Kleine Welt

Von

(Aus einem entste­hen­den Roman)

Mor­gens Nebel und der Geruch nach ver­bran­ntem Holz. Xaver warf sich die Arbeit­s­jacke über. Knall­rot, mit einem schrä­gen Streifen in blitzen­dem Gelb, auf dem Rück­en der sil­berne Schriftzug: Pis­ten­ret­tung. Das Auto ver­röchelte etliche Male; lass mich nicht hän­gen, flüsterte Xaver und tätschelte, als der Opel Kadett endlich startete, zufrieden das Arma­turen­brett. Er wählte die Höhen­straße. Hin­ter einem der Gipfel eine riesige Wolke, ein zorniges Grau, von dem sich die Lift­säulen abhoben und die schweben­den Gondeln, und wie ver­wun­der­lich, in jed­er dieser Winzigkeit­en hock­ten max­i­mal acht Win­ter­sportler. Am Fel­drand leuchtete das Innere aufge­hack­ter Erlen saftig orange. Schot­ter erset­zte den Asphalt und führte, von Ficht­en begren­zt, bis zur Alm. Als Kind hat­te er sich gewun­dert, wie anders solche Höfe im Ver­gle­ich zum eige­nen Zuhause waren, wo ein jed­er Ablauf, eine jede Tätigkeit die Urlauber mitbe­dachte und mit diesen auch ein Bewusst­sein für die Welt außer­halb des Tales ein­trat. Die ein­stige Pen­sion Ursin, nach der Fam­i­lie benan­nt und bewor­ben mit gemütlichem Ambi­ente, son­niger Lage, unterm Dach die eigene Woh­nung. Im zweit­en und ersten Stock je ein­mal Bad und Toi­lette sowie drei Frem­den­z­im­mer. Im Erdgeschoss Speisekam­mer und die Stube, die für Früh­stück und allabendlichen Umtrunk ver­wen­det wurde; im Keller die Werk­statt, in der Groß­vater Kon­rad nach dem Pen­sion­santritt noch kleinere Möbel­stücke fer­tigte. Sam­stags war Wech­sel, die vorigen Gäste ver­ab­schiede­ten sich, frische trafen ein, dieser Rhyth­mus dik­tierte Xavers Aufwach­sen. Ein hol­ländis­ches Paar wusste um seine Vor­liebe für Dinosauri­er und brachte bei seinem zweit­en Urlaub eine T-Rex-Fig­ur mit. Der Deutsche, dem er begeis­tert vom Mus­ketier­film erzählt hat­te, schick­te ein Zor­ro-Faschingskostüm. Von Anna, sein­er Mut­ter, wurde er für seine Leb­haftigkeit gerügt. Wie ungerecht es war, er hat­te leise zu sein, durfte unter keinen Umstän­den lästig wer­den, die Frem­den aber kon­nten tun, was sie woll­ten. Diese vorau­seilende Sorge, ja Ergeben­heit, wurde beson­ders bei den Stam­mgästen deut­lich. Der Zah­narzt aus Frank­furt etwa, dessen Ehe­frau einen wald­grü­nen Tra­cht­en­janker und um den Hals ein wein­rotes Sei­den­tuch trug. Stand eine solche Ankun­ft bevor, saugte Anna das Stiegen­haus, scheuerte die Bade­wanne und putzte alle Fen­ster, um die per­fek­te Aus­sicht zu garantieren, die Handtüch­er wusch sie bei 60 Grad. Reis­ten sie nicht im eige­nen Auto, erwartete Xavers Vater Vinz die Gäste an der Bussta­tion hin­ter der Kirche, um sie das finale Stück zu chauffieren. Kon­rad stieg aus der Werk­statt hoch und platzierte die Zither auf der Anrichte. Die Stim­mung war so ges­pan­nt wie zu Wei­h­nacht­en, bloß kam anstelle des Christkinds das Ehep­aar Wut­tke aus Ham­burg. Als Willkom­mensessen wur­den Forellen aus der Kühltruhe geholt und von Anna in But­ter gebrat­en. Schurz umge­bun­den, Pfanne in der Hand, trat sie in die Stube. Ihr müsst mit der Messer­spitze die Wan­gen raus­holen, sagte sie, es ist das beste, zarteste Fleisch, ein Gedicht. Kon­rad ver­sprach, zum Dessert die Sait­en zu zupfen, und nach­dem Anna die Teller mit den Fis­chgräten abserviert hat­te, war Vinz an der Rei­he; der Herr des Haus­es, verkün­dete er, Schnaps­flasche und Stam­perl­gläs­er auf einem sil­ber­nen Tablett bal­ancierend. Er stammte aus ein­er nieder­bayrischen Kle­in­stadt, und bei manchen sorgte seine Herkun­ft für Irri­ta­tion, schmälerte näm­lich das Vergnü­gen, in einem gen­uin Tirol­er Haushalt zu urlauben. Wenn Vinz jedoch beim Spiel der Zither erzählte, als Kell­ner ein unstetes Leben geführt zu haben, ehe er sich in die Tochter dieses musikalis­chen Tis­chlers ver­liebte, dann kon­nte er die Sym­pa­thien leicht gewin­nen.

Vor der Alm stand Peter, in Gum­mistiefeln und blauem Man­tel. Wirst nicht glauben, was ich erfahren hab, sagte er und deutete auf das Dach des Nebenge­bäudes. Eter­nit, haben doch alle ver­wen­det. Aber jet­zt heißt’s, es ist Asbest drin und muss entsorgt wer­den, ohne dass es staubt. Wie soll das klap­pen, wer soll das zahlen, fragte er mit fin­sterem Blick auf die moosi­gen Schin­deln.
Muss sein, du willst doch nicht mit Gift leben.
Aus dem Hand­schuh­fach kramte Xaver das Mess­er, eine zwanzig Zen­time­ter lange, hauchdünn geschlif­f­ene Klinge.
Als ob ich je krank bin, erwiderte Peter, vierund­sechzig werde ich, aber nix fehlt mir, nix.
Neben dem Keller­fen­ster baumelte an einem vio­let­ten Krepp­band der Unterkiefer eines Hirschen, ein Knochenkamm mit schwarz gemaserten Zähnen. Hab ich im Wald gefun­den, sagte Peter und gab dem Kiefer einen Stoß. Er kicherte, sagte: Kein Dreieck, trotz­dem.
Ein­mal war Xaver mit ein­er Fre­undin hier gewe­sen. Fasziniert vom Aus­blick auf den höch­sten Berg hat­te sie, die Touristin aus Dort­mund, Peter gebeten, an den fol­gen­den Tagen ihre Staffelei auf­stellen zu dürfen. Die Luft war ungewöhnlich klar, mit freiem Auge waren Geröllhalden und Fel­sza­ck­en zu erken­nen. Schließlich zeigte die Lein­wand ein Dreieck. Schwarze, fette Striche, mit dem Lin­eal gezo­gen. Xaver fand es beein­druck­end. Nicht, weil er ver­liebt war (das war er), son­dern weil es eine Bedeu­tung darstellte, die über das Sym­bol eines Berges hin­aus­ging. Das Kunst­werk bewies die durch­schla­gende Kraft der ein­fach­sten Geste; fest­ge­hal­tene innere Wahrheit, auf die allernötig­ste Form reduziert, rät­sel­haft wie eine chi­ne­sis­che Kalligrafie (rück­blick­end musste er zugeben, wirk­lich sehr ver­liebt gewe­sen zu sein). Tage­lang malen und aus dem Berg hat sie nichts als ein Dreieck raus­ge­holt, sin­nierte Peter, ich hoff, ihre Bilder verkaufen sich wenig­stens.

Das Mess­er legte Xaver auf die Mauer des Mis­thaufens. Er schob den Riegel der Stalltür zur Seite, die Glock­en der Ziegen klan­gen schreck­haft auf. Geruch nach frischen Spä­nen, im tier­war­men Dunkel schim­merte der Boden; Peter hat­te ger­ade aus­gemis­tet. Ein Schwall eigen­tüm­lich dicht­en Ges­tanks wallte ihnen ent­ge­gen. Er glaubte über den Bret­tern eines Ver­schlags ein tief­eres Schwarz zu erken­nen, eine Gestalt mit lan­gen, geschwun­genen Hörn­ern. Der Grund der Aus­dün­stun­gen. Peter drück­te den Schal­ter und an der spin­nwe­b­ver­hangenen Stalldecke leuchtete die nack­te Glüh­birne auf. Am Rand des Lichtkegels das graue Tier. Hal­lo Lex, grüßte Xaver und kraulte den Hals des Bocks. Der schüt­telte gen­ervt den Kopf, die Hörn­er­schat­ten flack­erten über die Wände. Ein freilaufend­es Kitz sprang ihn an, ver­spielt bäumte es sich auf. Er nahm es hoch, stre­ichelte das weiß gemusterte, braune Fell.
Das Kleine, ja, warum nicht, sagte Peter und pack­te eine Ziege am Horn, schüt­telte ihr den Schädel. Na, rief er, na, bist ruhig. Die hier sei eines Tages abge­hauen. Nach über einem Jahr habe er sie wieder aufge­spürt, ver­wildert wie eine Gams wäre sie gewe­sen. Ehe er die Ziege freiließ, sagte er ihr mit offen­sichtlichem Stolz: Du Sauviech. Er deutete auf eine andere, groß und unbe­hornt und mit weißem Fell, angeket­tet an der Wand: Die trägt nicht, es gibt keinen Nach­wuchs. Aus sein­er Man­teltasche holte er zerknüllte Scheine. Sechzig, wie aus­gemacht. Xaver zögerte: Ist nicht dein Cousin Mechaniker? Mein Opel spin­nt, weißt. Peter steck­te das Geld wieder ein, nick­te. Du schaust dann auf einen Kaf­fee zu mir, ja?
An der Tür drehte er sich nochmals um und hielt Xaver einen Zwanziger hin: Für die Umstände nimmst zumin­d­est den hier, sagte er.

Xaver lief zum Auto, fand auf der Rück­bank das Stahlrohr mit der Beschrif­tung Blitzer. Das Kitz hielt er während­dessen im Arm. Zurück beim Mis­thaufen stellte er es zu Boden, set­zte ihm den Appa­rat mit­tig auf die Stirn. Er drück­te ab, mit einem Plop­pen schoss der Bolzen raus. Ein Zuck­en wie von einem Strom­schlag, die junge Geiß gab einen kla­gen­den Laut von sich, der schnell erstarb. Es roch met­allisch, nach Kordit. Xaver tauschte den Blitzer gegen das Mess­er. Ein Stich in die Kehle, die Schnei­de nach vorn gerichtet, eine rasche Bewe­gung, vom Blut blieben dun­kle Spritzer auf der Mauer. Er presste das Tier nieder, wartete, bis das Zit­tern aus den Ner­ven war. Im Aus­geis­tern schar­rten die Hin­ter­beine und der Kopf ver­suchte, sich nach oben zu reck­en; aus der klaf­fend­en Wunde tropfte es in den Mist.
Im Stall band er der großen, weißen Ziege das Glöckchen ab. Die erste ließ sich immer leicht führen, die zweite aber ver­stand. Sie stemmte sich dage­gen, plär­rte, die Zunge gestreckt. Er zer­rte sie an der Hals­kette zum toten Kitz, das in ein­er schwarzen Pfütze lag. Die schreiende Geiß zwis­chen den Knien fluchte er, denn er hat­te vergessen, neu zu laden. Er riss die Kette zurück und das Meck­ern wurde tiefer, mit der anderen Hand fin­gerte er in der Tasche nach ein­er Patrone. Nicht die mit dem gel­ben Punkt, wie für das Kleine, keine rote, die er noch nie ver­wen­det hat­te, denn damit kon­nte man einen hun­derte Kilo schw­eren Sti­er erlegen, er brauchte eine mit grün­er Markierung.
Gel­ernt hat­te er es von Anna. Sie wiederum war von Kon­rad unter­richtet wor­den. Fehlten die Gäste, ver­di­ente man mit dem Schlacht­en das Nötig­ste. Manch­mal hat­te sich eine Ziege oder ein Schaf zu sehr gewehrt und den Kopf freibekom­men, sodass der Bolzen nur die Wange erwis­chte. Xaver auf dem ver­let­zten Tier, daneben Anna, die nervös den zweit­en Schuss vor­bere­it­ete; er hat­te es gehas­st, das eingetrock­nete Blut unter den Fin­gernägeln, der Geruch, der sich noch am fol­gen­den Tag nicht abwaschen ließ.
Er wuchtete sich die Ziege auf die Schul­tern. Je käl­ter ein geschossenes Tier, umso mehr wog es. Als wäre das die let­zte Strate­gie, eine klägliche Art von Weit­er­leben: sich als finalen Wider­stand so schw­er wie möglich zu machen. Unter leisem Schimpfen trug er sie zum Nebenge­bäude. Wenn du erwach­sen bist, möchte ich von den Toten wiederkehren, hat­te Kon­rad gern gesagt, nur für ein paar Minuten, um zu sehen, was aus dir gewor­den ist. Er würde sich wun­dern, dachte Xaver.
Von seinen Schul­tern glitt die Ziege in den Schnee. Mit der Messer­spitze ritzte er ihre Hin­ter­beine bis zu den Hufen auf, zog die Haut von den blassen Sehnen. Er öffnete die Met­alltür. Die Fernbe­di­enung an der Wand gedrückt und von der Deck­en­winde rat­terte ein dop­pel­ter Hak­en. Er schleifte die Ziege über die Schwelle, steck­te je eine Hak­en­spitze durch die Waden­knochen. Ras­sel­nd fuhr die Kette wieder rauf. Mit geblähtem Bauch hing das Tier in der Luft. Xaver schnitt ihm die gel­ben Ken­n­marken aus den Ohren. Darin einges­tanzt die Num­mer, unter der es bei der Behörde erfasst war. Die Marke ver­schwand im Müll. Laut EU-Verord­nung durfte eine für den Verkauf bes­timmte Schlach­tung nicht am eige­nen Hof stat­tfind­en, son­dern musste dem örtlichen Tier­arzt gemeldet und in einem reg­istri­erten Betrieb nahe der Lan­deshaupt­stadt erledigt wer­den. Die Bauern nah­men keinen Ein­fluss mehr auf die Bedin­gun­gen, zu denen das eigene Vieh starb. Ihr Unwillen gegen diese Bevor­mundung erk­lärte den Bedarf an Xaver und dem Schus­s­ap­pa­rat. Deshalb bot er seine Dien­ste an. Nicht wegen der zusät­zlichen Ein­nah­me­quelle. Son­dern weil er gebraucht wurde, und nicht nur das, er wurde dafür geschätzt. Unge­set­zlich und ver­schwiegen, exakt mit dem Blitzer und flink mit dem Mess­er, so sah er sich, auch wenn er um den viel prag­ma­tis­cheren, eigentlichen Grund wusste: Er war ein­er der let­zten, die es noch beherrscht­en. Die alten Met­zger waren senil oder längst ver­stor­ben und von den Jün­geren inter­essierte es nie­man­den, das Schlacht­en schien eine fast vergessene, obso­let gewor­dene Pro­fes­sion wie Bäck­er oder Schin­del­mach­er.
Der Schädel fiel in den Eimer. Dann der Euter. Mit der Linken zer­rte Xaver an der Haut. Die Rechte zwängte er zwis­chen Fell und Gewebe, eine leichte Wärme war zu spüren, er schob mit der Schul­ter nach, es klang, als ob Papi­er zer­reißt, bald war der Kör­p­er freigeschält. Ein Stich knapp am Brust­bein, ein Schnitt, Blut und Scheiße und Magen­flüs­sigkeit quollen mit den Där­men raus, ein Klatschen, aufwal­len­der Ges­tank, ein Plätsch­ern, es stimmte, dass diese Ziege nie ein Kitz hat­te, milchige Fettschlieren bedeck­ten ihr Inneres, eine Mut­ter wäre viel abgezehrter. Vor­sichtig löste er die Gal­len­blase, ging einen Schritt zurück. Wartete. Lange schon machte er diese Arbeit, doch der ent­blößte Leib set­zte ihm zu. Das fahlrote Herz, die bläulichen Lun­gen, die braun schim­mernde Leber und unter­halb der Rip­pen die dunkelvi­o­let­ten Nieren. Er wusste, es war naiv, darüber nachzu­denken. Aber wie schnell es ging und wie ein­fach, und wie selt­sam, dass er dafür ver­ant­wortlich war.
Wind fegte körni­gen Schnee in die Kam­mer. Das hohle Knack­en aneinan­der schla­gen­der Äste, Böen jagten durch den nahen Wald. Zumin­d­est garantierte das schlechte Wet­ter Tar­nung. Manch­mal kreuzten Wan­der­er auf, Touris­ten, die fotografierten oder filmten, weil sie glaubten, etwas Ursprünglich­es oder Anek­doten­haftes ent­deckt zu haben. Alles bere­its passiert. Was Xaver daran störte, war nicht, dass ein unge­set­zlich­er Akt fest­ge­hal­ten wurde, son­dern dass er sich in ander­er Weise ertappt fühlte, oder ent­tarnt, als wäre er tat­säch­lich ein Mörder, was die Dort­munder Malerin ihm vor­warf zu sein, nach­dem er ihr von dieser Ver­di­en­stquelle erzählt hat­te.
Als auch das Kitz aufgear­beit­et war, spritzte er den Raum mit einem Schlauch ab; rötlich­es Wass­er sick­erte kreisend durch den Abfluss. Die bei­den Kadav­er hin­gen nebeneinan­der; die dünnhäutige Fettschicht ver­lieh ihrem Fleisch im ein­fal­l­en­den Licht eine vio­lette Fär­bung; die Gelenkknochen und Hal­swirbel schim­merten wie Perl­mutt. Er säu­berte Mess­er und Blitzer, schloss die Tür. Tastete hin­ter dem Trog nach der Bürste, schrubbte, bis unter den Fin­gernägeln kein schwarz­er Rand mehr war. Das Schar­ren der Ziegen drang durch die Stall­wand, die gele­gentlichen Stöße, wenn zwei aneinan­der geri­eten, das Klin­geln ihrer Glock­en.