Journalgedichte

Von

Let­zte Junitage
Brin­disi, Via Appia

Die Köni­gin der Straßen ste­ht nur noch
Auf einem Bein, zerzaust vom Wind
Schaut die Säule aufs Meer. Vergil kam
Aus Griechen­land zurück, um hier zu
Ster­ben. Brun­da, Brun­di­s­i­um, Brin­disi
Einst warst du der Unter­gang von Taras
Tar­ent, auf dessen verkommen­er Insel
Heute Gram­scis Enkel Ciao bel­la statt
Bel­la ciao sin­gen. Zahn­lose Män­ner
Ver­renken den Arm zum römis­chen
Gruß. In den Fen­stern hal­ten Ziegel das
Haus. Aus den Mauern wach­sen Kapern
Blüten zum Armen­strauß. Kinder kauen
Kau­gum­mi, kick­en im Trikot alter Idole
Die Großväter träumten vom Auf­stieg
Vom Leben in der Metro­pole, von
Erkratzten Gewin­nen, vom Obe­nauf
Schwim­men. Die Müt­ter gehen längst
Nicht mehr zum Hafen, leg­en sich wie
Die Köni­gin der Straßen lieber schlafen.

 

Im Sep­tem­ber
Raven­na, Emil­ia Romagna

Hier starb ein­er, der sich zuvor in den Him­mel
Geschrieben hat­te. Jahre­lang ver­steck­ten die
Franziskan­er seine Gebeine, weil die Flo­ren­tin­er
Darauf Anspruch erhoben. Erst hat­ten sie den
Guelfen aus der Stadt ver­ban­nt, dann woll­ten sie
Seine Knochen. Ich frage mich, in welchem
Höl­lenkreis ich gelandet wäre, zu Dantes Zeit,
Und jet­zt? Kenn ich nicht auch Francescas Lei­den,
Wenn einen im Schweigen Liebeszeilen ereilen.
Elend, wie ich mich an Schön­stes erin­nere, das
Nie wiederkehrt, wie ich noch immer dem Herb­st
Das Som­merkleid glaube, den auf­platzen­den
Nußschalen die schwarzen Sterne, und noch
Elen­der, daß ich die Hoff­nun­gen samm­le und
Heim­lich ver­stecke, daß ich sie küsse, wie das
Eich­hörnchen die Nüsse, um sie wiederzufind­en.
Die Klei­der der Toten liegen in meinem Schoß,
Ich pro­biere Leben, alle eine Num­mer zu groß.
So weit bin ich jet­zt, fern vom Fluß, und will
Nicht ster­ben.

 

Mitte Juli
Tar­ent, Gio Pon­tis Con­cat­te­drale
Gran Madre di Dio

Was gestern war, ist schon Wochen her
Ein Sog aus Licht und Meer, ein Haus
Für die Große Mut­ter Gottes, wer baute
Das nicht, Zement und Natur ohne Gewicht.
Mit dem Par­adiso im Kopf stand ich davor
Groß war die Erwartung, mick­rig das Tor
Und statt ein­er Kup­pel wuchs ein Segel
Empor, gebläht oder nicht, im Ges­tanzten
Behielt es die Sicht, him­mel­hoch wolken
Frei. Mich empf­ing kein Men­sch, auch
Nicht Gott. Zur Mit­tagszeit lag das Kirchen
Schiff still am Stad­trand, flankiert von
Des­o­lat­en Hochhaushöfen. Kein Wass­er
In den Beck­en, an dem Engel ihre Flügel
Kühlten, keine Kinder, die darin spiel­ten.
Ich lugte durch ein Fen­ster, Putzkü­bel
Standen vor dem Altar, meeres­bo­den
Grün flossen die Fliesen dahin. In der
Apsis Erzen­gel Gabriel und Gottes
Müde Mut­ter – auch sie ohne Sinn.