Von der Entstehung eines Kunstwerks

Von

Emil­ia Castel­los Auf­gabe ...

... bestand in der End­kon­trolle von Staubtüch­ern, ein­er Tätigkeit, die wed­er geistige noch kör­per­liche Qual­i­fika­tion erforderte und ihren Möglichkeit­en wohl in kein­er Weise entsprach, aber nach vie­len Jahren der beru­flichen Absti­nenz, der Hausar­beit und dem Aufziehen dreier Kinder war es für die gel­ernte Näherin Emil­ia den­noch ein Glücks­fall, Anstel­lung in ein­er großen Flo­ren­tin­er Tuch­fab­rik gefun­den zu haben.

Ihr Arbeit­splatz befand sich in einem kleinen, schmuck­losen und rein zweckbes­timmt ein­gerichteten Raum, der in der Mitte von einem monot­on sum­menden Fließband zerteilt wurde, einem Band, das aus einem qua­dratis­chen Loch in der Wand erschien und in einem eben­solchen am anderen Ende des Raumes wieder ver­schwand. Es beförderte qua­dratis­che Kar­tons mit je fünfhun­dert Staubtüch­ern. Emil­ias und die Auf­gabe von sieben anderen Frauen war es, jedem Kar­ton ein Staub­tuch zu ent­nehmen, es in Winde­seile zu ent­fal­ten, kurz von bei­den Seit­en prüfend zu betra­cht­en, es dann wieder zusam­men- und zurück zu den vier­hun­dert­ne­u­nund­ne­un­zig Dub­likat­en zu leg­en. Im näch­sten Raum, welchen das Fließband durch­querte, erhiel­ten die Kar­tons deshalb den Auf­druck: „Qual­ität, von Hand geprüft“ – ein Güte­siegel, das ohne­hin bere­its jedes auf den Tüch­ern ein­genähte Etikett zierte. Es gab auf diese Weise weit­eren acht Frauen Arbeit, die in einem Raum von ähn­lich freud­los­er Ein­rich­tung mit dem Ver­schließen, Ver­siegeln und Bestem­peln der Kar­tons betraut waren, mit ein­er Tätigkeit also, die eben­so gut, wahrschein­lich bess­er von Maschi­nen hätte ver­richtet wer­den kön­nen.

Emil­ia glaubte ihre Arbeitsstelle sich­er, denn ein Etikett mit dem Auf­druck „Von Hand kon­trol­liert“ war dem Absatz eher förder­lich als eines mit der Schrift „Von Maschi­nen geprüft“ – wen­ngle­ich es wahrheits­gemäß anders hätte laut­en müssen: „Jedes fünfhun­dert­ste Staub­tuch von Hand kon­trol­liert“, oder: „Stich­proben­haft geprüfte Qual­ität“.

Doch nicht ein­mal jed­er fünfhun­dert­ste Käufer von Staubtüch­ern aus jen­er Flo­ren­tin­er Tuch­fab­rik kon­nte sich­er sein, ein ein­wand­freies Exem­plar erwor­ben zu haben, denn Emil­ia war, obgle­ich sie sich manch­mal so fühlte, eben keine Mas­chine. Ein sep­a­rater Ein­gang führte zu bei­den Seit­en des Fließbands, ein Schild wies die Arbei­t­erin­nen darauf hin, dass das Über­steigen, das Anre­ichen von Gegen­stän­den und sog­ar das Sprechen darüber hin­weg ver­boten seien. Und nach der Beschrei­bung ihrer an Abwech­slung nicht ger­ade reichen Tätigkeit wird es ver­ständlich erscheinen, dass sie nicht jedem Tuch die Aufmerk­samkeit schenk­te, die für eine erschöpfende Prü­fung nötig gewe­sen wäre. Wollte sie, wollte ihre Phan­tasie hier über­leben, musste sie sie auf die Reise schick­en, mussten ihre Gedanken die kahlen Wände, den schmuck­losen Raum ver­lassen, durften allen­falls in den Pausen zurück­kehren.

Rou­tiniert grif­f­en unter­dessen ihre Hände in jeden acht­en Kar­ton, ent­fal­teten beige Staubtüch­er, die sich nur durch ihre Far­bge­bung am Rand des Gewebes unter­schieden: braune, orange und grüne Streifen in qua­dratis­ch­er Anord­nung. Ihr müder Blick glitt kurz über bei­de Seit­en, darin bestand die Kon­trolle, bevor die Tüch­er glattge­zo­gen und zweimal gefal­tet in Kar­tons à fünfhun­dert zu ihrer Bestem­pelung befördert wur­den.

Der Raum war von dem immer gle­ichen Geräusch erfüllt, einem unter­schwelli­gen Sum­men, das Emil­ia nur anfangs gestört hat­te, nun aber bei der Flucht ihrer Gedanken half.

Es kann fol­glich nicht dem Zufall zugeschrieben wer­den, dass sie ein mis­s­ratenes Staub­tuch von ungle­ich­mäßiger Fär­bung, mit gekrümmten anstatt ger­ad­er Lin­ien „prüfte“ und wie gewohnt zurück in den Kar­ton legte. Zufall allen­falls, dass sie aus­gerech­net dieses anstelle der vier­hun­dert­ne­u­nund­ne­un­zig ein­wand­frei ver­ar­beit­eten Tüch­er erwis­cht hat­te. Zwar bemerk­te sie den Fehler, reagierte jedoch viel zu spät, weil es einige Sekun­den dauerte, bis ihre Gedanken wieder unter ihre Kon­trolle zurück­gekehrten.

Sie machte einen Schritt hin zu der Öff­nung, durch die der Kar­ton ver­schwand, hätte ihn noch zurück­hal­ten und das fehler­hafte Tuch ent­fer­nen kön­nen, zögerte jedoch. Es wäre einem Schuld­beken­nt­nis gle­ichgekom­men. Sie erah­nte die kopf­schüt­tel­nden, aus­druck­slosen Blicke ihrer Kol­legin­nen, erah­nte die Pein­lichkeit der Sit­u­a­tion, tat also nichts und wartete, im Innern aufgewühlt, auf den näch­sten Kar­ton. Unsich­er ent­fal­tete sie das obere Tuch und atmete auf, als sie sah, dass es in Ord­nung war.

Der Vor­fall aber ließ sie den ganzen Tag nicht mehr zur Ruhe kom­men, und auch an den fol­gen­den Tagen prüfte sie jedes Tuch mit dop­pel­ter Gründlichkeit, prüfte jede Seite mehrfach, kon­trol­lierte den Lauf ein­er jeden braunen, orangen und grü­nen Lin­ie.

 

 

Gelassen ver­nahm Lisa Patroli­ni ...

... das Gezeter der Kundin, die sich in Rage redete und das Tuch ankla­gend vor ihr auf dem Tisch ent­fal­tete. Sie indes kassierte weit­er und ließ sich ihre Ungeduld nicht anmerken; die Schlange vor der Kasse erlaubte keine Ablenkung oder gar Pause. Ihr gle­ich­mütiger Gesicht­saus­druck aber ver­an­lasste die Kundin nur zu neuen, noch heftigeren Schimpfti­raden – während sie abwech­sel­nd das Tuch in die Höhe hielt und es auf den Tisch zurück­legte, um ihrer ohne­hin wort­ge­walti­gen Stimme gestikulierend Nach­druck zu ver­lei­hen. Zwar war sie kaum größer als die Kasse auf dem Laden­tisch, dafür aber von umso gewichtiger­er Leibesfülle, mit kurzen, stäm­mi­gen Beinen, stand so den anderen Wartenden gewollt oder unge­wollt im Weg.

Lisa blieb nichts anderes übrig, als eine gespielt fre­undliche Miene aufzuset­zen und den Gegen­stand des Anstoßes eben­so wider­willig wie desin­ter­essiert in Augen­schein zu nehmen. Das Tuch von bei­den Seit­en betra­ch­t­end, erkan­nte sie die ungle­ich­mäßige Fär­bung, die falsch ver­laufend­en Lin­ien, erkan­nte, dass die Rekla­ma­tion berechtigt war, berechtigt wie unzäh­lige zuvor.

Sie fal­tete es zweifach, zog es glatt – genau­so, wie es Emil­ia in der Tuch­fab­rik täglich zu tun pflegte –, doch kan­nte sie nicht die Tuch­fab­rik, ahnte nichts von Emil­ias Exis­tenz; alles was sie sah, war die Auf­schrift „Von Hand geprüft“, war der beina­he tägliche Ärg­er mit den Kun­den, waren die Stapel von fehler­haft gewebten oder gefärbten Staubtüch­ern, die ein­mal im Monat als Son­derange­bot inseriert und zum hal­ben Preis verkauft wur­den. Das Güte­siegel „Von Hand geprüft“ war für sie zum Syn­onym für falsche Behaup­tun­gen gewor­den, und ihre Gle­ichgültigkeit, ihre teil­nahm­slose Miene und gespielte Fre­undlichkeit waren wed­er Arro­ganz noch Böswilligkeit, son­dern rein­er Selb­stschutz. Dahin­ter ver­barg sich eine Verärgerung, die par­al­lel zu der Zahl fehler­haft ver­ar­beit­eter Tüch­er wuchs. Eines Tages, hat­te sie sich vorgenom­men, würde sie hin­fahren zu jen­er Fab­rik und sich die anse­hen, die da „von Hand prüften“.

Ihre Kundin merk­te von alle­dem nichts. Mit Argusaugen fol­gte sie jed­er von Lisas Hand­be­we­gun­gen und ließ, da sie ihr Ziel erre­icht zu haben glaubte, etwas nach in ihrem Rede­fluss. Die knappe Antwort aber, sie möge sich ein neues Tuch aus­suchen und dann mit dem Kassen­zettel wiederkom­men, ver­set­zte sie doch in Erstaunen. Wohl hat­te sie mehr Wider­stand erwartet; sie ging zu den Regalen, begann wieder zu reden und mit den Armen zu gestikulieren. Lisa sah ihr nach und musste lächeln, warf dann das Staub­tuch in einen Korb zu der übri­gen Umtauschware.

 

 

Maria Del­cec­ci ...

... war eine unglück­liche Frau, und nur ein borniert­er Jurist wird ihr vorhal­ten kön­nen, die Misslichkeit ihrer Lage selb­st ver­schuldet zu haben. Der Mann ihres Lebens, vor der Heirat ein Kava­lier par excel­lence, ent­pup­pte sich danach als Tyrann, und Maria, zur Häus­lichkeit erzo­gen, ver­har­rte in ein­er läh­menden Mis­chung aus Har­moniebedürf­nis und Angst. Im Stillen hoffte sie auf eine Änderung zum Besseren, wen­ngle­ich ihr Ver­stand ihr täglich neu die Unmöglichkeit dessen vor Augen führte. Ihr Spiegel­bild betra­ch­t­end glaubte sie sich um die dop­pelte Zahl ihrer Jahre geal­tert, Fal­ten durch­zo­gen das einst makel­lose Gesicht, und der Vor­rat an Cremes, den ihr Mann von Zeit zu Zeit ver­nichtete, ver­schaffte nur kurzfristige Lin­derung.

Sie hat­te bere­its resig­niert, geglaubt, sich mit ihrem Schick­sal abfind­en zu müssen, als sie einen anderen Mann ken­nen­lernte. Er wurde ihr Lieb­haber, und viel mehr als das, er schenk­te ihr die Aufmerk­samkeit, die sie zuhause nicht bekam, führte sie aus, machte ihr Kom­pli­mente, war zärtlich und ein­fühlsam – und sie erwies sich als Meis­terin im Ver­steck­spiel, erfand immer neue Ausre­den, Vor­wände, Recht­fer­ti­gun­gen, um sich mit ihm zu tre­f­fen. Jedes Zusam­men­sein mit ihm war ein Sieg über den nicht­sah­nen­den Despoten. Sog­ar die Fal­ten wur­den weniger, weil sie nun täglich lachte. Sie freute sich allein schon darüber, eine ver­loren geglaubte Fähigkeit wiederge­fun­den zu haben. Um ihre Tre­f­fen vorzu­bere­it­en, bedachte sie jede Kleinigkeit, set­zte all ihren Ver­stand ein, um das dop­pelte Spiel zu per­fek­tion­ieren. Sie fand Gefall­en daran, denn je gewagter die Umstände, umso größer ihr Sieg.

War sie vor­mals stun­den­lang gedanken­ver­loren durch die Kaufhäuser der Stadt geschlen­dert und hat­te sich Berge unnützer Dinge angeschafft, waren die eilig zusam­mengekauften vollen Tüten nun ihr Ali­bi. Die abendlichen Vor­würfe ihres Mannes, sie werfe sein hart ver­di­entes Geld zum Fen­ster hin­aus, bestätigten sie nur in der Gewis­sheit, dass er keinen Ver­dacht schöpfte. Dass er ein Vielfach­es dessen ver­soff, sie entrüstete sich zwar wie ehe­dem darüber, aber es störte sie nicht, denn seine getrübte Wahrnehmung kon­nte ihren Absicht­en nur dien­lich sein.

So fiel sie denn auch aus allen Wolken, als an einem Mon­tagvor­mit­tag – ihre Kinder waren in der Schule und ihren Mann glaubte sie bei der Arbeit – ein Schlüs­sel das Schloss der Haustür entriegelte. In Panik stieß sie ihren Lieb­haber von sich, der, in höch­ster Ekstase, ihr Gebaren zunächst nur als neue Vari­ante des Liebesspiels begriff. Er war nicht mehr zu brem­sen, grun­zte und stöh­nte wie ein Tier; mit einem Reflex schaffte sie es ger­ade noch, ihm eine Hand auf den Mund zu pressen und ihm mit der anderen ein Tuch hinzuhal­ten, wo hinein er ejakulierte. Es war ein unregelmäßig gefärbtes Staub­tuch, welch­es sie zusam­men mit anderen Son­derange­boten an diesem Mor­gen wahl­los eingekauft hat­te – sie öffnete das Fen­ster und warf es hin­aus, drängte den Lieb­haber ins Badez­im­mer, schob seine Klei­dung unter das Bett, schaffte es noch, einen Mor­gen­man­tel überzuziehen, bevor ihr Mann das Zim­mer betrat.

 

 

Das Tuch ...

... lag mehrere Tage in der Abflussrinne, ver­dreckt vom Schmutz, aufgewe­icht vom Regen, getrock­net von der Sonne, bevor der erfol­glose Frank­furter Kün­stler Klaus E. Müller die Straße an eben­jen­er Stelle über­querte.

Bewaffnet mit Malka­s­ten und Feld­staffelei zog er seit Tagen durch die Straßen von Flo­renz auf der Suche nach Ideen und Inspi­ra­tion. Von sämtlichen ihm bekan­nten Frank­furter Gale­rien hat­te er bere­its Absagen erhal­ten und war nun­mehr zu der Überzeu­gung gelangt, nur ein Aus­land­saufen­thalt könne seinem kün­st­lerischen Schaf­fen noch Auftrieb ver­lei­hen. Also klap­perte er die großen, geschicht­strächti­gen Sehenswürdigkeit­en Ital­iens ab, weil er gele­sen hat­te, dass bere­its viele bedeu­tende Maler auf jenen Spuren gewan­delt seien. Er malte die Dome von Rom, Flo­renz und Paler­mo, skizzierte gotis­che Kirchen und Schlöss­er des Barock, porträtierte ital­ienis­che Adels­frauen und Land­mäd­chen, kon­nte aber kein Bild verkaufen, denn die der dort ansäs­si­gen Heimat­maler waren aus­nahm­s­los bess­er als seine. Also ver­schenk­te er sie und beschränk­te sich auf das Sam­meln von Gegen­stän­den, die er zuhause zu abstrak­ten Kom­po­si­tio­nen col­lagieren wollte.

Das Staub­tuch, beina­he völ­lig von Laub und Schmutz verdeckt, wäre ihm gar nicht aufge­fall­en, hätte nicht in dem Moment, als er das Haus passierte, die Bewohner­in des Parter­res Bürg­er­steig und Straße gesäu­bert und den Schmutz zu drei kleinen Haufen zusam­mengekehrt. Aus einem Haufen schaute ein Zipfel des Tuch­es her­aus, dessen merk­würdi­ges Kolorit Klaus E. Müller auffiel. Er blieb ste­hen und ver­fol­gte, wie die Frau im Haus ver­schwand, mit Kehrblech und Besen wiederkam, wie sie den Schmutzhaufen mit dem Tuch darin auf­fe­gen und zum Mülleimer tra­gen wollte.

Er versper­rte ihr den Weg, fragte, ob er es haben dürfe. Er könne es noch gut gebrauchen, fuhr er fort – bevor ihm auf­grund ihres fra­gen­den Gesicht­saus­drucks auffiel, dass er Deutsch gesprochen und sie kein Wort ver­standen hat­te. Sein Ital­ienisch aber reichte nicht zur Kon­ver­sa­tion. Sein Ver­such, ihr den Wun­sch in Englisch und Franzö­sisch ver­ständlich zu machen, bewirk­te eben­falls nur ein Kopf­schüt­teln, und seine Zeichen­sprache ver­an­lasste sie zu jen­er Hand­be­we­gung, die dem Sprechen­den sig­nal­isiert, dass er bess­er in ein­er Klinik aufge­hoben sei.

„Diese Frau ver­ste­ht ein­fach nichts von Kun­st!“, fol­gerte er fälschlicher­weise, riss das Tuch vom Kehrblech, der Schmutz stob ihr ins Gesicht, er wich einige Schritte zurück, sah, wie sie zunächst hus­tete und dann zu fluchen begann, andere kamen hinzu, die Lage wurde bedrohlich, er drehte sich um und gab Fersen­geld, so schnell ihn die Füße tru­gen. Völ­lig außer Atem stoppte er, set­zte sich auf einen Mauer­vor­sprung und besah seine Beute: Ein merk­würdi­ger Stoff, ein Tuch wie von Kün­stler­hand und zugle­ich sehr stüm­per­haft, eine abstrak­te Kom­po­si­tion und den­noch auf eine gewisse Weise gegen­ständlich.

Klaus E. Müller suchte ein Kün­stlerbe­darf­s­geschäft, kaufte Keil­rah­men, Fir­nis-Spray, einen Tuck­er mit den dazu gehören­den Heftk­lam­mern, ging zurück in sein Hotelz­im­mer und span­nte das Tuch auf. Das Ergeb­nis stellte ihn mehr als zufrieden. Sein Bild. Die erste sein­er „Ital­ienis­chen Impres­sio­nen“.

 

 

Der dreizehn­jährige Detlef ...

... Sohn der Nach­barn von Klaus E. Müller, ent­deck­te das Feuer zuerst. Seine „Unge­zo­gen­heit“, heim­lich an frem­den Türen zu lauschen und aus Ver­steck­en her­aus fremde Leute zu beobacht­en, ver­hin­derte, dass das Feuer allzu großen Schaden anrichtete. Neugierig ver­fol­gte er die Ret­tungsar­beit­en am nächtlich bren­nen­den Haus, und das Schaus­piel jagte ihm angenehme Schauer über den Rück­en.

„Das hast du gut gemacht, wer weiß, was son­st noch passiert wäre“, lobte ihn der Ein­sat­zleit­er des Feuer­löschzuges. Detlef aber bereute, etwas gesagt zu haben, denn nun war das Ereig­nis viel zu schnell vorüber. In einem unbeobachteten Moment schlich er sich an den Erwach­se­nen vor­bei und ergriff einen fast unbeschädigten Kar­ton. Er lief damit hin­ter die Laube in den Garten sein­er Eltern und öffnete ihn beim Schein ein­er Taschen­lampe. Mit einem Taschen­mess­er unter­suchte er die Beute. Als erstes fand er eine Schachtel fil­ter­los­er franzö­sis­ch­er Zigaret­ten, von denen er eine ver­paffte, dann ein Erotik­magazin mit eini­gen darin liegen­den Kohle-Skizzen – Klaus E. Müller hat­te hier ver­sucht, nach der Vor­lage von Erotik­fo­tografien Aktze­ich­nun­gen anzufer­ti­gen –, die ihm angenehme Schauer nicht nur über den Rück­en jagten, schließlich ein Bild, mit dem er über­haupt nichts anfan­gen kon­nte, das er, mehr aus Gle­ichgültigkeit als aus Ent­täuschung, mit seinem Mess­er auf­schlitzte.

Die Zigaret­ten und das Mag­a­zin macht­en ihn zum Mit­telpunkt in der Clique sein­er Spielka­m­er­aden. Das Bild aber nahm er mit zum näch­sten Trödel­markt und verkaufte es für fünf Euro an einen fre­undlichen Her­rn, der nicht ein­mal feilschte, son­dern ihm wort­los lächel­nd die ver­langte Summe, fünf Euro, reichte. Detlef war erstaunt. Er hätte sich auch mit zwei Euro zufriedengegeben.

 

 

Der fre­undliche Herr ...

... hieß Wern­er van Mehlsuhl, besaß in Köln eine Galerie und ver­stand sich als engagiert­er Fre­und und Förder­er junger exper­i­menteller Kun­st. Er hat­te sofort die Genial­ität, das Kap­i­tal des Bildes erkan­nt und nur beiläu­fig den Aus­führun­gen des Jun­gen zuge­hört, der behauptete, es von seinem Groß­vater, der ein berühmter Maler sei, zum Geburt­stag geschenkt bekom­men zu haben. An den Namen des Groß­vaters kon­nte sich der Kleine zwar merk­würdi­ger­weise nicht erin­nern, aber das machte nichts, denn van Mehlsuhl wusste, dass die Beze­ich­nung „ohne Titel“, ver­bun­den mit dem Hin­weis „unbekan­nter Meis­ter“ manchen Bildern dur­chaus einen zusät­zlichen Reiz ver­schaf­fen kann. Die Sig­natur war unle­ser­lich – er würde seine eigene Geschichte von der Entste­hung des Bildes erfind­en, eine Geschichte voller Geheim­nis und Mys­tik, dur­chaus geeignet, den Verkauf­spreis unver­hält­nis­mäßig in die Höhe zu treiben.

Van Mehlsuhl fuhr zurück in dem Bewusst­sein, eine neue Kun­stepoche, zumin­d­est aber Gat­tung ein­geleit­et zu haben, und er dachte während der ganzen Fahrt über einen passenden, dem Ereig­nis gerecht wer­den­den Namen nach. Er kam, wegen der zer­störten Ober­fläche des Bildes, zu dem Schluss, dass die neue Entwick­lung „Per­fo­ra­tionis­mus“ heißen müsse.

In Köln angekom­men ging er in sein Arbeit­sz­im­mer, öffnete eine Flasche guten Beau­jo­lais und dik­tierte eine Besprechung des Bildes in seinen Recorder. Er set­zte es vor einem bewegten Hin­ter­grund in Szene, leuchtete es aus und fotografierte es aus allen Winkeln.

An einem der fol­gen­den Tage brachte er Rezen­sion und Bilder zur Redak­tion eines Kun­st­magazins, das ihn als freien Mitar­beit­er beschäftigte. Das Orig­i­nal aber behielt er in sein­er Galerie, neu ger­ahmt und von starkem Glas geschützt.

 

 

Arthur Miller-Blake ...

... dem Äußeren nach ein Gen­tle­man alter Prä­gung, schwitzte Blut und Wass­er, als die Rei­he zum wertvoll­sten Stück des Tages kam. Obgle­ich seit Jahren mit der Ver­steigerung teur­er Gemälde ver­traut, hat­te ihn bish­er kein anderes Bild der­art erzit­tern lassen wie dieses unschein­bare Stoff­bild. Genau genom­men stand er kurz vor einem Zusam­men­bruch, weniger bed­ingt durch die Unruhe im Saal als durch die Tat­sache, dass er wissentlich eine Fälschung unter den Ham­mer brachte.

Was aber hätte er tun sollen? Diese Krim­inellen, die sich nicht zu erken­nen gaben, hat­ten ihm als Anteil das zehn­fache seines Jahres­ge­haltes für eine Arbeit von weni­gen Minuten geboten. Dies zunächst ablehnend, hat­te ihn die Dro­hung, dass sein­er Fam­i­lie etwas zus­toßen könne, gefügig wer­den lassen. Und nie­mand würde die Ver­wech­slung bemerken, davon hat­te sich sein Sachver­stand überzeugt. Es waren Profis, die ihr Geschäft ver­standen, er kon­nte sich ihnen nicht in den Weg stellen.

Außer ihnen wusste nur er um die Bedeu­tung des schein­bar sinnlosen Ein­bruchs in eine Flo­ren­tin­er Tuch­fab­rik, bei dem wertvolle Gegen­stände liegen­ge­lassen und lediglich mehrere falsch ver­ar­beit­ete Staubtüch­er entwen­det wor­den waren.

Warum aber hat­ten sie von ihm ver­langt, er solle auf eines der Tüch­er ejakulieren, und zwar auf genau vorbes­timmte Stellen, die übrige Fläche von Folie bedeckt? Zweifel­los han­delte es sich nicht nur um zu allem entschlossene, son­dern auch per­vers ver­an­lagte Täter, was sie in seinen Augen beson­ders gefährlich machte.

Seine Frau, die ihn bei der abendlichen Aus­führung des Befehls über­raschte, dro­hte mit Tren­nung. Ob sie ihm nicht mehr gut genug sei? Er antwortete nicht.

Er schwieg, denn er genoss den Ruf her­vor­ra­gen­der Seriosität und ließ, um den Betrug nicht zu gefährden, jede noch so erniedri­gende Anschuldigung gel­ten.