Lücken

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In der Kinder­serie Pan Tau 1 gibt es eine Folge, in der Men­schen ihre Mün­der ver­lieren. Sie fall­en ein­fach aus den Gesichtern, doch bevor sie auf dem Boden auf­schla­gen, öff­nen sich die Lip­pen, und die Mün­der fliegen davon wie Schmetter­linge.

Schon denke ich an Kind­heit und Wiese, Löwen­zahn, die Farbe Gelb, an das Ungewisse in dieser Szene, das Bedrohliche, an die ver­reg­neten Nach­mit­tage und an Palatschinken essen. Die hell­blaue Emaille-Bratp­fanne mein­er Groß­mut­ter aus den 1960er Jahren, ihr Leben lang hat sie nur diese eine Pfanne ver­wen­det, deren Innen­seite sich mit jed­er Mahlzeit mehr und mehr zerkratzte. Die Palatschinken sind immer ein klein wenig ange­bran­nt, aber nir­gend­wo habe ich jemals bessere gegessen. Zum Reini­gen hat sie Wass­er mit Ata aufgekocht, eine Zeit­lang dahinköcheln lassen und der Geruch nach Fet­tresten und Reini­gungsmit­tel hat sich in ihrer Küche ver­bre­it­et: Ich wollte nie, dass sie lüftet.

Heute glaube ich nicht mehr, dass die Mün­der in der Serie tat­säch­lich zu Schmetter­lin­gen wur­den, aber damals ist es mir so erschienen, und die Idee, dass sowohl das Nicht­ge­sagte, als auch das bere­its Gesagte ein­fach davon­fliegen kön­nten und dadurch an Bedeu­tung ver­lieren oder gewin­nen, vielle­icht später zurück­kehren, sich ver­wan­deln, mehrere Möglichkeit­en in sich vere­inen kön­nten, nicht nur das Eine oder das Andere sein, diese Idee hat begonnen, sich in mir auszubre­it­en.

Pan Tau war der Fre­und der Kinder, er kon­nte zaubern, sobald er seinen Mel­o­nen­hut drehte, verän­derte er seine Größe, passte etwa in die Jack­en­tasche eines Kindes, das ihn ger­ade brauchte, und blieb bei ihm als Helfer mit fre­undlichem Blick. Sprechen kon­nte er nicht, als Pan­tomime hat­te er andere Möglichkeit­en, sich mit den Kindern zu ver­ständi­gen.

Oma hat mich an der Hand genom­men, wenn wir zum Bäck­er gegan­gen sind, hat sie für sich ein kleines Haus­brot gekauft, für mich eine Mar­il­len­go­latsche, die ich meis­tens schon in der Bäck­erei aufgegessen habe, es waren die frühen 1980er Jahre. Die Kirch­tur­m­glock­en haben zu jed­er Vier­tel­stunde geläutet, die Nach­barn sind am frühen Abend auf den Holzbänken vor ihren Häusern gesessen, die Män­ner haben Bier getrunk­en und sich über die Garten­zäune hin­weg unter­hal­ten. Ihre Frauen haben daneben sitzend gestrickt und wenig gesprochen. Oma ist eben­so auf der Holzbank vor dem Haus gesessen. Sie hat auch Bier getrunk­en und sich in die Män­nerge­spräche eingemis­cht. Als Witwe war sie in den Struk­turen des Dor­fes den Män­nern gle­ich­berechtigt. Es wurde gelacht. Ein­mal hat sie eine Zigarette ger­aucht. Ich habe meine Fin­ger oft in ihren Hän­den gewärmt und manch­mal habe ich gedacht, vielle­icht ist sie ja in Wirk­lichkeit ein Bär.

In ihrer Küche habe ich Pan Tau geschaut und war irri­tiert von den fehlen­den Mün­dern, den Lück­en in den Gesichtern, unheim­lich haben die Men­schen aus­ge­se­hen, ich erin­nere mich noch an meine Aufre­gung, als ich Oma her­beigerufen habe, sie zu mir gekom­men ist, ich mich an ihrer Schürze fest­ge­hal­ten habe, sie nicht weit­er reagiert hat. Schau, die Mün­der fliegen, habe ich gerufen und ich weiß nicht mehr, ob es lachende Mün­der waren, schmale, bre­ite oder rot bemalte, vielle­icht waren sie in Aufruhr wie ein herum­schwirren­der Bienen­schwarm. Wer­den sie zu den Men­schen zurück­kehren, habe ich Oma gefragt, wieder hat sie nichts gesagt. Und ich habe sie ange­se­hen und mir vorgestellt, wie es wäre, wenn auch sie keinen Mund hätte und ich auch nicht und wir alle nicht und ob wir dann wie Gespen­ster wären, unvoll­ständig, als kön­nte mit dem Fort­fliegen des Mundes auch etwas Lebendi­ges aus uns ver­schwinden.

Das Leben im Dorf war nach klaren Vor­gaben geord­net, jedes Mit­glied hat­te seinen Platz in der Gemein­schaft, der unver­rück­bar schien. Wollte jemand die ihm zugewiesene Posi­tion verän­dern, war mit Wider­stand zu rech­nen. Die Geburt bes­timmte den Bil­dungsweg, für Freizeitun­ter­hal­tung war gesorgt: Bäuerin­nen waren in der Gold­hauben­gruppe, Kinder waren erst in der katholis­chen Jungschar, später in der Land­ju­gend, Burschen hat­ten die Möglichkeit der frei­willi­gen Feuer­wehr beizutreten oder dem Fußbal­lvere­in. Der Sportvere­in war offen für alle. Mäd­chen war es erlaubt zu min­istri­eren, aber nicht Fußball zu spie­len. Unternehmerisch Tätige grün­de­ten einen Ten­nis­club, dem Gewer­be­treibende und Angestellte beitreten durften, deren Frauen und deren Kinder. Den anderen blieb der Zugang zum Ten­nis ver­wehrt und das, zumin­d­est nach außen hin, unwider­sprochen. Diese grundle­gende Bere­itschaft, sich in ein beste­hen­des Gefüge einzuord­nen, wurde als gesun­der Men­schen­ver­stand beze­ich­net. Pan Tau, der zwar sprachlose, aber ver­ständi­gungs­bere­ite Held ein­er wie aus der Zeit gefal­l­enen Märch­en­erzäh­lung, schien sich nicht von diesem gesun­den Men­schen­ver­stand vere­in­nah­men zu lassen. Er fol­gte sein­er Neugi­er und das wollte ich auch.

Die Fasz­i­na­tion der ver­wan­del­ten Mün­der, die Verknüp­fun­gen, die sie in mir wachgerufen hat­ten, plöt­zlich kon­nte ich mir vorzustellen, dass all die Zitro­nen­fal­ter, Tagp­faue­nau­gen und Großen Ochse­nau­gen, die ich schon allein ihrer Namen wegen bewun­derte, im Garten so gern beobachtete und mit denen ich, sobald ein­er von ihnen zu sehen war, ein Stück die Wiese ent­lang lief, immer hin­ter­her, als wür­den wir Fan­gen spie­len, dass diese Schmetter­linge vielle­icht ein­mal Mün­der gewe­sen waren oder es eines Zaubers wegen gar noch immer waren und sie jed­erzeit zu sprechen begin­nen kon­nten, wenn, hier wusste ich nicht weit­er, aber den Ein­fall wollte ich keines­falls aufgeben, und ich begann darüber nachzu­denken, worüber Schmetter­linge als Mün­der sprechen kön­nten und was mein Mund als Schmetter­ling sagen würde.

Vielle­icht habe ich damals ange­fan­gen, das Schweigen zu bemerken. All die nicht gesagten Worte, die wie Lück­en zwis­chen den Men­schen zu klaf­fen schienen, auch zwis­chen Oma und mir. Sie hat­te die wär­mende Hand eines Bären, aber da war auch ihr Für-sich-Behaltenes, das Ver­schlossene, die Worte, die sie nicht her­vor­brachte, die den­noch in ihr waren und die, wie ich später hoffte, darauf warteten, endlich gesagt wer­den zu kön­nen. Für sie hätte es einen Mund gebraucht oder gar einen Schmetter­ling, der bere­it gewe­sen wäre, sich aufzufäch­ern, um dieses Wag­nis einzuge­hen.

Pan Tau hat seine Sprache gefun­den. Die herum­schwirren­den Mün­der sind zu ihm geflo­gen, er hat ihre Ein­drücke aufgenom­men und begonnen auszus­prechen. Seinen Mel­o­nen­hut und damit seine Zauberkraft hat er dafür aufgegeben, aber das störte ihn nicht. Er wollte lieber das Sprechen behal­ten. Mit einem Mund in Bewe­gung, bere­it zur Begeg­nung.

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