hinein.
Ein paar Stufen, und er war an ihrer Wohnungstür. Klingeln oder nicht? Er lauschte an der Tür. Die leisen Geräusche, die er hörte, kamen die von dort oder von woanders? Juls typische Stimme, Monikas Stimme, die hörte er nicht. Er klingelte. Die leisen Geräusche verstummten. Klingelte nochmals. Wartete. Klopfte.
„Hallo? Monika?“
Nichts.
„Ich bin’s. Ich wollte fragen, ob wir ins Skrzynka gehen, etwas essen, trinken und reden.“
Nichts. Er klopfte erneut.
„Ich lade euch ein.“
Nichts.
„Ich will kein‘ Stress. Nur reden.“
Nichts.
„Ich kann euch auch etwas Geld dalassen.“
Nichts. Dafür Geräusche aus der Nebenwohnung. Und die Gewissheit, dass dort jetzt jemand hinter dem Türspion stand.
„Monika?“
Nichts.
„Ich lasse Geschenke für Jul hier vor der Tür. Bitte hol sie gleich rein.“
Pause.
„Ich verlasse jetzt das Haus. Ich warte im Skrzynka auf euch. Kommt vorbei!“
Pause.
„Ruf mich wenigstens an. Ich bin noch bis morgen Mittag in Torun.“
Im Restaurant angekommen, bestellte er Pierogi und ein Lech, setzte sich an einen Tisch ans Fenster. Von hier aus konnte er auf die Straße sehen, die Menschen dort, und er hoffte, dass Monika und Jul auftauchen würden. Sechs Jahre lang hatten sie zusammengelebt, waren eine Familie gewesen, und nun reichte es nicht mal mehr für ein gemeinsames Abendessen? Er weigerte sich, das zu glauben.
Er trat vor die Tür, rief seine Cousine an, erkundigte sich nach Nik. Alles in Ordnung. Sie waren an diesem Tag an der Ostsee gewesen. Nik hatte Fossilien gefunden.
„Du weißt doch, Papa, so eine Schnecke aus Stein.“
„Ein Ammonit?“
„Ja, genau, ein Ammonit. Ich zeige ihn dir. Wann bist du zurück?“
„Morgen Abend schon. Aber recht spät. Du hast noch einen ganzen Tag in Lübeck.“
Nik fragte nicht nach Jul, und Michael schnitt das Thema nicht an. Sie verabschiedeten sich und wünschten sich eine gute Nacht.
Er blieb, bis das Skrzynka um zehn Uhr schloss. Jul sollte um diese Zeit schon im Bett sein. Er hätte ihr gerne noch eine Geschichte vorgelesen, ihr einen Gutenachtkuss gegeben – abgeschnitten, Phantomschmerz, vergeblich der Versuch, die Bilder der Vergangenheit hinüber in die Gegenwart zu retten. Noch einmal ging er zu ihrem Haus, zu den Fenstern ihrer Wohnung, es brannte kein Licht.
Jetzt musste er sich nicht mehr beeilen, er hatte an diesem Tag nichts mehr zu tun. Er setzte sich auf eine Anhöhe auf eine Bank, vor einem alten Militärfort, in dem sich nun Lagerräume und Werkstätten befanden. Einige Anwohner waren noch mit ihren Hunden draußen.
Ihn fröstelte, denn die neue Jacke wärmte nicht sehr, und an einen Pulli hatte er nicht gedacht. Als er weitergehen wollte, stand ein Fuchs auf dem Bürgersteig. Er hatte noch nie einen wildlebenden Fuchs gesehen. Dieser sah ein bisschen verlottert aus, ungepflegt – sofern man das über Füchse sagen konnte. Waren Füchse für Menschen gefährlich? Vielleicht hatte er Tollwut, traute sich deshalb so nahe an ihn heran. Oder – wahrscheinlicher – er war wegen der Essensreste in den Mülltonnen hier. Er machte keine Anstalten zu fliehen. Ein paar Minuten sahen sie sich an wie zwei Westernhelden vor dem Showdown, und die Lichter der Laternen glänzten in den Augen des Tieres. Michael ging weiter, im großen Bogen um den Fuchs herum. Als er sich umdrehte, war er verschwunden. Verschwunden im dichten Grün des alten Forts.