Heinrich, der Bestatter

Von

Lach­sal­ven weht der Wind herüber, ins neue Jahr, lau­thalses Gebell, dann wieder erstick­te Vokale, hys­ter­ische, fröh­liche, böige Fet­zen, als hätte der Doppleref­fekt die heit­ere Sin­fonie orchestri­ert. Wir haben eine Burg gemietet, dies­mal, eine echte Burg, Schloß Glop­per ob Hohen­ems, 14. Jahrhun­dert, Blick ins Vier­län­dereck und zum Bodensee, angemessenes Ambi­ente für eine laute Sil­vester­nacht. Kein­er kann uns hören, die Wände sind zu dick, ein Mulatschag der Extrak­lasse, nach zwei Jahren der Ver­bote, Aus­ras­ten mit Ansage, dis­tanz- und gnaden­los. Die Luft geschwängert von Wun­derk­erzen, Böllern, Raketen und Rock‚n Roll, böse Geis­ter vertreiben, wie zu hei­d­nis­chen Zeit­en. Herun­terkom­men. Das Neue Jahr und seine junge Unschuld feiern. Ver­wandte und Fre­unde, ein spaßhun­griger Haufen, auf dem Weg ins Neue. Bilanzge­spräche, Ein­sicht­en, Aus­sicht­en, Rück­blenden, im laut­en Pulk bin ich nicht mehr zu Hause, Ruhe wäre jet­zt schön­er, eigentlich Stille, dabei hat­te ich das Gegen­teil geplant. Der Rotwein tut seine Wirkung, die frische Luft ist ein san­fter Beschle­u­niger.

Es ist nach Mit­ter­nacht. Noch immer Feuerblu­men am Him­mel, Schloß Glop­per ragt wie ein Wach­turm aus dem Fest, unbe­siegt, die Fen­ster flim­mern in allen Far­ben, der Mond ist blaß, er mag die Burg. Ich mache mich auf den Weg. Gehe fes­ten Schritts, aufs Ger­ate­wohl abwärts, dann steil bergauf, der Schloßberg macht vor mir einen Buck­el, der muß bezwun­gen wer­den, um sich auf der West­seite den freien Blick ins Rhein­tal zu ver­di­enen, ins feiernde Rhein­tal. Das Gehen bringt Ruhe, ver­scheucht die Unord­nung, will Struk­tur. Das Herz schlägt loy­al.
So läßt sich‚s gut denken, wohin mit mir und warum und all das, und dann – plöt­zlich Schritte, hin­ter mir, hastige Schritte, das wars mit der Kon­tem­pla­tion. Ohne mich umzu­drehen, weiß ich, wer mich ver­fol­gt, sein Atmen ist unverkennbar, ein unge­sun­des Ras­seln, eine leichte Böe bläst mir Zigar­il­lo­rauch in den Nack­en – das ist Hein­rich, der Bestat­ter, der auch im Gehen raucht. Ein schüt­ter­er, schwarz­er Lock­enkopf ste­ht ihm zu Berge wie ein verkohltes Draht­ge­flecht, langes schmales Gesicht, Mitte fün­fzig, fahle Haut, zu wenig Vit­a­mine, zu viel Nikotin. Zu viele Lebende auf einem Haufen kann er nicht ertra­gen. Aber ganz solo ¬– geht auch nicht. Er ist in der Krise. Nar­ben brechen gerne zur Jahreswende auf, alles ist ver­let­zlich­er, jed­er Furz will Bedeu­tung.

Ich weiß eh, du willst alleine gehn, tschuldige, Alter. Nein nein, kein Prob­lem. Wenn du mithal­ten kannst. Weit­erge­hen, ohne Worte. Er weiß, daß ich ihn mag. Ich horche auf, wenn er von sein­er Welt erzählt. Seine Tage wer­den zusam­menge­hal­ten durch eine Hier­ar­chie von Notwendigkeit­en, die Leben und Ster­ben­müssen nach sich ziehen. Geregelte Welt, auf ihn ist Ver­laß, die Toten wer­den begraben, nicht irgend­wie, son­dern ganz beson­ders, suum cuique sagt er, der Abgang als unvergeßlich­es Rit­u­al, indi­vidu­ell abges­timmt. Seine Särge haben Song­na­men – „Pur­ple Rain“, „You can leave your Hat on“ oder „Schi­foan“ – mit entsprechen­den Far­ben, pur­ple, knall­rot oder bleach blond, dazu adäquate Musik, Tänz­er, Sänger, das ganze Pro­gramm, ein Schuß New Orleans, um der Trauer die Dunkel­heit zu nehmen, das war neu in der hiesi­gen Branche, aber gar nicht so abwegig – er ist ja eigentlich Gitar­rist, Jazzer, ein tal­en­tiert­er dazu. Die Sym­biose der Beru­fun­gen scheint nun allerd­ings zu kränkeln. Verun­sicherung in jed­er Pore. Die Kol­le­gen­schaft zer­reißt sich das Maul über seine Extrav­a­ganzen, die Rep­u­ta­tion der Zun­ft sei gefährdet usw.
Er tra­bt hin­ter mir her wie ein Vor­wurf, raucht und stöh­nt. Ich kann mir nicht helfen, er fasziniert mich, dieser Toten­gräber, der von Zeit zu Zeit aus seinem eng umris­se­nen Schick­sal auch mal eine Mörder­grube macht, die ihn an der Kehle packt, mit eisigem Griff, als wollte sie ihn ins Toten­re­ich holen, den Abtrün­ni­gen, den Schar­la­tan, dem nichts mehr heilig ist, nicht mal der Tod. Er weiß: Pal­lia­tivmedi­zin­er, Patholo­gen oder Bestat­ter und ihre Sterbe- oder Toten­wel­ten inter­essierten mich seit ich mit elf die erste Leiche berührt hat­te, dabei hat er stets das Faszi­nosum, auf das ich bestand, bagatel­lisiert oder ver­leugnet, den nüchter­nen Prag­matik­er gespielt. Die Wahrheit aber sitzt tiefer. In der Krise.

Habe den Glauben ver­loren, sagt er, und bleibt stehn – ich bin verzweifelt, weißt du, wie ein Papst, der weise genug ist, got­t­los zu sein, aber zu müde, die Farce zu Ende zu spie­len. Genau jet­zt, an Sil­vester, die Glaubens­frage, bloß keine große Philoso­phie jet­zt, ich will nur gehen, Hein­rich, prob­lem­los. Er geht jet­zt neben mir, bein­hart entschlossen mir Gesellschaft zu leis­ten.
Ent­gleist sei er, abgekom­men von der Spur, die in Alter­na­tiv­en geführt hätte – in ein Musik­er-Leben vielle­icht, weißt du ... als Jazzer, anerkan­nter Gitar­rero auf ein­schlägi­gen Büh­nen, zu ein­er Ret­tungsin­sel vielle­icht, jet­zt ist der Kar­ren fest­ge­fahren, steckt im Dreck, so füh­le sich das an. Wir hat­ten auch schon gemein­sam musiziert, in kleinen Jazz Clubs, als indoor noch ger­aucht wer­den durfte. Songs von Ken­ny Bur­rell oder Wes Mont­gomery.
In den Spuren von Groß­vater und Vater, die das Bestat­tungsin­sti­tut aufge­baut hat­ten, will er nicht mehr weit­ergehn, sagt er. Es klingt wohlüber­legt, wie ein über­dachter Entschluß.

Dabei bist du in ein­er krisen­sicheren Branche, sage ich, gestor­ben wird doch immer, mehr oder weniger. Er zuckt mit der Schul­ter. Kein Trost. Hein­rich ist im Loch. Er atmet schw­er beim Aufwärts­gehn. Ein kaum gewarteter Pfad über den lan­gen Rück­en des Schloßbergs, der am Ende steil nach West­en hin abfällt, als über­hän­gen­der Fels, führt uns zu ein­er kleinen Aus­sicht­srampe, einem Erk­er am Berg, her­rlich­er Blick ins Rhein­tal, die Beloh­nung für die Plack­erei.
Eigentlich ein schmaler Fleck­en Wiese, so beengt und nah am Abgrund, daß ihn die alten Emser nur „s‚Plätzle“ nan­nten, verniedlicht, um dem Ort das Omen, das dort geis­tern soll, zu nehmen. Ein dürftiger Holz­za­un soll Angst machen vor dem Abgrund.
Noch eine Zigar­il­lo, zur Feier der Nacht, der Kerl inhaliert diese Dinger. Ein Paf­fer war er nie, sagt er, alles durchziehn, bis zur Neige. Sein Feuerzeug ist klo­big, eigentlich unhan­dlich schw­er und ver­gold­et, wichtig, als wärs eine Waffe. Seine flat­tern­den Lun­gen­flügel oder sind‚s die Bronchien, als wür­den kleine Met­all­teilchen aneinan­der­schla­gen – zer­bröseln von innen.
Ich wollte mich eigentlich leer machen beim Gehen, und er schüt­tet mich wieder zu, ich bin nicht wirk­lich bere­it für Trost und Bei­s­tand, aber ander­er­seits auch nicht abgeneigt, ich höre sie gerne, seine Geschicht­en. Er kann sie auch mit der Gitarre spie­len, und solieren kann er, jed­er Lauf erzählt dir was.
Also was? frage ich. Eine Sache nagt beson­ders und sie geht nicht weg, sagt er. Nach ein­er Schweigeminute dann: In den let­zten zwei Jahren, weißt du, während der Lock­downzeit­en, sind so viele junge Leute gestor­ben, das hältst du nicht aus. Nicht mal unsere­ins, so schlimm war das. Frag die Kol­le­gen. In der Presse war das kein The­ma. Aber meine Leute wissen‚s. Er besitzt zwei Insti­tute, eines in Niederöster­re­ich, eines in Wien. Ein weites Feld, weißt du.
An Coro­na gestor­ben? frage ich. Nein – Selb­st­mord. Teenag­er! Die meis­ten erhängt, an Lam­p­enk­a­beln, Lüstern, Fen­ster­stöck­en, an Heizkör­pern, weiß der Teufel, gesunde Teenag­er, Alter. Mit einem Sack voller Möglichkeit­en. Tot. Aus. Was ist da los?
Allein das Prozedere der Abhol­ung war ihm ein Canos­sagang, sagt er. Eine Sechzehn­jährige legt ihr weißes Kom­mu­nion­klei­d­chen aufs Bett, legt einen Abschieds­brief dazu und erhängt sich am Lüster. Das kriegst du nicht weg.
Nor­maler­weise kommt er mit den Toten gut klar, mit den alten Toten, bei der Waschung, der Kos­metik, beim Schön­machen spricht er mit ihnen, legt sich nach getan­er Arbeit neben die Verblich­enen, eine Hand auf ihrer kalten Stirn, sein Mund nah am Ohr der Leiche und stellt Fra­gen, steter Tropfen, als gäbe es eine Hoff­nung. Weißt du, wir ste­hen vorne am Bug und sehen jeden Tag ins Jen­seits, sagt er mit der wack­e­li­gen Hybris eines schlecht­en Schaus­piel­ers. Ihr seht biol­o­gis­che Reste und Asche, mehr nicht, Hein­rich, das Jen­seits ist in deinem Kopf. Außer­dem: du hast doch den Glauben ver­loren, wie der weise Papst, oder doch nicht? Ein bißl Tran­szen­denz bleibt immer, sagt er, bei Ein­stein und Hawk­ing wars genau­so und, ja, die spir­ituelle Neugi­er, irgend­was ist ... ich meine, zwis­chen denen und mir, das hat nichts mit Glauben oder Reli­gion zu tun, ich meine diese Sender- und Empfänger­sache, Resten­ergien, keine Ahnung – keine Ahnung. Und dabei wollen wir es bewen­den lassen. Wir gehen eine Weile schweigend. Und jet­zt? Wie solls weit­ergehn?

Irgend­wann hau ich mich auch weg, sagt er dann. Sehr entsch­ieden sagt er das.
Er tritt vor bis an die Rampe. Seine Knie berühren eine Quer­lat­te des Zauns. Hör auf mit dem Blödsinn, da geht’s 300 m runter, nack­ter Fels, über­hän­gend, mit sowas spaßt man nicht. Was willst du eigentlich? Du bist ein erfol­gre­ich­er Unternehmer, hast eine Frau, drei erwach­sene Kinder, alle gesund, bist ein begabter Musik­er, was ver­langst du denn noch, in Zeit­en wie diesen? „Das Leben begin­nt mit 50.“ Sehr witzig.
Wir lauschen ins Rhein­tal hin­aus. Der Föhn wacht auf, fährt uns ins Haar und über die Gräs­er.
Vielle­icht täusche ich mich, aber in der Atmo­sphäre liegt ein Anflug gelassen­er Zärtlichkeit, nichts Sinnlich­es, eher das stille Übereinkom­men zweier Ges­tran­de­ter, die sich mit der Rat­losigkeit ver­söh­nen wollen, ohne Panik und Ver­bit­terung.
Hein­rich, wir Alten wollen doch mal fes­thal­ten, bei allem Stunk, der jet­zt abläuft, Schick­sal und Geschichte haben uns in Wat­te gebet­tet, wir sind eine glück­liche Gen­er­a­tion und wäre ich kein Agnos­tik­er würd ich sagen, blas­phemisch ist das, sich so zu benehmen und Asche über dich. Übertreib nicht, Alter, es ist keine Schande wenn man sich was eingeste­ht.
Bist du sich­er, daß es die Wahrheit ist? Oder nur ein Gespinst, das sich im Suff wichtig macht. Ich bin nicht betrunk­en, sagt er.
Also was willst du? Eine moralis­che Legit­i­ma­tion für deinen Abgang, für deine Frau, deine Kinder? Eine Art Abso­lu­tion für deinen Abtritt, oder sowas? In etwa, sagt er prompt. Nein, genau das. Er sieht mich streng an dabei, wie ein­er, der schon Licht­jahre weit­er ist als meine Gedanken je waren. Dieser Blick erstaunt mich dann doch.
Willst du nicht ein­fach den Moment hier genießen? Die laue Luft, die jubel­nde Welt?

In diesem Augen­blick erin­nere ich mich an ein Gespräch, das vor fast 50 Jahren stattge­fun­den hat­te. Da unten, sage ich zu Hein­rich, und zeige Rich­tung Dorn­birn. Auf der Dachter­rasse des dama­li­gen Kul­turchefs von Radio Vorarl­berg, Leo H.
Ähn­lich­es The­ma. Ähn­lich­es Wet­ter. Auch ein lauer Win­ter­abend, ich lehnte mich damals über das Gelän­der, wie du grade eben. Ganz schön hoch der vierte Stock. Dicht neben mir stand ein 63 jähriger Mann, der viel älter aus­sah als die Wirk­lichkeit sein­er Dat­en. Das wache Gesicht, sein dün­ner Kör­p­er, die leicht gebeugte Hal­tung – wie eines dieser zerzausten  Baumskelette ober­halb der Wald­gren­ze, die jedes Wet­ter über­standen haben, wache, flinke Augen, ein müdes Lächeln unter den tiefhän­gen­den Lid­ern – ich hat­te ihm ger­ade zwei atem­lose Stun­den lang bei ein­er Lesung gelauscht, Essays „Über das Altern“ und „Hand an sich leg­en“. Weißt du, was ich meine? Hein­rich nickt. Ich weiß, was du meinst. Sein Name war Jean Amèry, der Mann, der SS-Folter, Auschwitz und Bergen Belsen über­lebt und schon 20 Jahre vor unserm Gespräch seinen wirk­lichen Namen, Hans May­er, in sein Ana­gramm ver­wan­delt hat­te, um den deutschesten aller deutschen Namen auszu­radieren. Was blieb war: Jean Amèry. Ich war 25 damals, das war 1975.

Ich erin­nere mich an die Perga­men­thaut sein­er schmalen, dür­ren Hände, die zer­brech­lich wie Glas­besteck aus den Ärmeln wuch­sen. Da stand der Pate des Fre­itods vor mir und mir zit­terten die Knie. Jet­zt bloß nicht den Jungspund mit lit­er­arischen Ambi­tio­nen her­aushän­gen, kön­nte pein­lich wer­den neben dem, der in die Wahrheit stechen kann wie ein Eispick­el. Dabei sah ich eher Güte in seinem Blick, als würde er mich um meine Ahnungslosigkeit benei­den, meine naive Seele, die den Blick in die Hölle noch nicht kan­nte. Also bess­er Maul hal­ten oder, wenn schon, vor­sichtig Fra­gen stellen zum Ein­schlägi­gen – „Hand an sich leg­en“ zum Beispiel oder eben Auschwitz, bess­er unge­lenke Neugi­er zeigen, der San­fte und sein schar­fer Geist würde den Jünger ver­ständ­nisvoll auf ver­meintliche Augen­höhe ziehen. Und so wars dann auch. Ich hat­te seine Büch­er gele­sen, weißt du, war beim „Diskurs zum Fre­itod“ hän­gen geblieben und begann zu fra­gen, wie das so war bei seinem ersten gescheit­erten Ver­such und ob sich damals schon alles gedeckt hat­te mit der The­o­rie. Hat­te es. Aber ein guter Fre­und hat­te ihn aus dem Koma geholt.
Nicht, daß ich Hein­rich ermuti­gen will, aber weil er schon erpicht ist darauf, bringe ich ihm Amėrys These vom „Hang zum Fre­itod“ näher, der näm­lich „keine Krankheit“ sei „von der man geheilt wer­den muß, wie von den Masern“. Und vor allem möchte ich ihm die Kon­klu­sio nicht voren­thal­ten, die müßte näm­lich passen wie die Faust aufs Auge: „Der Fre­itod ist ein Priv­i­leg des Huma­nen.“ Das beruhigt doch, nicht? ... Priv­i­leg des Huma­nen. Irgend­wie, ja, sagt er leise.
Drei Jahre später war Amèry wirk­lich tot, ver­stehst du? Wieder Schlaftablet­ten. Priv­i­legiert. Human. Ich bin dein guter Fre­und, Hein­rich. Noch bin ich nicht im Koma, sagt er, macht einen bedacht­en Schritt zurück von der Rampe, und zün­det sich noch eine an, sein ver­gold­etes Ding klickt mit Nach­hall.
Ich drehe mich wieder Rich­tung Dorn­birn, gegen Nor­den, mit dem Rück­en zu ihm und erzäh­le ihm noch ein paar ungustiöse Details von meinem dama­li­gen Gespräch, um ihm sein Vorhaben endgültig madig zu machen.

Über Fall­höhen hat­ten wir gesprochen, sage ich und über Fall­dauer, den Auf­prall selb­st, den Unter­grund – Beton, Wiese, Stein, eine Baumkro­ne, Wass­er, die Eisen­bahn, Tablet­ten, prag­ma­tis­che Dinge halt, über Kom­p­lika­tio­nen bezüglich der gewün­scht­en Wirkung ein­er Dosis, des Sprungs oder wie man störende Zufälle mit Sicher­heit auss­chließt usw. - zugegeben ein plumper Ver­such, aber das „Plät­zle“ scheint mir geeignet, vor dem gäh­nen­den Loch da, das vor uns liegt wie ein offenes Maul. Übri­gens, sage ich, ohne mich umzu­drehen, Amérys Fam­i­lie hat einst da unten gewohnt, mußt du wis­sen. Dabei zeige ich aufs Juden­vier­tel von Hohen­ems. Er stammte tat­säch­lich von hier, Ste­fan Zweig übri­gens auch, nicht ohne Stolz, sage ich das, als alter Emser.
Und während ich noch mit aus­gestreck­tem Arm und fuchtel­n­dem Zeigefin­ger eine kor­rek­te Ein­gren­zung sein­er früheren Wohn­statt ver­suche, spüre ich im Augen­winkel, daß der Platz hin­ter mir leer ist. Er ist weg. Hein­rich ist ver­schwun­den, ohne Ankündi­gung, ohne einen Laut. Hein­rich?!! Keine Antwort. Wäre er nach hin­ten davon­marschiert, hätte ich doch Geräusche hören müssen. Vielle­icht gesprun­gen, in aller Stille? Ich rufe lauter. Nichts. Kurz bleibt die Luft weg, ein Ziehen im Zah­n­fleisch. Ich muß sehr blaß sein. Das Feiern drüben ist noch zu hören. Mir wird schlecht, sehe ihn im Geiste noch fliegen, nein fall­en und auf­schla­gen an Fel­skan­ten, in Baumkro­nen, auf Beton am Ende.
Er hat­te also genug von den Toten. Wollte endlich sel­ber ein­er sein, denke ich. Wills aber nicht recht glauben, gehe auf Zehen­spitzen vor zum Holz­za­un, beuge mich über den Abgrund, weit über die Brüs­tung, lausche ¬– Nichts, außer der Klang des Schloßbergs, der Wind im Fels, das Rauschen der Bäume, zwei Schläge aus dem Turm, 2 Uhr früh.

Aus der Ferne wieder Gelächter, spitze Frauen­schreie aus den offe­nen Fen­stern der Burg, aus­ge­lassene Lebens­freude, eine Ambu­lanzsirene irgend­wo draußen im glitzern­den Rhein­tal, Hohen­ems noch hellwach, let­zte Kracher hallen wider vom Kirch­turm, der Föhn ist jet­zt zornig, bläst Ges­tank­fah­nen von Schwe­fel­diox­id und aller­lei Diox­ine den Berg hoch, wohl auch Kohlen­monox­id, aber das riecht ja kein­er. Der Hein­rich ist weg. Der Hein­rich ist ... Sein Schal hängt noch am Zaun, flat­tert im war­men Wind. Ich lege ihn mir um den Hals und beginne zu laufen, Rich­tung Burg. Hil­fe. Hil­fe! Lauf­schritt.
Außer Ästen und Strauch­w­erk schla­gen mir auch Ahnun­gen ins Gesicht, Vor­würfe und Ankla­gen – wie kon­ntest du nur, weißt doch wie labil er ist, vielle­icht gestoßen ... das Schwein, war ja kein­er dabei, Polizei! Genaue Unter­suchung, ein Stre­it? Ich? Gar nix, unschuldig!!, kann jed­er sagen, weil keine Zeu­gen, du lieber Gott, Ver­haf­tung, Prozeß, Mord, Totschlag, Affekt, Absicht, geplant, fahrläs­sig?, alles ist möglich, bis ich dann stolpere, ein­mal, zweimal, etwas ist aufge­blitzt im Stürzen, ein har­ter Gegen­stand trifft meine Kni­escheibe, dann liege ich bäuch­lings, flachgestreckt im braunen Laub. Hein­richs Schal ist mir übers Kinn gerutscht, unter die Nase, abge­s­tandene Zigar­il­low­elt: Hein­rich.
Wo bist du, ver­dammt!? Der Atem geht ruhiger jet­zt. Ganz nah vor meinem Auge ein Blät­ter­meer – Ahorn, Eschen, im fahlen Licht der Leuchtkugeln betra­chte ich die abgestor­be­nen Blät­ter wie kleine Gemälde, jedes einzeln, aufmerk­sam, die gelappten, die gesägten Rän­der, die Äderchen im schmutzi­gen Braun, der über­lange Stiel, den ich zwis­chen Dau­men und Zeigefin­ger um seine Achse rotieren lasse, ras­ant, ein­mal links ein­mal rechts, wäre es noch Som­mer, kön­nte man die Samen sprühen sehn. Und dann, einen Meter vor mir, halb verdeckt von einem Blatt, der gold blitzende Wider­schein ein­er zer­fal­l­en­den Rakete – ich greife nach dem Ding, halt es fest und mein Puls beruhigt sich. Hein­rich. Sein Feuerzeug. Die Logik der Ereignisse ist klar. Eine kräftige Böe trägt den endgülti­gen Beweis an mein Ohr, von der Burg her, zwis­chen aus­ge­lassen­em Stim­mengewirr und Gelächter, Hein­richs grölen­der Bari­ton, heis­er und hem­mungs­los. Ein­deutig ER. Ich lege mich auf den Rück­en, schiebe mit der Linken und der Recht­en ein Blät­terkissen unter den Hin­terkopf und schaue in den Him­mel. Der Hein­rich lebt. Die Toten wer­den wieder begraben wer­den. Priv­i­legiert und human.
Alles beim alten. Der Mond ist weg, das ist alles.