Immer noch schreiben wir

Von

Warum?

Ich glaube behaupten zu kön­nen, dass Hoff­nungslosigkeit beina­he immer auch Sprachlosigkeit bedeutet – wobei Sprachlosigkeit nicht nur stumm, son­dern genau so oft geschwätzig daherkom­men kann. Fast immer ist Sprachlosigkeit gle­ichzuset­zen mit Einzel­haft, in der aber nicht ein­mal der klir­rende Schlüs­sel­bund eines Gefäng­niswärters damit rech­nen lässt, irgend­je­mand kön­nte kom­men und zuhören.

Sprachlosigkeit ist ein Gefäng­nis mit wenig Aus­sicht auf Ent­las­sung, die meis­ten bleiben lebenslänglich darin einges­per­rt. Ich bin überzeugt, dass es brandge­fährlich ist zu unter­schätzen, wie gefährlich die Auswirkun­gen der Sprachlosigkeit in jed­er Hin­sicht sind, gesellschafts- und demokratiepoli­tisch vor allem, aber auch im Hin­blick auf vergeudete Möglichkeit­en. Natür­lich ist Sprachlosigkeit eine Her­aus­forderung für das Bil­dungssys­tem im all­ge­meinen, aber auch ganz beson­ders für die Lit­er­atur.

Lit­er­atur kann nichts.
Lit­er­atur kann alles.
Bei­des wird immer wieder behauptet. Bei­des lässt sich beweisen.

Ich glaube immer noch, dass Lit­er­atur eine Funk­tion hat, und dass diese Funk­tion mit Hoff­nung zu tun hat. Und zwar ger­ade weil die Lit­er­atur Schwächen hat, weil sie im Grunde gar nicht existiert: Denn solange sie nicht gele­sen wird, ist sie bloß beschriebenes, bedruck­tes Papi­er. Weil sie angewiesen ist auf den lesenden Men­schen, der sich auf den Text ein­lässt, der dem Klang der Sprache nach­horcht, der Wörter und Sätze füllt mit eige­nen Gedanken, mit Erin­nerun­gen an Gerüche, Empfind­un­gen, Erfahrun­gen. In diesem Erin­nern und Empfind­en entste­ht ein Raum, in dem sich viele ein­ge­laden fühlen dür­fen, in dem Hoff­nung möglich wird, in dem Scheit­ern nicht das Ende, son­dern vielle­icht einen neuen Anfang bedeuten kann. Darum ist es so wichtig, das weite Feld der Kun­st im All­ge­meinen und der Lit­er­atur im Beson­deren für möglichst viele zugänglich zu machen. Während die Kon­sumge­sellschaft immer neue Sch­ablo­nen und Zwänge erzeugt, denen Men­schen genü­gen soll­ten, bietet die Lit­er­atur Freiräume an, sie feiert ger­adezu die Ver­schieden­heit, Stärken und Schwächen mit gle­ich­er Zuwen­dung in ihren Men­schen­bildern und bietet dadurch immer wieder neue Möglichkeit­en, vielle­icht doch den Blick in den Spiegel zu wagen.

Vor kurzem hörte ich in der U-Bahn einen Jugendlichen sagen: „Die haben sich doch schon aus­gerech­net, wen ich gewählt hab, bevor ich noch wählen war. Also wozu wählen? Ohne mich.“
Ohne mich? Mit wem dann? Wie will er aus­brechen aus der Berechen­barkeit? „Ist doch sowieso alles egal.“

In Schreib­w­erk­stät­ten ver­suche ich das Wort „egal“ zu ver­bi­eten, nicht immer mit Erfolg. Es deutet ja so erschreck­end oft darauf hin, dass eine oder ein­er sich selb­st aufgegeben hat. Manch­mal greift ein­er mich direkt an. „Zuerst tust du fre­undlich, und dann ver­bi­etest du ein ganz nor­males Wort, ist ja nicht ein­mal ordinär, oder was?“ Daraus kann ein Gespräch entste­hen, das Sinn hat.
Kann Hoff­nung auch schützen gegen die Angst aller Äng­ste, die Angst vor dem endgülti­gen Tod, vor dem Nichts? Immer wieder kommt mir Heines Fluch in den Sinn, „Nicht gedacht soll sein­er wer­den!“

In unserem Dorf stellte mich eine Bäuerin zur Rede, die gewiss seit ihrer Schulzeit in den frühen Dreißiger­jahren des vorigen Jahrhun­derts außer dem Gesang­buch kein Buch in der Hand gehabt hat­te. Sie zeigte auf das Nach­barhaus. „Über die haben Sie ein Buch geschrieben, und ich muss mir sel­ber einen teuren Grab­stein kaufen! Das ist nicht gerecht!“ Zunächst war ich nur sehr ange­tan von der Vorstel­lung, ein Buch kön­nte so viel wert sein wie ein anständi­ger Grab­stein aus Gran­it mit gold­en­er Inschrift. Inzwis­chen glaube ich zu ahnen, welch­es Geschenk mir die alte Frau mit ihrer Beschw­erde gemacht hat.

In irgen­dein­er Form einen neuen Ein­trag zu schaf­fen in das unge­heure „Buch des Lebendi­gen“ –vielle­icht ist es das, was die Lit­er­atur immer wieder ver­sucht, immer wieder neu ver­suchen muss, weil nichts so bleiben kann, wie es ist, ohne ständig neu erschaf­fen zu wer­den.

Lesend und schreibend kön­nen eigene Möglichkeit­en und Gren­zen eben­so aus­gelotet wer­den wie die des ganz und gar Anderen, was wiederum einen klar­eren Blick auf das Eigene erlaubt. Es geht in den Schreib­w­erk­stät­ten darum, einen Raum zu schaf­fen, in dem es möglich ist, aufeinan­der zuzuge­hen. Der Bleis­tift in der Hand hat dabei die Funk­tion eines Wan­der­stabs, auf den man sich auch stützen darf, wenn man Gefahr läuft, allzu gefährlich­es Gelände zu betreten.

Manch­es, worüber man nicht sprechen kann, kann man schreiben, jeden­falls in einem geschützten Raum, und wenn man darauf ver­trauen darf, dass Men­schen zuhören. Es geht auch darum, eigene Erfahrun­gen in Besitz zu nehmen, die bis dahin nur Last im Nack­en waren.

Hoff­nung ken­nt kein Weil. Hoff­nung lebt vom Trotz­dem.

Ich liebe das Wort „trotz­dem“, manch­mal scheint es mir, dass es ein wenig müde wird, dass es pfleglich behan­delt wer­den muss. Dann hole ich den abge­grif­f­e­nen Zettel aus der Schreibtis­chlade, auf dem in sehr kreativ­er Orthogra­phie ste­ht: Liebe Frau Welsh, ich habe nicht gewusst, dass es Spaß macht, über etwas nachzu­denken. Ich werde dieses jet­zt öfters tun.