Jemand, nämlich ich, lebe seit einiger Zeit mit dem anderen in mir in Disharmonie. Ich kann mit ihm nicht mehr reden, er wird immer unzugänglicher. Früher war er sehr interessiert an allem Geschehen, vor allem was Politik, Wirtschaft und Gesellschaftliches angeht und ich habe gerne mit ihm diskutiert; da konnte er lebhaft werden, insbesondere, was seine Meinungen zur allgemeinen Weltlage, zum Klimawandel und zu gesellschaftlichen Entwicklungen angeht. Seine Veränderung ging schleichend vor sich, so dass ich es kaum bemerkte oder auch nur nicht wahrhaben wollte. Genauso unmerklich hat es sich zu einer bedenklichen Gleichgültigkeit gesteigert. Und die ist allumfassend, sie erstreckt sich auf alle Bereiche meines Lebens, aber nicht nur darauf. ‚Na und?!‘ ist seine Reaktion auf alle Meldungen und Vorfälle, die aus den Medien oder von sonst woher an mich herankommen. Ein Unglück hier, eine Katastrophe andernorts; Konflikte und sogar Kriege – ‚Na und?!‘ sagt er energisch trotz seiner und macht dicht.
Mittlerweile hat sich eine zweite Variante etabliert, mit der er nahezu alles sofort zu einem Ende bringt. Es ist die selbst gestellte Suggestivfrage: ‚Was geht mich das an?‘ oder als Untervariante: ‚Was hat das mit mir, was hat das bitte meinem persönlichen Leben zu tun?‘ Die Antwort, die er gleich für mich mit gibt, ist stets die gleiche: ‚Nichts!‘ Da jedoch bei ‚Nichts‘ manchmal noch ein Funken Interesse klimmen kann, tritt er diesen mit dem Stiefel des ‚Gar nichts‘ aus.
Selbstverständlich versuche ich bei jedem dieser nihilistischen Einstellungen dagegen zu halten. Entweder mit schlagkräftigen Argumenten oder Appelle an sein Gewissen und Verantwortung. Hin und wieder gelingt es mir immerhin, ihn zu einem bestimmten Thema zu einer Zwiesprache verleiten. Erst kürzlich drang ich wieder mal bei ihm durch. Das hörte sich dann so an:
„Sag mal, wie stehst du zu dem Konflikt im Nahen Osten?“
„Das geht mich nichts mehr an, ich will davon nichts wissen.“
„Na hör’ mal, das ist doch ein wichtiges Thema“, erwiderte ich. Daraufhin fuhr er mich an: „Wie oft soll ich das noch sagen. Ich will über nichts mehr informiert sein, auf das ich keinen Einfluss habe. Schluss mit diesen ständigen Informationen und diesem nichtsnutzigen Gequatsche.“
Dieser mit Verve vorgetragenen Erklärung setzte ich entgegen:
„Aber man doch informiert und up to date sein muss.“
Die Antwort kam postwendend: „Wer sagt das. Wieso muss man informiert sein?!“
„Na, weil das eben wichtig ist. Man muss doch Bescheid wissen.“
„Wieso muss man Bescheid wissen?“
Diese letzte Bemerkung hatte etwas Entwaffnendes an sich, so dass bei mir jegliche Widerrede erlosch. Trotzdem will und kann ich nicht mit ihm brechen, denn keiner steht mir näher als er. Schließlich leben und wohnen wir von Anbeginn zusammen. Dieser andere hat seit jeher mein Schicksal geteilt und er kennt meine Gedanken.
Eine ansehnliche Erbschaft hat es mir erlaubt, vor zwei Jahren meine Stelle bei einer Versicherung aufgegeben. Was mir allerdings nicht schwer fiel, da die Arbeit dort nicht befriedigend war, was im Übrigen auch auf die vorherigen Tätigkeiten bei anderen Firmen zutrifft. ‚Ich bin einfach für Arbeit nicht geschaffen‘, bekräftige ich mir und jener andere nimmt das hin. Außerdem gingen mir überall die Kollegen mit ihrem oberflächlichen Gerede und Getratsche auf die Nerven.
Ich verlasse die Wohnung nur noch, wenn es unbedingt sein muss. Da wir beide sehr bescheiden leben und fast immer die gleichen Lebensmittel in der gleichen Menge kaufen, ist das nicht oft. Besuche bei Ärzten schränken wir auf das Unerlässliche ein; Termine beim Frisör nehmen wir er im Zehn-Wochen-Turnus wahr. Unverzichtbar ist für uns der regelmäßige Besuch der nahen gelegenen Buchhandlung, zu der ich mit dem Rad fahre. Es versteht sich von selbst, dass ich kein Auto habe.
Um die selbstauferlegte Abschottung von der Welt auch konsequent durchhalten zu können, besitze ich keinen Fernseher und kein Smartphone. Ich habe lediglich ein Uralthandy aus dem Jahr 1999 – für eventuelle Notfälle (welcher das sein sollen, weiß ich allerdings selbst nicht). Wegen meiner regelmäßigen Gespräche mit seiner hochbetagten Mutter habe ich mein Festnetztelefon behalten: ich habe ihr eingebläut, keinesfalls Tagesaktualitäten oder irgendwelche Probleme der Welt anzusprechen; auch zu Krankheiten und Tratsch über Verwandte will ich nichts wissen.
Sich von seinem Radio zu trennen, kann ich mich nicht durchringen; ich habe mir aber auferlegt, ausschließlich klassische Musik zu hören. Da ich weiß, zu welchen vollen Stunden auf dem eingestellten Sender Nachrichten gebracht werden, schalte ich das Gerät vorher ab. Es versteht sich von selbst, dass ich keine Zeitungen oder sonstige, Aktualitäten ausbreitende Magazine zur Hand nehme. Eine spezielle tägliche Herausforderung ist mein PC, den ich für Abfassung seiner Geschichten und Gedichte brauche. Meinen Emailverkehr halte er sehr restriktiv; überhaupt gebe ich meine Anschrift nur ausgewählten Personen bekannt. Ein Ad-Blocker schützt mich weitgehend davor, mit Werbung und ähnlichem Schrott behelligt zu werden. Selbstverständlich vermeide ich es, auf Portale zu gehen, die mir unliebsamen Kontakt zu der Welt um ihn herum vermitteln könnten.
Drei meiner Zimmer, das Schlafzimmer, die Küche und das Arbeitszimmer gehen zu einem geschlossenen Hinterhof hinaus; aus dem Wohnzimmer geht der Blick über die hohen Bäume eines kleinen Parks. Die Wohnung ist ideal geeignet für einen, der nicht viel mitbekommen will. Da der Hinterhof über keinen Spielplatz oder eine geeignete Fläche verfügt, auf der man sich zu irgendwelchen Störungen verursachenden Geselligkeiten treffen kann, ist er sehr ruhig. Hin und wieder dringen Laute oder Musik aus einem der Fenster; doch das empfinde ich als verzeihliche Lebensäußerungen meiner Nächsten, gegen die ich abstrakt gesehen nichts habe; gleiches gilt für das alle zwei Wochen zu ihm heraufdringende Geräusch der Mülltonnen, die der Hausmeister durch die Hoffeinfahrt zur Straße auf der Vorderseite rollt (und wieder zurück).
Ungeachtet dessen haben wir beide nur geringes Interesse an den Bewohnern in den Wohnungen des Häusercarrés; so können wir bis heute nicht sagen, wer in den Wohnungen auf der gegenüberliegenden Seite wohnt. Wir schätzen gleichermaßen die Anonymität als auch das Gefühl der Nähe mit anderen unbekannten Bewohnern, die in die Abgeschlossenheit des Hofes eingebettet sind. Man kann sagen, dass unser äußerer Horizont auf die Größe eines Hinterhofes zusammengeschrumpft ist.
Trotz aller Zurückgezogenheit und Weltabkehr braucht der Mensch ein Mindestmaß an sozialen Kontakten. Zu diesem Zweck habe ich einen Bekannten, den ich schon seit den Schulzeiten kenne. Einmal im Monat treffe ich mich mit ihm in dem kleinen Café am Eck, das tapfer der um sich greifenden Modernisierungssucht widersteht, zu mindestens noch. Kürzlich verabredeten wir uns wieder einmal. Ich schärfte ihm vorher am Telefon ein, möglichst keine Dinge anzusprechen, die sich fernab abspielen.
Nach unserer wie immer herzlichen Begrüßung verschonte er mich daher mit der sonst üblichen Frage, was es Neues gibt. Allerdings ließ es sich nicht vermeiden, dass er mich fragte, was ich denn so den ganzen Tag mache. Ich spürte, dass ich dieser Frage nicht ausweichen kann und sagte unverstellter Weise:
„Ich beobachte meine Fische, da habe ich jede Menge Abwechslung.“
Mein Bekannter erwiderte mit schlecht verhohlener Ironie:
„Und das machst du den ganzen Tag?“
„Nein, auch in meinem Hof geht einiges vor, mehr als du vielleicht denkst“, entgegnete ich.
„Ach, was denn so?“ wollte er mit gespielter Neugier wissen.
Na gut, sagte ich mir, wem, wenn nicht ihm, kann ich das preisgeben:
„Es gibt nahezu keinen Tag, an dem alles gleich wäre. Das geht schon mit den Fenstern los: In immer unterschiedlichen Varianten sind diese ganz oder halbseitig geöffnet, gekippt oder geschlossen. Manches Mal sieht man für Sekunden Köpfe oder Schatten. Auch die Balkone – so klein sie auch sind –, bieten unterschiedliche Anblicke: Mal da, mal dort hängen Putzlappen auf den Geländern oder Wäsche wird aufgehängt auf Ständern; da mache ich mir zum Ziel, den Augenblick nicht zu versäumen, wenn die Bewohnerin herauskommt und die Wäsche wieder abnimmt. (Was ich allerding für mich behalte, ist, dass ich dabei hin und wieder einer der Frauen zuwinke oder deren Winken nicht unbeantwortet lasse.) Und dann erst das Spiel der Sonne auf den Fassaden der drei Seiten, auf die ich blicken kann; es ist keinen Tag gleich. Es ist wunderbar zu beobachten, wie sich die sonnenhellen Flächen nach unten vorarbeiten und die Schatten zurückdrängen. Auch die Nächte bieten Erstaunliches. So lassen sich daran, wann welche Fenster erleuchtet sind, Rückschlüsse auf die Lebensgewohnheiten der Bewohner ziehen, ohne diese kennenlernen zu müssen.“
„Und das ist alles, womit du dich beschäftigst?“ reagierte mein Bekannter beinahe belustigend.
„Das ist noch nicht alles, denn ich habe ja auch noch ein Zimmer auf der anderen Seite. Hier bietet mir die Bewegung der Bäume ein sich ständig veränderndes Schauspiel. Und dann erst die Vögel, man glaubt ja nicht, was sich da alles in den Wipfeln tut.“
„Alles schön und gut, aber wird es dir auf Dauer nicht recht langweilig“, entfuhr es meinem Gegenüber.
Daraufhin entgegnete ich: „Dazu kommt es nicht, denn ich verreise auch viel.“
„Wie das denn?“ ließ er verdutzt verlauten.
„Je nach Laune bin ich unterwegs zu den Schauplätzen der alten Klassiker – von Weimar über Verona, Venedig und Rom bis nach Syrakus; dass hängt ganz davon ab, welches Buch ich in die Hand nehme.“
Mein Bekannter sah mich staunend an:
„Jetzt mal ehrlich, genügt dir denn dieses eintönige Leben?“
Da verfinsterte sich mein Blick und ich schleuderte heraus:
„Weißt du was, das geht dich einen feuchten Dreck an.“
Nach diesem Ausbruch war unsere Begegnung schnell beendet. Ich blieb alleine zurück und wandte mich jenem anderen zu: ‚Na und nun?‘