Emilia Castellos Aufgabe ...
... bestand in der Endkontrolle von Staubtüchern, einer Tätigkeit, die weder geistige noch körperliche Qualifikation erforderte und ihren Möglichkeiten wohl in keiner Weise entsprach, aber nach vielen Jahren der beruflichen Abstinenz, der Hausarbeit und dem Aufziehen dreier Kinder war es für die gelernte Näherin Emilia dennoch ein Glücksfall, Anstellung in einer großen Florentiner Tuchfabrik gefunden zu haben.
Ihr Arbeitsplatz befand sich in einem kleinen, schmucklosen und rein zweckbestimmt eingerichteten Raum, der in der Mitte von einem monoton summenden Fließband zerteilt wurde, einem Band, das aus einem quadratischen Loch in der Wand erschien und in einem ebensolchen am anderen Ende des Raumes wieder verschwand. Es beförderte quadratische Kartons mit je fünfhundert Staubtüchern. Emilias und die Aufgabe von sieben anderen Frauen war es, jedem Karton ein Staubtuch zu entnehmen, es in Windeseile zu entfalten, kurz von beiden Seiten prüfend zu betrachten, es dann wieder zusammen- und zurück zu den vierhundertneunundneunzig Dublikaten zu legen. Im nächsten Raum, welchen das Fließband durchquerte, erhielten die Kartons deshalb den Aufdruck: „Qualität, von Hand geprüft“ – ein Gütesiegel, das ohnehin bereits jedes auf den Tüchern eingenähte Etikett zierte. Es gab auf diese Weise weiteren acht Frauen Arbeit, die in einem Raum von ähnlich freudloser Einrichtung mit dem Verschließen, Versiegeln und Bestempeln der Kartons betraut waren, mit einer Tätigkeit also, die ebenso gut, wahrscheinlich besser von Maschinen hätte verrichtet werden können.
Emilia glaubte ihre Arbeitsstelle sicher, denn ein Etikett mit dem Aufdruck „Von Hand kontrolliert“ war dem Absatz eher förderlich als eines mit der Schrift „Von Maschinen geprüft“ – wenngleich es wahrheitsgemäß anders hätte lauten müssen: „Jedes fünfhundertste Staubtuch von Hand kontrolliert“, oder: „Stichprobenhaft geprüfte Qualität“.
Doch nicht einmal jeder fünfhundertste Käufer von Staubtüchern aus jener Florentiner Tuchfabrik konnte sicher sein, ein einwandfreies Exemplar erworben zu haben, denn Emilia war, obgleich sie sich manchmal so fühlte, eben keine Maschine. Ein separater Eingang führte zu beiden Seiten des Fließbands, ein Schild wies die Arbeiterinnen darauf hin, dass das Übersteigen, das Anreichen von Gegenständen und sogar das Sprechen darüber hinweg verboten seien. Und nach der Beschreibung ihrer an Abwechslung nicht gerade reichen Tätigkeit wird es verständlich erscheinen, dass sie nicht jedem Tuch die Aufmerksamkeit schenkte, die für eine erschöpfende Prüfung nötig gewesen wäre. Wollte sie, wollte ihre Phantasie hier überleben, musste sie sie auf die Reise schicken, mussten ihre Gedanken die kahlen Wände, den schmucklosen Raum verlassen, durften allenfalls in den Pausen zurückkehren.
Routiniert griffen unterdessen ihre Hände in jeden achten Karton, entfalteten beige Staubtücher, die sich nur durch ihre Farbgebung am Rand des Gewebes unterschieden: braune, orange und grüne Streifen in quadratischer Anordnung. Ihr müder Blick glitt kurz über beide Seiten, darin bestand die Kontrolle, bevor die Tücher glattgezogen und zweimal gefaltet in Kartons à fünfhundert zu ihrer Bestempelung befördert wurden.
Der Raum war von dem immer gleichen Geräusch erfüllt, einem unterschwelligen Summen, das Emilia nur anfangs gestört hatte, nun aber bei der Flucht ihrer Gedanken half.
Es kann folglich nicht dem Zufall zugeschrieben werden, dass sie ein missratenes Staubtuch von ungleichmäßiger Färbung, mit gekrümmten anstatt gerader Linien „prüfte“ und wie gewohnt zurück in den Karton legte. Zufall allenfalls, dass sie ausgerechnet dieses anstelle der vierhundertneunundneunzig einwandfrei verarbeiteten Tücher erwischt hatte. Zwar bemerkte sie den Fehler, reagierte jedoch viel zu spät, weil es einige Sekunden dauerte, bis ihre Gedanken wieder unter ihre Kontrolle zurückgekehrten.
Sie machte einen Schritt hin zu der Öffnung, durch die der Karton verschwand, hätte ihn noch zurückhalten und das fehlerhafte Tuch entfernen können, zögerte jedoch. Es wäre einem Schuldbekenntnis gleichgekommen. Sie erahnte die kopfschüttelnden, ausdruckslosen Blicke ihrer Kolleginnen, erahnte die Peinlichkeit der Situation, tat also nichts und wartete, im Innern aufgewühlt, auf den nächsten Karton. Unsicher entfaltete sie das obere Tuch und atmete auf, als sie sah, dass es in Ordnung war.
Der Vorfall aber ließ sie den ganzen Tag nicht mehr zur Ruhe kommen, und auch an den folgenden Tagen prüfte sie jedes Tuch mit doppelter Gründlichkeit, prüfte jede Seite mehrfach, kontrollierte den Lauf einer jeden braunen, orangen und grünen Linie.
Gelassen vernahm Lisa Patrolini ...
... das Gezeter der Kundin, die sich in Rage redete und das Tuch anklagend vor ihr auf dem Tisch entfaltete. Sie indes kassierte weiter und ließ sich ihre Ungeduld nicht anmerken; die Schlange vor der Kasse erlaubte keine Ablenkung oder gar Pause. Ihr gleichmütiger Gesichtsausdruck aber veranlasste die Kundin nur zu neuen, noch heftigeren Schimpftiraden – während sie abwechselnd das Tuch in die Höhe hielt und es auf den Tisch zurücklegte, um ihrer ohnehin wortgewaltigen Stimme gestikulierend Nachdruck zu verleihen. Zwar war sie kaum größer als die Kasse auf dem Ladentisch, dafür aber von umso gewichtigerer Leibesfülle, mit kurzen, stämmigen Beinen, stand so den anderen Wartenden gewollt oder ungewollt im Weg.
Lisa blieb nichts anderes übrig, als eine gespielt freundliche Miene aufzusetzen und den Gegenstand des Anstoßes ebenso widerwillig wie desinteressiert in Augenschein zu nehmen. Das Tuch von beiden Seiten betrachtend, erkannte sie die ungleichmäßige Färbung, die falsch verlaufenden Linien, erkannte, dass die Reklamation berechtigt war, berechtigt wie unzählige zuvor.
Sie faltete es zweifach, zog es glatt – genauso, wie es Emilia in der Tuchfabrik täglich zu tun pflegte –, doch kannte sie nicht die Tuchfabrik, ahnte nichts von Emilias Existenz; alles was sie sah, war die Aufschrift „Von Hand geprüft“, war der beinahe tägliche Ärger mit den Kunden, waren die Stapel von fehlerhaft gewebten oder gefärbten Staubtüchern, die einmal im Monat als Sonderangebot inseriert und zum halben Preis verkauft wurden. Das Gütesiegel „Von Hand geprüft“ war für sie zum Synonym für falsche Behauptungen geworden, und ihre Gleichgültigkeit, ihre teilnahmslose Miene und gespielte Freundlichkeit waren weder Arroganz noch Böswilligkeit, sondern reiner Selbstschutz. Dahinter verbarg sich eine Verärgerung, die parallel zu der Zahl fehlerhaft verarbeiteter Tücher wuchs. Eines Tages, hatte sie sich vorgenommen, würde sie hinfahren zu jener Fabrik und sich die ansehen, die da „von Hand prüften“.
Ihre Kundin merkte von alledem nichts. Mit Argusaugen folgte sie jeder von Lisas Handbewegungen und ließ, da sie ihr Ziel erreicht zu haben glaubte, etwas nach in ihrem Redefluss. Die knappe Antwort aber, sie möge sich ein neues Tuch aussuchen und dann mit dem Kassenzettel wiederkommen, versetzte sie doch in Erstaunen. Wohl hatte sie mehr Widerstand erwartet; sie ging zu den Regalen, begann wieder zu reden und mit den Armen zu gestikulieren. Lisa sah ihr nach und musste lächeln, warf dann das Staubtuch in einen Korb zu der übrigen Umtauschware.
Maria Delcecci ...
... war eine unglückliche Frau, und nur ein bornierter Jurist wird ihr vorhalten können, die Misslichkeit ihrer Lage selbst verschuldet zu haben. Der Mann ihres Lebens, vor der Heirat ein Kavalier par excellence, entpuppte sich danach als Tyrann, und Maria, zur Häuslichkeit erzogen, verharrte in einer lähmenden Mischung aus Harmoniebedürfnis und Angst. Im Stillen hoffte sie auf eine Änderung zum Besseren, wenngleich ihr Verstand ihr täglich neu die Unmöglichkeit dessen vor Augen führte. Ihr Spiegelbild betrachtend glaubte sie sich um die doppelte Zahl ihrer Jahre gealtert, Falten durchzogen das einst makellose Gesicht, und der Vorrat an Cremes, den ihr Mann von Zeit zu Zeit vernichtete, verschaffte nur kurzfristige Linderung.
Sie hatte bereits resigniert, geglaubt, sich mit ihrem Schicksal abfinden zu müssen, als sie einen anderen Mann kennenlernte. Er wurde ihr Liebhaber, und viel mehr als das, er schenkte ihr die Aufmerksamkeit, die sie zuhause nicht bekam, führte sie aus, machte ihr Komplimente, war zärtlich und einfühlsam – und sie erwies sich als Meisterin im Versteckspiel, erfand immer neue Ausreden, Vorwände, Rechtfertigungen, um sich mit ihm zu treffen. Jedes Zusammensein mit ihm war ein Sieg über den nichtsahnenden Despoten. Sogar die Falten wurden weniger, weil sie nun täglich lachte. Sie freute sich allein schon darüber, eine verloren geglaubte Fähigkeit wiedergefunden zu haben. Um ihre Treffen vorzubereiten, bedachte sie jede Kleinigkeit, setzte all ihren Verstand ein, um das doppelte Spiel zu perfektionieren. Sie fand Gefallen daran, denn je gewagter die Umstände, umso größer ihr Sieg.
War sie vormals stundenlang gedankenverloren durch die Kaufhäuser der Stadt geschlendert und hatte sich Berge unnützer Dinge angeschafft, waren die eilig zusammengekauften vollen Tüten nun ihr Alibi. Die abendlichen Vorwürfe ihres Mannes, sie werfe sein hart verdientes Geld zum Fenster hinaus, bestätigten sie nur in der Gewissheit, dass er keinen Verdacht schöpfte. Dass er ein Vielfaches dessen versoff, sie entrüstete sich zwar wie ehedem darüber, aber es störte sie nicht, denn seine getrübte Wahrnehmung konnte ihren Absichten nur dienlich sein.
So fiel sie denn auch aus allen Wolken, als an einem Montagvormittag – ihre Kinder waren in der Schule und ihren Mann glaubte sie bei der Arbeit – ein Schlüssel das Schloss der Haustür entriegelte. In Panik stieß sie ihren Liebhaber von sich, der, in höchster Ekstase, ihr Gebaren zunächst nur als neue Variante des Liebesspiels begriff. Er war nicht mehr zu bremsen, grunzte und stöhnte wie ein Tier; mit einem Reflex schaffte sie es gerade noch, ihm eine Hand auf den Mund zu pressen und ihm mit der anderen ein Tuch hinzuhalten, wo hinein er ejakulierte. Es war ein unregelmäßig gefärbtes Staubtuch, welches sie zusammen mit anderen Sonderangeboten an diesem Morgen wahllos eingekauft hatte – sie öffnete das Fenster und warf es hinaus, drängte den Liebhaber ins Badezimmer, schob seine Kleidung unter das Bett, schaffte es noch, einen Morgenmantel überzuziehen, bevor ihr Mann das Zimmer betrat.
Das Tuch ...
... lag mehrere Tage in der Abflussrinne, verdreckt vom Schmutz, aufgeweicht vom Regen, getrocknet von der Sonne, bevor der erfolglose Frankfurter Künstler Klaus E. Müller die Straße an ebenjener Stelle überquerte.
Bewaffnet mit Malkasten und Feldstaffelei zog er seit Tagen durch die Straßen von Florenz auf der Suche nach Ideen und Inspiration. Von sämtlichen ihm bekannten Frankfurter Galerien hatte er bereits Absagen erhalten und war nunmehr zu der Überzeugung gelangt, nur ein Auslandsaufenthalt könne seinem künstlerischen Schaffen noch Auftrieb verleihen. Also klapperte er die großen, geschichtsträchtigen Sehenswürdigkeiten Italiens ab, weil er gelesen hatte, dass bereits viele bedeutende Maler auf jenen Spuren gewandelt seien. Er malte die Dome von Rom, Florenz und Palermo, skizzierte gotische Kirchen und Schlösser des Barock, porträtierte italienische Adelsfrauen und Landmädchen, konnte aber kein Bild verkaufen, denn die der dort ansässigen Heimatmaler waren ausnahmslos besser als seine. Also verschenkte er sie und beschränkte sich auf das Sammeln von Gegenständen, die er zuhause zu abstrakten Kompositionen collagieren wollte.
Das Staubtuch, beinahe völlig von Laub und Schmutz verdeckt, wäre ihm gar nicht aufgefallen, hätte nicht in dem Moment, als er das Haus passierte, die Bewohnerin des Parterres Bürgersteig und Straße gesäubert und den Schmutz zu drei kleinen Haufen zusammengekehrt. Aus einem Haufen schaute ein Zipfel des Tuches heraus, dessen merkwürdiges Kolorit Klaus E. Müller auffiel. Er blieb stehen und verfolgte, wie die Frau im Haus verschwand, mit Kehrblech und Besen wiederkam, wie sie den Schmutzhaufen mit dem Tuch darin auffegen und zum Mülleimer tragen wollte.
Er versperrte ihr den Weg, fragte, ob er es haben dürfe. Er könne es noch gut gebrauchen, fuhr er fort – bevor ihm aufgrund ihres fragenden Gesichtsausdrucks auffiel, dass er Deutsch gesprochen und sie kein Wort verstanden hatte. Sein Italienisch aber reichte nicht zur Konversation. Sein Versuch, ihr den Wunsch in Englisch und Französisch verständlich zu machen, bewirkte ebenfalls nur ein Kopfschütteln, und seine Zeichensprache veranlasste sie zu jener Handbewegung, die dem Sprechenden signalisiert, dass er besser in einer Klinik aufgehoben sei.
„Diese Frau versteht einfach nichts von Kunst!“, folgerte er fälschlicherweise, riss das Tuch vom Kehrblech, der Schmutz stob ihr ins Gesicht, er wich einige Schritte zurück, sah, wie sie zunächst hustete und dann zu fluchen begann, andere kamen hinzu, die Lage wurde bedrohlich, er drehte sich um und gab Fersengeld, so schnell ihn die Füße trugen. Völlig außer Atem stoppte er, setzte sich auf einen Mauervorsprung und besah seine Beute: Ein merkwürdiger Stoff, ein Tuch wie von Künstlerhand und zugleich sehr stümperhaft, eine abstrakte Komposition und dennoch auf eine gewisse Weise gegenständlich.
Klaus E. Müller suchte ein Künstlerbedarfsgeschäft, kaufte Keilrahmen, Firnis-Spray, einen Tucker mit den dazu gehörenden Heftklammern, ging zurück in sein Hotelzimmer und spannte das Tuch auf. Das Ergebnis stellte ihn mehr als zufrieden. Sein Bild. Die erste seiner „Italienischen Impressionen“.
Der dreizehnjährige Detlef ...
... Sohn der Nachbarn von Klaus E. Müller, entdeckte das Feuer zuerst. Seine „Ungezogenheit“, heimlich an fremden Türen zu lauschen und aus Verstecken heraus fremde Leute zu beobachten, verhinderte, dass das Feuer allzu großen Schaden anrichtete. Neugierig verfolgte er die Rettungsarbeiten am nächtlich brennenden Haus, und das Schauspiel jagte ihm angenehme Schauer über den Rücken.
„Das hast du gut gemacht, wer weiß, was sonst noch passiert wäre“, lobte ihn der Einsatzleiter des Feuerlöschzuges. Detlef aber bereute, etwas gesagt zu haben, denn nun war das Ereignis viel zu schnell vorüber. In einem unbeobachteten Moment schlich er sich an den Erwachsenen vorbei und ergriff einen fast unbeschädigten Karton. Er lief damit hinter die Laube in den Garten seiner Eltern und öffnete ihn beim Schein einer Taschenlampe. Mit einem Taschenmesser untersuchte er die Beute. Als erstes fand er eine Schachtel filterloser französischer Zigaretten, von denen er eine verpaffte, dann ein Erotikmagazin mit einigen darin liegenden Kohle-Skizzen – Klaus E. Müller hatte hier versucht, nach der Vorlage von Erotikfotografien Aktzeichnungen anzufertigen –, die ihm angenehme Schauer nicht nur über den Rücken jagten, schließlich ein Bild, mit dem er überhaupt nichts anfangen konnte, das er, mehr aus Gleichgültigkeit als aus Enttäuschung, mit seinem Messer aufschlitzte.
Die Zigaretten und das Magazin machten ihn zum Mittelpunkt in der Clique seiner Spielkameraden. Das Bild aber nahm er mit zum nächsten Trödelmarkt und verkaufte es für fünf Euro an einen freundlichen Herrn, der nicht einmal feilschte, sondern ihm wortlos lächelnd die verlangte Summe, fünf Euro, reichte. Detlef war erstaunt. Er hätte sich auch mit zwei Euro zufriedengegeben.
Der freundliche Herr ...
... hieß Werner van Mehlsuhl, besaß in Köln eine Galerie und verstand sich als engagierter Freund und Förderer junger experimenteller Kunst. Er hatte sofort die Genialität, das Kapital des Bildes erkannt und nur beiläufig den Ausführungen des Jungen zugehört, der behauptete, es von seinem Großvater, der ein berühmter Maler sei, zum Geburtstag geschenkt bekommen zu haben. An den Namen des Großvaters konnte sich der Kleine zwar merkwürdigerweise nicht erinnern, aber das machte nichts, denn van Mehlsuhl wusste, dass die Bezeichnung „ohne Titel“, verbunden mit dem Hinweis „unbekannter Meister“ manchen Bildern durchaus einen zusätzlichen Reiz verschaffen kann. Die Signatur war unleserlich – er würde seine eigene Geschichte von der Entstehung des Bildes erfinden, eine Geschichte voller Geheimnis und Mystik, durchaus geeignet, den Verkaufspreis unverhältnismäßig in die Höhe zu treiben.
Van Mehlsuhl fuhr zurück in dem Bewusstsein, eine neue Kunstepoche, zumindest aber Gattung eingeleitet zu haben, und er dachte während der ganzen Fahrt über einen passenden, dem Ereignis gerecht werdenden Namen nach. Er kam, wegen der zerstörten Oberfläche des Bildes, zu dem Schluss, dass die neue Entwicklung „Perforationismus“ heißen müsse.
In Köln angekommen ging er in sein Arbeitszimmer, öffnete eine Flasche guten Beaujolais und diktierte eine Besprechung des Bildes in seinen Recorder. Er setzte es vor einem bewegten Hintergrund in Szene, leuchtete es aus und fotografierte es aus allen Winkeln.
An einem der folgenden Tage brachte er Rezension und Bilder zur Redaktion eines Kunstmagazins, das ihn als freien Mitarbeiter beschäftigte. Das Original aber behielt er in seiner Galerie, neu gerahmt und von starkem Glas geschützt.
Arthur Miller-Blake ...
... dem Äußeren nach ein Gentleman alter Prägung, schwitzte Blut und Wasser, als die Reihe zum wertvollsten Stück des Tages kam. Obgleich seit Jahren mit der Versteigerung teurer Gemälde vertraut, hatte ihn bisher kein anderes Bild derart erzittern lassen wie dieses unscheinbare Stoffbild. Genau genommen stand er kurz vor einem Zusammenbruch, weniger bedingt durch die Unruhe im Saal als durch die Tatsache, dass er wissentlich eine Fälschung unter den Hammer brachte.
Was aber hätte er tun sollen? Diese Kriminellen, die sich nicht zu erkennen gaben, hatten ihm als Anteil das zehnfache seines Jahresgehaltes für eine Arbeit von wenigen Minuten geboten. Dies zunächst ablehnend, hatte ihn die Drohung, dass seiner Familie etwas zustoßen könne, gefügig werden lassen. Und niemand würde die Verwechslung bemerken, davon hatte sich sein Sachverstand überzeugt. Es waren Profis, die ihr Geschäft verstanden, er konnte sich ihnen nicht in den Weg stellen.
Außer ihnen wusste nur er um die Bedeutung des scheinbar sinnlosen Einbruchs in eine Florentiner Tuchfabrik, bei dem wertvolle Gegenstände liegengelassen und lediglich mehrere falsch verarbeitete Staubtücher entwendet worden waren.
Warum aber hatten sie von ihm verlangt, er solle auf eines der Tücher ejakulieren, und zwar auf genau vorbestimmte Stellen, die übrige Fläche von Folie bedeckt? Zweifellos handelte es sich nicht nur um zu allem entschlossene, sondern auch pervers veranlagte Täter, was sie in seinen Augen besonders gefährlich machte.
Seine Frau, die ihn bei der abendlichen Ausführung des Befehls überraschte, drohte mit Trennung. Ob sie ihm nicht mehr gut genug sei? Er antwortete nicht.
Er schwieg, denn er genoss den Ruf hervorragender Seriosität und ließ, um den Betrug nicht zu gefährden, jede noch so erniedrigende Anschuldigung gelten.