Man muss auch let go!

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Iii­ich hab Hitler per­sön­lich gese­hen, die Frau im Video tippt siebzig Jahre danach mit dem Zeigefin­ger wieder­holt auf ihre grüne Brust, streckt danach den recht­en Arm: So! In der Bis­mar­ck­straße habe ich ihn gese­hen, wir haben aus dem Fen­ster geschaut, das Auto ist einge­bo­gen, sie bildet die Kurve mit ihrem Arm nach, von der Land­straße. Wo er dann hinge­fahren ist, weiß ich nicht, wirft bei­de Ober­arme hoch. Ich hab gese­hen, sie blickt nach unten, hält sich mit den Fin­gern am Kinn fest, schnieft, nach­den­klich, die Stimme kippt fast, das war sehr nation­al­sozial­is­tisch, Linz, spe­cial.

Weil es keine Verbindung gegeben hat­te zwis­chen dem Wis­sen um die Ver­fol­gung von jüdis­chen Men­schen und Orten, die mir als Kind ver­traut waren, weil die Aus­löschung also gelun­gen war, tippte ich „Jüdis­ches Leben Linz“ in die Such­mas­chine und stieß auf Stücke der Biogra­phie eines Mäd­chens samt Fotos und Videos. Ich nan­nte es Lotte. Mein Vater war im Jahr des „Anschlusses“ Öster­re­ichs ans Deutsche Reich zwei Jahre alt, meine Mut­ter ein Jahr darauf geboren. Mit der Wald­heim-Affäre began­nen in Wien, wo ich studierte, die Fra­gen. Als ein Pro­fes­sor wis­sen wollte, wie sich meine Eltern zum Nation­al­sozial­is­mus ver­hal­ten hät­ten, begann ich zu stot­tern. Bis­lang hat­te ich ver­mieden über meine Herkun­ft zu erzählen, die mir inmit­ten von bürg­er­lichen Kom­mili­tonin­nen beschä­mend vorkam. Ich sollte beken­nen, von Lan­dar­beit­ern abzus­tam­men. Der Ver­weis auf meine Eltern, deren Leben mit dem Krieg ger­ade erst begonnen hat­te, nützte mir nichts. Was war mit deinen Großel­tern, lautete die näch­ste Frage. Ich druck­ste herum. Die Ver­brechen hat­ten weit ent­fer­nt vom Dorf stattge­fun­den, meinte ich.

Auf dem Bild­schirm bildet die Frau in Grün mit zwei aneinan­dergelegten Han­dober­flächen eine Wand, oben waren die Wohn­räume, dieser Dok­tor, sie klopft mit dem Fin­ger auf die Stuh­llehne, der mein Kinder­arzt war, immer wenn sie den Namen Hitler ausspricht, streckt sie ihren recht­en Arm. Für die Szene von Lottes Vertrei­bung aus Linz stelle ich mir ein Kaf­fee­haus in der Nähe des Linz­er Haupt­platzes vor, mit Eck­bänken aus Plüsch, wo man geschützt sitzt und den­noch die Ein­gangstür im Blick hat, durch die Jugendliche herein­drangen, um jüdis­che Gäste zu ver­ja­gen. Ich wäh­le die Per­spek­tive eines Kindes, das ich nicht kan­nte. Diese Szene hat die Frau, die ich am Bild­schirm beobachtete, nie erzählt.
Doch sie berichtet vom Kom­men­tar des Vaters zum Ein­marsch, imi­tiert seine Bewe­gung, er kreuzt die Fin­ger, sie führt die Hände nach unten, so hat er gemacht und gesagt, das ist unser Ende. Fast lächelt sie dabei, in Erin­nerung an den Papa, den sie liebte. So, diese Bewe­gung, wieder­holt sie, na, ich übertreib nicht. Dann gequält, der Schmerz steckt hin­ter ihrem Lächeln, sie ver­wan­delt sich in das Mäd­chen, das sie war, streckt den Zeigefin­ger aus, spricht mit ungläu­big klein­er Stimme, der Kinder­arzt, der Arzt, dieser Arzt, der mich so oft behan­delt hat, und jet­zt trägt er die Arm­binde, greift sich an den linken Ober­arm, mit dem Hak­enkreuz, hier, nie hätte ich das geglaubt, das schreck­liche Staunen, ein Ille­galer war er, etwas erle­ichtert­er nun der Ton, ja. Und hat die Uni­form anscheinend schon zuhause gehabt, wenn er sie von heut auf mor­gen ange­zo­gen hat. Hält sich wieder die Hand ans Kinn, stre­icht mit einem Fin­ger unter ihrer Nase auf und ab, atmet heftig aus, schaut schräg nach unten, dort ist sie die Erin­nerung, schließlich meint sie, ent­las­tend: Fes­ch­er Mann war er, wie ein Schaus­piel­er hat er aus­geschaut.

Die Frau in Grün erin­nert sich mit ihrem Kör­p­er. Führt eine Hand an ihren Hin­terkopf, als sie vom schwarzen Haar des Dien­st­mäd­chens spricht, das diese aufgesteckt trug, dreht ihre Hand, als sie erzählt, dass das Mäd­chen später heim­lich durch den Hin­terein­gang schlich, um Essen zu brin­gen: Wir waren gut zu ihr, sie hat ihr eigenes Zim­mer gehabt. Sie streift dabei den Ring vom Fin­ger und steckt ihn wieder auf. Inter­essierte aus Linz hat­ten die aus ihrer Stadt Ver­jagte in Jerusalem besucht, Gespräche mit ihr geführt, sie gefilmt, die Filme ins Netz gestellt. Die Gefilmte richtet ihren Blick nach oben. Ich war die einzige, einzige Jüdin in der Klasse. Und ich hab schlecht gel­ernt. Sie hält ihre Hände nebeneinan­der vor ihren Kör­p­er, in Brusthöhe wie ein Kind, wenn es vorm Lehrer ste­ht, Hand­flächen nach unten. Als sie schlecht gel­ernt ausspricht, klatscht sie sich mit der einen Hand auf die andere, wie der Lehrer es tat, um sie dafür zu bestrafen. Er hat mir mit dem Rohr­stock hier gegeben. Und schlägt sich neuer­lich auf die Fin­ger. Der Rab­bin­er, der nach Eng­land geflüchtet ist, war streng. Die Frau in Grün spricht vom Anschlag auf die Syn­a­goge. Die Szene von dem Hebräisch imi­tieren­den Mar­o­deur, die ich im Roman beschreibe, stammt nicht von ihr, son­dern aus den Erin­nerun­gen eines jüdis­chen Linz­ers an die Nacht des Pogroms, die er in den 1970er-Jahren aufgeschrieben und veröf­fentlicht hat. Bis dahin hat­te es in Selb­sterzäh­lun­gen Oberöster­re­ichs meist geheißen, dass Jüdin­nen und Juden nur in Wien mal­trätiert wur­den. Die grüngek­lei­dete Frau belehrt mich eines Besseren. Das war furcht­bar, das ist ein Trau­ma, das ist für immer, hält sich das Kinn, als sie vom Feuer spricht. Diese Flam­men, wie die herübergezün­gelt sind, wellenar­tige Bewe­gun­gen mit den Hän­den in Rich­tung ihres Gesichts, um Gotteswillen, wir ver­bren­nen, ihre Stimme hebt sich. Wieder die Hand als Wand, um eine geringe Ent­fer­nung anzuzeigen, die die Woh­nung des Rab­bin­ers von der Syn­a­goge tren­nte. Die Büch­er alle am Boden, eine leichte Bewe­gung, die ein Wer­fen andeutet, das hab ich alles gese­hen. Das ist mir noch so leb­haft vor Augen. Sie nickt heftig.
Die Mama musste zur Toi­lette und im Stiegen­haus ein SS-Mann, set­zte ihr den Revolver an, der Zeigefin­ger der Erzäh­len­den geht zur Stelle am Hals, schräg hin­ter dem linken Ohr. Wir sind zurück in den Salon, die Durch­suchung, da hat man sitzen müssen, die Bet­ten, eine Drehbe­we­gung der Hand, man ahnt Matratzen, die umge­dreht wer­den, um nach Wert­sachen zu suchen. Schließlich greifen die Fin­ger ihrer bei­den Hände ineinan­der, hal­ten sich fest, und dann der SS-Mann, ein ehe­ma­liger Kunde, weist seinen Kol­le­gen zurecht: „Geh, lass die Sara in Rua“, sie streckt den Arm von sich, abweisende Bewe­gung mit der flachen Hand. Ihr Mann sitzt eh schon im Lager. Unvergesslich, schüt­telt den Kopf. Meine Mut­ti, ja, war die Sara. Julia hat sie geheißen.

Die alte Frau entsin­nt sich ihrer Rolle am Lan­desthe­ater, wo sie als Mäd­chen getanzt hat­te und singt: Hein­er­le Hein­er­le i hob ka Göd. Mua­ta i möchte jet­zt zum Kasperl laufen. Jahrzehnte später kann sie den Text noch auswendig. Immer wieder bringt sie eine Zeile aus ihrem Gedächt­nis her­vor. Wenn sie vom Bettvor­leger spricht, zeich­net sie diesen mit Gesten in die Luft. Ich habe viele Fre­undin­nen gehabt, sagt sie, und greift nach dem grü­nen Stein an ihrer Kette. Die Jade, eine Erin­nerung an Shang­hai? Sie ballt die Fäuste, bringt sie nahe vors Kinn und schüt­telt sie leicht: Da haben wir Zuflucht gefun­den, bei dieser Tante. Und die kon­nte nicht lock­er­lassen von ihrer ele­gan­ten Woh­nung. Sie zieht die Schul­tern hoch, den Kopf ein, Schutzge­bärde, das Bedürf­nis der Tante nach Stag­na­tion, die Fäuste ver­wan­deln sich in zwei flache Hände, par­al­lel gehal­ten, ein Weg tut sich auf, ein Tun­nel, also ist sie in den Ofen marschiert, beim Wort Ofen geht die Stimme sehr hoch. Wir haben alles ste­hen lassen, haben wir uns gerettet. Ja? Man muss auch let go. Ihre Fäuste schließen und öff­nen sich schnell.

Vielle­icht für die Aus­reise nach Shang­hai aufgenom­men, fand ich auf der Web­seite ein Pass­fo­to von Lottes Vater. Ohne Zuver­sicht ist in seinen Augen alles enthal­ten, was er an Demü­ti­gun­gen im Lager ertra­gen haben musste. Für das Foto ver­sucht er, die Lip­pen an den Winkeln hochzuziehen, ein Lächeln zu imi­tieren, das dadurch nur verge­blich­er wird. Die Auf­nahme ist verblichen, bräun­lich, fleck­ig, auf die Fläche seines weißen Ober­hemdes ist in Großbuch­staben mit rot­er Tinte geschrieben: DIED 1-9-42.

In der Ausstel­lung über jüdis­ches Exil in Shang­hai fotografiere ich das Zweite Klasse Tick­et für eine Über­fahrt auf einem Schiff des Lloyd Tri­esti­no. Es kostete für zwei Erwach­sene und zwei Kinder über 10 Jahre ins­ge­samt 250,- Pfund. 10 Prozent Fam­i­lienra­batt. Dazu wur­den rund 3000,- Reichs­mark zu einem Kurs von 12,- umgerech­net. Am 28. März 1939 wurde das Tick­et aus­gestellt. Das Schiff ver­ließ den Hafen am 12. April 1939 um 1 Uhr nach­mit­tags. Ein paar Monate darauf wurde meine Mut­ter geboren.

Lotte kann sich auch als alte Frau an viele Einzel­heit­en erin­nern: In Shang­hai war die japanis­che Besatzung, sie haben ohne Visum, die Hand­flächen dem Kör­p­er zuge­wandt, die Fin­ger machen ein­ladende Bewe­gun­gen, die Leute ein­reisen lassen. Vier Wochen auf dem Meer, sog­ar die Sta­tio­nen des Schiffes ken­nt sie noch, zählt sie auf. Und es war schon kein Platz mehr und da hat sie sich niedergekni­et die Mut­ti, der Zeigefin­ger richtet sich auf einen imag­inären knien­den Kör­p­er, etwa zwei Meter von dem Kind, das Lotte damals war, ent­fer­nt. Und hat seine Knie umfasst, sie macht einen sehr großen Bogen mit bei­den Armen. Wir haben bekom­men die let­zten zwei Sitze in der ökonomis­chen Klasse. Außer­halb des Bil­dauss­chnittes des Videos ist ein nie enden­des, zus­tim­mendes hm hm hm der Inter­view­erin zu hören, das den Fluss des Erzäh­lens mit in Gang hält.

Ich füge Rudolf in die Erzäh­lung, einen jugendlichen Fre­und Lottes. Von ihm hat­te ich das erste Mal über jüdis­ches Exil in Shang­hai erfahren. Meine Beschrei­bun­gen des halb­wüch­si­gen begabten Sportlers, der mit sein­er Mut­ter nach Shang­hai geflüchtet war, brin­gen einen unecht­en Rudolf her­vor, weil ich den wirk­lichen nur als alten Men­schen kan­nte. Den güti­gen, lusti­gen, coolen, amerikanis­chen Rudolf in kurzärmeli­gen, kari­erten Hem­den mit Hosen­trägern, unseren Dozen­ten an der Uni­ver­sität. Wir haben ihn bewun­dert. Wegen sein­er Boxkün­ste war er aus Shang­hai nach Kriegsende auf ein gutes Col­lege in die USA gelangt, studierte Philoso­phie, erlangte eine Pro­fes­sur und kehrte irgend­wann nach Wien zurück. Ich legte eines mein­er Rig­orosen bei ihm ab.

In der Ausstel­lung fotografiere ich ein A4-Blatt, maschi­nenbeschrieben. Auswan­dernde mussten an die Devisen­stelle im ersten Bezirk in Wien eine Auf­stel­lung der Dinge schick­en, die sich in ihren Kof­fern befan­den. Es ging um die „Aus­fuhr von Gegen­stän­den“ kann ich dem Stem­pel ent­nehmen, der rechts unten prangt. Mit Unter­schrift. Es musste gemeldet wer­den, wenn man statt eines Pelzes lieber drei neue Hem­den mit­nehmen wollte. Es musste angegeben wer­den, wie alt das Klei­dungsstück aus dem Besitz des Auswan­dern­den zum Zeit­punkt der Aus­reise war, als wären das Werte, die dem Deutschen Reich ver­lorengin­gen, Werte, die gestohlen wur­den, obwohl doch recht­mäßig erwor­ben. Der Kauf eines Hemdes wurde für die Aus­geson­derten mit einem Mal zur staats­feindlichen Hand­lung. Die Liste der für das Reisegepäck zuge­s­tande­nen Dinge eines männlichen Auswan­der­ers enthielt Fol­gen­des: 1 Akten­tasche, 2 Kof­fer, 1 Pap­pen­deck­el Hutschachtel, 5 Anzüge alt, 2 Über­röcke alt, der Pelz wurde gestrichen, 10 Hem­den alt, plus 3 neue. 8 Unter­ho­sen alt, 12 Paar Strümpfe alt, dazu 6 Paar neue, 15 Taschen­tüch­er alt, 1 Mor­gen­rock alt, 3 Pyja­mas alt, 10 Krawat­ten alt, 2 Hosen alt, 1 Som­mer­hose und eine Leder­hose alt, 1 Rasierzeug alt, 3 Handtüch­er alt, 1 Pullover alt, 5 Paar Schuhe alt, 1 paar Hauss­chuhe alt, 2 Hüte alt.

Mit mein­er Tochter durch­suche ich die Räume des Wiener Jüdis­chen Muse­ums, wir tra­gen Masken über Nase und Mund. Eigentlich soll­ten wir uns jet­zt in Shang­hai befind­en. Aber das Virus machte einen Aufen­thalt unmöglich. Wir kön­nen nicht reisen. Meine Tochter hätte dort studiert, ich hätte sie besucht. Obwohl ich weiß, dass es kaum mehr Spuren des jüdis­chen Exils gibt. Trotz­dem hätte ich nachge­forscht, wäre mit mein­er Tochter durch die Märk­te gestreift. Wegen des Virus befind­en wir uns weit­er­hin in Wien. Betra­cht­en Leben­sreste von jüdis­chen Men­schen, die in Wien nicht bleiben durften. Sie mussten nach Shang­hai. Wie immer sprechen mich vor allem die orig­i­nalen Doku­mente an, weniger die Kopi­en. Kopi­en sind bloße Infor­ma­tion. Echte Schrift­stücke haben Fleck­en und unregelmäßige Schriftze­ichen, sie machen den Zeitraum deut­lich, der zwis­chen damals und heute liegt. Auf die Überseek­iste ist die ehe­ma­lige Wiener Adresse der geflüchteten Fam­i­lie in weißen Buch­staben gemalt. Ich betra­chte das blaue Jäckchen eines geflüchteten jüdis­chen Kindes. Dieses Stück Baum­woll­stoff in der Farbe des Him­mels hat Jahrzehnte über­dauert; wahrschein­lich sog­ar den Kör­p­er des Men­schen, der es trug. Ich fotografiere die Stick­erei auf einem Tis­chtuch. Ein sehr dün­ner, fast durch­sichtiger natur­far­ben­er Baum­woll­stoff. Mit Kreuzs­tich wurde eine Tem­pelan­lage mit Pago­den, Wasser­we­gen, Bäu­men und Wolken gestickt, über allem drei chi­ne­sis­che Schriftze­ichen. Wie sehr ich es auch gehas­st habe, in Han­dar­beit­en unter­richtet zu wer­den, so habe ich doch gel­ernt, wieviel Anstren­gung und Schweiß diese Tätigkeit bedeutet, und dass es beim Gelin­gen darauf ankommt, all die Mühen unge­se­hen zu machen. Fast wie beim Schreiben. Es müssen alle Fäden in gle­ichem Maß fest­gezur­rt wer­den, damit der Stoff sich nicht wellt oder span­nt, alle Stränge sorgfältig vernäht. Nichts darf abste­hen. In der Aufre­gung im Muse­um stelle ich mich ungeschickt an, so dass die Schat­ten mein­er Fin­ger, die das Handy hal­ten, auf den Stoff fall­en. Eine Annäherung?

Den reich bestick­ten japanis­chen Wand­be­hang im Muse­um will ich nicht sehen, obwohl ich, als ich in Japan lebte, nicht genug bekom­men kon­nte von Tex­tilien. Über die Bru­tal­ität der Japan­er muss mir kein­er was erzählen. Ich habe viel darüber gele­sen, aus Erin­nerun­gen von Men­schen aus Län­dern erfahren, die kolonisiert wur­den, von sinnlosen Baupro­jek­ten, die nur dazu dien­ten, Men­schen zu ver­nicht­en. Sel­ten habe ich von Japan­ern selb­st darüber gehört. Sie befind­en sich immer noch im Zus­tand, in dem sich Deutsche und Öster­re­ich­er in den 1950er Jahren befan­den. Kein­er weiß was vom Krieg, außer dass es Helden gab, und die erbar­mungswürdig­sten Opfer waren alle­mal die auf­grund von amerikanis­chen Atom­bomben Umgekomme­nen. Mir wird heiß unter der Maske, mit der ich mich und andere Anwe­sende schützen sollte. Vor Ansteck­ung.

Noch während ich in den USA lebte, hörte ich während eines Besuchs in Wien ein Gespräch zwis­chen Amerikan­ern beim Heuri­gen. Ich wollte meinen Sohn, damals ein Baby, in einem leeren Neben­raum in den Schlaf wiegen. Später bemerk­te ich, dass ein­er aus der Gruppe Rudolf war, der hier gar nicht mehr sou­verän wirk­te. Er beklagte sich, dass Wien voller Nazis wäre, dass sich nichts geän­dert hätte. Es klang ver­bit­tert. Als Pro­fes­sor war er immer offen gewe­sen, gut gelaunt, der tolle Typ, mit allen Wassern gewaschen. In diesem Moment wurde mir klar, dass die Kränkung, damals geächtet und ver­trieben wor­den zu sein, für immer andauert.

Am Bild­schirm beobachte ich die Frau in Grün, hin­ter ihr Zim­merpflanzen. Sie lächelt. 2007 lautet das Insert. Ich samm­le Stücke ihrer Biogra­phie und fülle die Lück­en mit weit­eren Recherchen auf, obwohl ich nicht dabei war, als sie aus ihrem Gedächt­nis Reste her­vorholte, kleine Blitze, Gefüh­le, die sich zu Bildern for­men. Sie wurde weit ent­fer­nt von Linz alt. Auf der Web­seite ist das Foto der bei­den vor der Grab­stelle ste­hen­den Frauen zu sehen: Wie klein die Fläche in der Fremde ist, die ihrem geliebten Toten zugedacht wird. Die Auf­nahme wurde aus einem Album mit schwarzen Kar­ton­seit­en her­aus­geris­sen, Kle­be­flächen sind an der Rück­seite weit­er sicht­bar. Ein paar Zeilen darauf gekritzelt: Was sagt ihr meine Teuren, wie schlecht wir bei­de da ausse­hen. Welche Kränkung, dass wir unseren guten Papi ver­loren haben. Dann ein langer schwarz­er Strich, eine Abgren­zung. Darunter: Es war im Album schon. Grab­stätte meines Edi’s 1942. Shang­hai. Und in der linken unteren Ecke: Aufgeschrieben März 1943. Das Durcheinan­der an Inschriften zeigt die Ver­störung der Frauen.

Viele Jahre nach der Wald­heim-Affäre traf ich in Chica­go einen als Jugendlichen von Nazis Ver­triebe­nen, nun in den USA leben­den Autor. Ich stellte mich vor, erzählte, dass ich nicht immer in Metropolen gelebt hat­te, son­dern auf dem Land aufgewach­sen war, unter Bauern in Öster­re­ich. Smalltalk. Wütend ent­geg­nete er, dass es mir nichts nützen würde, mich als harm­los­es Zopfmäd­chen im Dirndlk­leid vorzustellen. Er hätte diese Unschulds­masche so satt. Dem wüten­den Über­leben­den in Chica­go kon­nte ich damals nichts erwidern. Ich tue es nun. Auch wenn ich Luft für ihn bin. Oder noch schlim­mer. Die jüdis­che Linz­erin lebt nicht mehr. Aber ihr Zeug­nis ist erhal­ten.

Aus unveröf­fentlicht­en Fußnoten zum Roman „Die im Schat­ten, die im Licht“, weiss­books Berlin 2022