Stamina

Von

Die Augen öff­nen, auf dem Rück­en treiben, unter einem rest­los zufriede­nen Him­mel, alles an dieser Sit­u­a­tion kön­nte richtig sein, aber im ersten Stock öff­nen und schließen sich uner­müdlich Fen­ster. Am Mor­gen durften wir zwis­chen vier Far­ben wählen. Meine Farbe ist Weiß. Wir sind zu dritt. Die Auf­gabe von Weiß ist, was immer wir tun, es so langsam wie möglich zu tun, während wir uns frei in der Umge­bung oder im Haus bewe­gen. Alles, jede kle­in­ste Bewe­gung, das Gehen Trinken Urinieren Duschen, in größt­möglich­er Langsamkeit auszuführen. Es braucht viel Selb­st­be­herrschung, sich Tropfen für Tropfen zu entleeren. Wahrschein­lich ist nichts unmöglich. Ich kann nicht sagen, wie lange ich gebraucht habe, um zum Pool zu kom­men, aber hier bin ich. Obwohl ich mich nur wenig vom Beck­en­rand ent­fer­nt habe, muss ich mich anstren­gen, nicht unterzuge­hen.

Wenige Meter ent­fer­nt, hin­ter der Begren­zung des Grund­stücks, ist die Gruppe Rot damit beschäftigt, rück­wärts Rich­tung Wald zu gehen, als Ori­en­tierung­shil­fe dienen Hand­spiegel. Sie queren das Feld im Son­nen­schein. Ihr Anblick hat etwas Roman­tis­ches. Vorhin, auf meinem Zeitlu­pen­weg über die Treppe in den Pool habe ich ihnen zuge­se­hen, was ein Fehler war. Jede Ablenkung ist ein Fehler. Ich werde nach­läs­sig in mein­er Übung. Auch jet­zt bewe­gen sich meine Arme und Beine zu schnell. Das unabläs­sige Öff­nen und Schließen der Fen­ster über mir kön­nte zur Gruppe Blau gehören. Wenn ich die Augen schließe, glaube ich einen Rhyth­mus zu erken­nen, ein treiben­des Stolpern. Im Augen­blick kann ich nicht sagen, wo sich Gruppe Gelb befind­et. Ver­mut­lich hin­ter dem Haus. Auch wo der Rest der Gruppe Weiß sich aufhält, ist mir nicht bekan­nt. Ich weiß, dass die Assis­ten­ten ihre Run­den drehen, um nach uns zu sehen. Sie verziehen dabei keine Miene. Lächeln sel­ten, nick­en. Ich arbeite mich an der Langsamkeit ab. Der Gedanke, dass es im Wass­er leichter sein wird, war ein Fehlschluss. Ich bemühe mich, Mund und Nase über Wass­er zu hal­ten. Nichts zu denken. Und doch: Der Gedanke an die Fehlbarkeit von Erin­nerung. Der Gedanke, dass es mir unmöglich sein wird, mich selb­st zu überlis­ten. Im Ver­such, die Ereignisse der let­zten Minuten, Stun­den, Tage zu reka­pit­ulieren, muss ich fest­stellen, dass es mir unmöglich ist, aus der Per­spek­tive von allen zu erzählen. Und sei es nur, um die Einzel­heit­en mein­er Per­son zu ver­schleiern, was mir ein Anliegen wäre.

Dauer der Übun­gen: vier Tage. Anzahl der Teil­nehmenden: zwölf. Für die Dauer der Übun­gen wird darum gebeten, wed­er zu sprechen noch zu essen. Auch Lesen und Schreiben ist nicht erwün­scht. Jeden Tag sind Übun­gen in ein­er vorgegebe­nen Abfolge zu absolvieren. Die Anleitung jed­er Übung wird unmit­tel­bar vor deren Aus­führung erläutert. Der Aus­gangspunkt: den Kör­p­er als Haus denken. Wir trainieren den Kör­p­er, unser Haus, wir reini­gen es und sam­meln Werkzeuge, die uns helfen, unser Bewusst­sein zu steuern. Die Gren­zen auszu­loten. Ein Abbruch der Übun­gen ist nicht vorge­se­hen.

Wir sehen: Die Umrisse ein­er Land­schaft. Insek­tengeräusche. Das Pochen von Hitze in den Glied­maßen, bis in die Fin­ger­spitzen, unter der Haut. Der Kör­p­er abgekämpft von der Reise, dabei hellwach, das Herz sinn­los rasend. Vor dem Tor des Grund­stücks steigen wir aus, stolpern vor­wärts, auf die anderen zu, hal­ten einen Augen­blick inne. Eine Hand­voll Men­schen, die meis­ten sehen jung aus. Ich ver­w­erfe den ersten Gedanken: lächer­lich jung. Ein paar ältere, zwei ziem­lich alte. Der Impuls auszuwe­ichen, den Blick­en und erwart­baren ersten Sätzen. Automa­tis­men set­zen ein, die All­ge­mein­plätze, das stumme Ver­gle­ichen. Die eigene Verän­derung, im Ton, in der Hal­tung, das Trig­gern von unsicht­baren Punk­ten. Was wir sehen, wenn wir jeman­den zum ersten Mal sehen ist das, was gewor­den ist. Oder. Wieviel mehr Zeit braucht es, die möglichen Leben dahin­ter zu erken­nen. Der Gedanke, dass sich die Zellen im Kör­p­er alle sieben Jahre erneuern. Dass man sich irgend­wann gegenüber­ste­hen müsste, neu trans­formiert und dass es doch nicht so passiert. Die Vorstel­lung, nicht die einzige denkbare Ver­sion von uns selb­st zu sein, hat etwas Tröstlich­es.
Die unaus­ge­sproch­enen Fra­gen. Wer wird durch­hal­ten? Ist aufgeben eine Option? Was sieht das Gegenüber an einem? Wie muss die Gegen­wart beschaf­fen sein, um sich zu erfüllen? Das erste und das let­zte Glied ein­er Kette ineinan­der­greifend­er Begeben­heit­en. Zwis­chen Rou­tine und Rup­tur. Wir stellen Fra­gen in dem beruhi­gen­den Wis­sen, dass wir kein Gespräch zu Ende führen müssen. Wir sind hier, um zu schweigen. Hier, im Plur­al, suchen wir die Stille für den Auf­bruch. Wir fol­gen dem Anfang von etwas, das wir für einen Weg hal­ten. Wenige Schritte weit­er, vor dem Haus, klafft ein schwarzes Loch in der Erde. Ein Pool ohne Wass­er.

Das Sur­ren von Ven­ti­la­toren erfüllt die Räume, der Geschmack von Ver­bran­ntem in der Luft und der Geruch nach Zitrone. Es ist ein anderes Haus als das im Wer­be­trail­er und doch scheint alles selt­sam ver­traut. In Gedanken wieder­holen sich die Bilder, Momen­tauf­nah­men aus den Übun­gen, Close-ups konzen­tri­ert­er Gesichter, Land­schaft, Emo­tion, Atmo, Natur.
Das Erste, was zu tun ist: Wir leg­en alles Per­sön­liche und alles Elek­tro­n­is­che, das wir bei uns tra­gen, ab. Ord­nen die gle­ichen Dinge den ver­schiede­nen Wan­nen zu, eine für die Tele­fone, eine für Büch­er, eine für Uhren, eine für Tablets, eine für alles andere. Die Bewe­gung der Kör­p­er und Hände über den Wan­nen. Wenn das alles wäre, was von uns bleibt, Relik­te ein­er unterge­gan­genen Zivil­i­sa­tion. Wir haben keine Möglichkeit, zu Hause anzu­rufen. Ich empfinde keinen Wun­sch danach. Alle Verbindun­gen sind frei­willig gekappt.
Das Lächeln des Assis­ten­ten: You are free now. You should be hap­py.
Ein­mal möchte ich so lachen, dass Wider­stand zweck­los ist.

Die Vorstel­lungsrunde bleibt aus und damit das Aufzählen möglich­er Hal­tun­gen, Gründe, und alles, was damit zusam­men­hängt, Schick­salsmonologe, Kind­heit­sträume und Trau­ma­ta. Der vor­sor­glich vor­bere­it­ete Satz, den ich nicht aussprechen muss: Ich kann das Gewicht mein­er eige­nen Vorstel­lungskraft nicht ertra­gen. Ein ander­er, ver­wor­fen: Ich will die Ganzheit der Welt vertei­di­gen. Nie­mand hat vor uns zu fra­gen, warum wir hier sind.

Das Öl, das wir ein­nehmen, ist ein Rezept des Haus­es, wed­er bit­ter noch salzig, son­dern eben­so farb- wie geschmack­los. Als uner­wün­schte Neben­wirkun­gen des Fas­tens kön­nen auftreten:
Kreis­lauf­beschw­er­den
Hypo­tonie
Kopf­schmerzen oder Migräne
Müdigkeit
Mundgeruch und Men­stru­a­tion­sstörun­gen
Muskelkrämpfe
akute Rück­en­schmerzen
Verän­derun­gen im Schlafver­hal­ten
Vorüberge­hende Störun­gen des Sehver­mö­gens
vorüberge­hende Flüs­sigkeit­sre­ten­tion
Die Schlafko­jen öff­nen und schließen sich bis spät in die Nacht. Das Öl tut seine Wirkung, immer wieder ste­ht jemand eilig auf. Bis zum Mor­gen dür­fen wir noch flüsternd sprechen. Ich denke so lange über einen let­zten Satz nach, einen wirk­lich guten let­zten Satz, bis nie­mand mehr wach ist, zu dem ich ihn sagen kön­nte. Es dauert lange, bis mein Kör­p­er reagiert, dann geht es sehr schnell. Den schwach beleuchteten Flur hin­unter Rich­tung Gemein­schafts­bad, die Hände tas­ten an der rauen Mauer ent­lang. Im Bad auf dem Boden knien, in Stücke zer­fall­en. Schwitzend und zit­ternd aus nassen Klei­dern schälen, ganz flach an die Fliesen gepresst liegen bleiben. Als ich das Bad wieder ver­lassen kann, bren­nt kein Licht mehr im Haus, nir­gends. Ich flüstere meinen Satz in die schwarze Leere.

Das Rauschen von Wass­er geht über in das Läuten ein­er Glocke. Ich wache auf ohne Hunger. Das Läuten nähert sich, ent­fer­nt sich langsam wieder, jemand läuft auf dem Flur vor den Kojen auf und ab. Ich höre, wie die anderen auf­ste­hen, das Öff­nen und Schließen von Fen­stern und Türen, höre, wie jeman­dem ein Guten Mor­gen her­aus­rutscht und nie­mand antwortet, drifte zurück in Traum­bilder, schrecke hoch. Ich weiß nicht, wie viel Zeit seit dem ersten Aufwachen ver­gan­gen ist. Klet­tere aus der Koje ins Licht, folge den Geräuschen erst den Gang, dann die Treppe hin­unter und weit­er nach draußen, wo sich alle ver­sam­melt haben. Ich bin die Let­zte, die dazustößt. Alles ist zu hell.
Ich kann mich an keines der Gesichter erin­nern, es ist, als würde ich die Gruppe zum ersten Mal sehen. Das schwarze Loch hat sich in einen mit Wass­er gefüll­ten Pool ver­wan­delt. Es ste­ht uns frei, Badek­lei­dung zu tra­gen. Die meis­ten steigen nackt ins Wass­er.
Klei­der abstreifen, sich Zeit lassen, den Blick auf die anderen ver­mei­den wollen und doch nachgeben, der Gewohn­heit fol­gen, die Kör­p­er einzuord­nen in alt jung weich fest anziehend abstoßend, während ein Kör­p­er nach dem anderen mit jedem Schritt mehr mit der eige­nen Spiegelung ver­schwimmt. Das Wass­er ist eiskalt und klar, kein Chlorgeruch. Das Haus liegt abgeschieden, auf dem höch­sten Punkt ein­er Stufen­land­schaft, unter uns der Wald. Ich stelle mir den Quer­schnitt vor, die leicht geneigten, fast par­al­lel übere­inan­der liegen­den Schicht­en der Gesteine unter uns. Es ist kurz nach Son­nenauf­gang, noch ist es kühl, im Laufe des Tages wer­den die Tem­per­a­turen rasch steigen, bis die Hitze kaum zu ertra­gen sein wird. Die Gegend erfüllt eine der wichtig­sten Bedin­gun­gen: Es muss zu kalt oder zu heiß sein.

Auf dem Rück­en treiben, die Augen geschlossen, der Kör­p­er erin­nert sich an die Fahrt hier­her, die schlingernde Bewe­gung des Taxis ent­lang der Ser­pen­ti­nen in der Däm­merung, unter einem ver­löschen­den Him­mel. Das Wass­er ist zäh wie Honig. Ich tauche auf und schnappe nach Luft. Ertaste den Beck­en­rand, ziehe mich rasch hoch und gleite auf die war­men Steine. Ich bin allein, über mir das fort­dauernde Öff­nen und Schließen der Fen­ster, der Rhyth­mus hat gewech­selt, scheint har­monis­ch­er gewor­den zu sein. Wo war ich? Nach­läs­sig, ich war nach­läs­sig. Wahrschein­lich, vielle­icht hat nie­mand meinen Lap­sus bemerkt. Der Blick sucht und find­et die Gruppe Rot im Rück­wärts­gang, jet­zt schon näher am Wald. Dieser heilige Ernst, mit dem wir unsere Auf­gaben erledi­gen, nicht auf­begehren, weit­er­ma­chen. Wann war ich zulet­zt so fol­gsam. Auf dem Boden neben dem Beck­en­rand liegen meine Klei­der sorgfältig zu einem Bün­del gefal­tet, so wie ich sie hin­ter­lassen habe. T-Shirt, Hose, Wäsche entsprechen den Richtlin­ien: schlicht, ger­ade geschnit­ten, nicht zu kör­per­nah, in gedeck­ten Far­ben, ohne Auf­drucke oder sicht­bare Label. Wir gle­ichen uns den spär­lich ein­gerichteten Räu­men des Haus­es an, fügen uns in die freien Flächen. Der Ver­such, die Behar­rlichkeit eines Gegen­stands anzunehmen. Nichts zu denken. Aus­dauer beze­ich­net die Wider­stands­fähigkeit des Organ­is­mus gegen Ermü­dung sowie die schnelle Regen­er­a­tions­fähigkeit nach ein­er außeror­dentlichen Belas­tung. Aguante, Izdržljivost, Sta­mi­na. Deswe­gen sind wir hier. Wir arbeit­en uns an den Wider­stän­den ab. Die Men­schheit ist eine mess- und nachzähl­freudi­ge Spezies. Vielle­icht kommt daher der Zwang, die Summe der einzel­nen Tage zusam­men­zu­tra­gen, die Dinge in meinem Kopf zu ord­nen. Obwohl ich mir sich­er bin, dass die Tage hier wed­er begin­nen noch enden, sie simulieren. Wie ich.

Die erste Übung begin­nt mit der Anweisung, an ein­er lan­gen Tafel Platz zu nehmen. Das Gedeck beste­ht aus einem weißen Blatt, einem Bleis­tift, Lärm­schutzkopfhör­ern. Ein Gemisch aus Reis und Lin­sen wird auf den Tisch geleert, pro Teil­nehmer geschätzt ein halbes Kilo. Es geht darum, Reis und Lin­sen zu tren­nen, jedes einzelne Korn zu zählen, alles aufzuschreiben. Wir haben alle Zeit, die wir brauchen, um die Übung zu been­den.
Einige machen sich sofort an die Arbeit. Flache braune Hülsen­früchte, helle Reiskörn­er gleit­en durch geschäftige Fin­ger. Tren­nen, zählen, sortieren. Die Kopfhör­er schluck­en alle Geräusche. Auch ich sollte jet­zt anfan­gen. Im Augen­winkel die Bewe­gun­gen der Hände und Stifte. Das weiße Blatt vor mir. Die ein­geris­sene Nagel­haut meines Sitz­nach­barn, der laut­los mit den Lip­pen Zahlen formt. Die Frau mir gegenüber, die mit dem Stift auf den Tisch tippt, als würde sie einem bes­timmten Rhyth­mus fol­gen, ich kann das Geräusch nicht hören und doch. Mein Blick will den Raum erkun­den, die Gesichter der anderen lesen. Die Assis­ten­ten haben den Raum ver­lassen. Wahrschein­lich wer­den wir beobachtet, es ist bess­er, die Übung ohne weit­eren Auf­schub zu begin­nen.
Tren­nen, zählen, sortieren.
You should be hap­py. Der let­zte Satz vor dem Schweigen, der an mich gerichtet war. Eigentlich hat­te ich mir das anders gedacht, mich gefreut, in Erwartung ein­er Ruhe, ein­er Leere, die sich anfühlt wie Ausat­men. Dabei haben sich Gedanken und Bilder in Gang geset­zt, wie Steine, ein­er bewegt sich nur ein biss­chen und alles begin­nt zu fall­en. Seit das Schweigen begonnen hat, wird es mit jed­er Minute lauter in meinem Kopf. Tren­nen, zählen, sortieren. Vergessen geglaubte Lied­texte rei­hen sich an Gedicht­stro­phen, Reime. If you’re hap­py and you know it, clap your hands. Clap-clap. If you’re hap­py and you know it clap your hands. Clap-clap. Während ich noch zögere, hat mein Sitz­nach­bar eine eigene Tech­nik entwick­elt, im Takt eines unsicht­baren Metronoms schiebt er Reisko­rn für Reisko­rn mit der Spitze seines Bleis­tifts nach rechts. If you’re hap­py and you know it and you real­ly want to show it if you’re hap­py and you know it, clap your hands. Einen Satz, eine Melodie abschüt­teln, um ins Näch­ste zu kip­pen. Clap-clap. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond – Tren­nen, zählen, sortieren. Mein Sitz­nach­bar reißt mit den Zäh­nen ein Stück Nagel­haut ab. Der Bleis­tift rutscht in mein­er schweiß­nassen Hand. Clap-clap. Ich bin vier Jahre alt und zeichne, aber eigentlich spiele ich, dass ich zeichne. Wenn ich einen Strich ziehe, tue ich nur so, als würde ich zeich­nen. Ich spiele für die Kam­era, ein Kind zu sein, das zeich­net. Immer sehe ich aus, als wäre ich nicht ganz bei dem, was ich ger­ade tue. Tren­nen, zählen, sortieren. If you’re hap­py and you know it, pat your head. Pat-pat. If you’re hap­py and you know it, pat your head. Pat-pat. Das Bild von John Lennon und Yoko Ono, wie sie darauf warten, dass das Zim­mer­mäd­chen das Bett in ihrer Suite, wo sie seit Tagen für den Welt­frieden demon­stri­eren, neu bezieht. Pat-pat. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond – Ein Blick im Nack­en, lästig wie ein Insekt. Auf­steigen­der Zorn, der aus dem Gedächt­nis des Kör­pers kommt, nicht konkret wer­den will. Was ist, wenn Zeit ein Gegen­stand ist, der sich nicht bewe­gen lässt und in dem wir zugle­ich gefan­gen sind. Wie dieser Raum. Tren­nen, zählen, sortieren, schwitzen. Der Gedanke an Schnee, daran, Schnee immer schon gehas­st zu haben. Ein Bild von mir in Anorak und Mütze, geschützt unter meinem bun­ten Kinder­schirm, als wäre ich eine alte Dame, empört über die Zumu­tung mein­er Exis­tenz. Ich blicke direkt in die Kam­era, hin­ter mir ein Gehweg, ein Stück Wiese, dichter Schneefall. Tren­nen, zählen, notieren, durch­stre­ichen. Tren­nen, zählen, notieren, durch­stre­ichen. Ein Loch ins Papi­er stechen. Im Raum staut sich die Hitze, es kön­nte Mit­tag sein. Ist aufgeben eine Option? Der Impuls, den Lärm aus mir her­auszus­peien, als einen end­losen Satz, der in jedem Raum, an jedem Ort, in jed­er Umge­bung etwas anderes bedeutet. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond – Nichts von all dem ist mir anzuse­hen. Ich bin 41 Jahre alt und spiele für ein unsicht­bares Pub­likum, wie ich mit hinge­bungsvoller Konzen­tra­tion Lin­sen und Reis trenne, die einzel­nen Körn­er zäh­le, laut­los die Zahlen mit den Lip­pen forme. Das Pub­likum kann meine Angst wit­tern wie ein Hund, es kann wahrnehmen, ob ich wirk­lich DA bin oder nicht. Mir zuse­hen, wie ich etwas notiere, etwas anderes durch­stre­iche. Das Papi­er vor mir liegt unver­let­zt. Wieder­hol­ung und Erin­nerung als gle­iche Bewe­gung, in ver­schiedene Rich­tun­gen auseinan­der­strebend. Für einen Augen­blick glaube ich zu sehen, wie mein Sitz­nach­bar begin­nt, mit der Spitze seines Bleis­tifts gegen die Ord­nung zu sortieren, die schon säu­ber­lich getren­nten Häufchen geduldig zu zer­stören, Reisko­rn für Reisko­rn zurück in das Gemisch schiebt. Irgend­wann rückt der erste Stuhl, jemand ste­ht auf und ver­lässt den Raum. Weit­er jet­zt. Tren­nen, zählen, sortieren. Auch der andere Platz neben mir ist leer. Sekun­den, Minuten, Stun­den später berührt mich jemand an der Schul­ter, das Zeichen, dass alle die Übung been­den dür­fen, unab­hängig davon, wie weit sie gekom­men sind. Ich blicke nicht auf, will nicht sehen, wie viele noch übrig sind. Es ist unmöglich, jet­zt aufzugeben. Irgend­wann lege ich den Stift endlich zur Seite. Die Zeit, die mir ein Assis­tent auf einen Zettel notiert: sieben Stun­den und fün­fundzwanzig Minuten.
Vor­sichtig ste­he ich auf, strecke meine Beine. Hin­ter mein­er Stirn ist nur noch ein leis­es Rauschen. Jemand ent­fer­nt die Stüh­le, den Tisch. Ich gehe ans Fen­ster, nach­se­hen, was von der Welt noch übrig ist. Auf dem freien Feld unten vor dem Grund­stück bewegt sich eine grin­sende Micky Maus im rasenden Zick­za­ck über das Gelände. Micky grinst mich vom Rück­en eines Over­sized Hood­ies an. Kapuze auf, darunter ver­steckt sich wohl ein Kind, wahrschein­lich aus der Umge­bung, wobei die näch­ste Ortschaft ein ganzes Stück ent­fer­nt sein muss. Das Kind bremst sein Fahrrad scharf ab, der Hin­ter­reifen wirbelt trock­ene Erde hoch, bevor es sein Gesicht in meine Rich­tung dreht, einen Augen­blick innehält, dann weit­er, bar­fuß in den Ped­alen ste­hend, bis es im Wald ver­schwindet.

Weiß. Meine Farbe ist Weiß. Die Auf­gabe von Weiß ist, was immer ich tue, es so langsam wie möglich zu tun. Die Sonne ist weit­erge­wan­dert. Der Schat­ten des Haus­es ist bis an den Beck­en­rand gekrochen. Es ist nichts zu hören. Die Fen­ster im Stock über mir sind jet­zt geschlossen, der Boden unter mir ist immer noch warm. Meine Klei­der am Beck­en­rand, sorgfältig gefal­tet. Mehrmals hin­tere­inan­der öffne und schließe ich den Mund so weit ich kann, lasse meinen Kiefer knack­en. Ich muss ausse­hen wie ein Fisch. Ich drehe den Kopf zur Seite. Im Wass­er zap­peln Insek­ten. Draußen auf dem freien Feld vor dem Grund­stück hat jemand Stüh­le aufgestellt, immer zwei einan­der gegenüber, ver­streute Inseln. Dazwis­chen tum­meln sich ein paar Ziegen, das Gebim­mel der Glöckchen, die sie um den Hals tra­gen, begleit­et jeden ihrer Schritte. Son­st ist nie­mand zu sehen. Für einen Augen­blick ist die Stille vol­lkom­men und tröstlich.
Das träge schnalzende Geräusch von Flip-Flops, ich blin­zle ins Gegen­licht, ver­suche verge­blich ein Gesicht auszu­machen. Jemand, wahrschein­lich ein Assis­tent, reicht mir ein weißes Blatt: Fün­fundzwanzig Minuten Pause.

Wir sollen einen Platz auf dem Feld find­en und eine Hal­tung auf dem Stuhl ein­nehmen, in der wir ver­weilen kön­nen, ohne uns zu bewe­gen. Die Regeln sind ein­fach: Die Hände nicht heben, keine Zeichen machen, nicht sprechen. Die andere Auf­gabe ist, den Blick zu hal­ten. Mein Gegenüber ist männlich, weiß, mit­te­lalt, mit­tel­groß, etwas far­b­los. Ein Gesicht, das nicht auf­fällt. Nie­mand, dem ich unter alltäglichen Bedin­gun­gen ein­er Begeg­nung mehr als ein paar Sekun­den Aufmerk­samkeit schenken würde. Wir richt­en uns ein, gehen auf Posi­tion. Nach weni­gen Augen­blick­en schon klebt die frische Klei­dung feucht auf der Haut. Die Luft schmeckt süßlich. Obwohl wir hier draußen sind, kann ich meinen Schweiß riechen und den meines Part­ners. Es heißt, wenn wir unser Gegenüber lange genug betra­cht­en, wird es nach und nach schön­er hässlich­er zorniger trau­riger ver­trauter bis das Gesicht keine Bedeu­tung mehr hat. Das linke Auge des Mannes zuckt leicht, dann das rechte. Ich spüre die Trägheit meines eige­nen Kör­pers und zugle­ich meine Unruhe. Nach ein­er Weile begin­nen auch meine Fin­ger unwillkür­lich zu zuck­en. Ich kenne die Forschungs­berichte, die diesen Effekt beschrieben haben, den gegen­seit­i­gen Blick, diese stumme Kom­mu­nika­tion zwis­chen zwei Frem­den, die dazu führt, dass die Gehirn­wellen sich nach ein­er Weile angle­ichen und iden­tis­che Muster beschreiben. Aber sie schreiben nichts von: Schmerzen im Steißbein, im Beck­en, zwis­chen den Rip­pen, in den Schul­tern. Die Anstren­gung, die es braucht, etwas zu tun, das so nah am Nicht­stun scheint. Die Pupillen des Mannes scheinen sich zu weit­en, der Blick wird weich­er, durch­läs­siger. Der gegen­seit­ige Blick als Reise auf unbekan­ntem Gebi­et, unter der Ober­fläche der Land­schaft ein Rhi­zom aus Zufall und Unglück. Ich frage mich, wo die Ziegen hin sind. Wie all das hier ausse­hen muss, aus der Vogelper­spek­tive, wir auf unseren Stühlen, über das Feld ver­streut. Auf drei Uhr begin­nt jemand zu schluchzen. Weinen ist ansteck­ender als Lachen. Ein Gebot, das ich mir selb­st aufer­legt habe: niemals in der Öffentlichkeit weinen. Die Muskeln in meinen Waden krampfen. Mit Schmerzen habe ich nicht gerech­net. Eine Fliege set­zt sich auf die Stirn meines Gegenübers, reibt die Beinchen aneinan­der. Er reagiert nicht. Ich erin­nere mich an meine erste Begeg­nung mit dem Verge­hen von Zeit: Du bleib­st jet­zt hier ganz still sitzen und denkst darüber nach, was du getan hast. Ich unter­drücke auf­steigen­des Lachen. Wieso denken wir, wenn wir unglück­lich sind, dass wir auf ganz eigene Weise unglück­lich sind? Das Gesicht meines Part­ners, dessen Züge sich schein­bar dehnen, wieder zusam­men­ziehen. Ich ver­suche, meinen Kör­p­er als Haus zu denken. Schre­ite alle Zim­mer ab, öffne die Türen und Fen­ster nach draußen. Mir fällt ein, dass ich die Namen der anderen nicht kenne, auch den meines Part­ners nicht. Mein Blick, der das Gegenüber über­windet, sich in der Ferne dahin­ter ver­liert. Wir kön­nten uns ineinan­der ver­lieben. Die Dinge tun, die Ver­liebte machen, Geschicht­en, Blicke, Kör­per­flüs­sigkeit­en aus­tauschen und das Wichtig­ste: von allem Fotos machen, alles fes­thal­ten wollen. Ich glaube, eine Bewe­gung im Wald zu erken­nen, ein sich wieder­holen­des Muster. Einen Satz wieder­holen, bis er keinen Sinn mehr ergibt. Ich denke an meine Woh­nung, der ver­traute Geruch, all die Dinge darin, die mich beze­ich­nen, die Büch­er Fotos Plat­ten Filme Notate voll­ständig ver­sam­melt, schon bedeckt von feinem Staub. Die merk­würdi­ge Tat­sache, dass da draußen die Wirk­lichkeit weit­er beste­ht und damit all die Dinge ein­er greif­baren Welt, die wir trotz­dem nie ganz erfassen kön­nen. Was war zuerst da, die Sprache oder die Bilder. Ich frage mich, ob das Haus und der Pool hin­ter uns noch da sind, aber ich werde mich auf keinen Fall umdrehen. Mein Kör­p­er hat alles vergessen, ist jet­zt nut­z­los und leicht. Nichts mehr denken. Das Lautwer­den der Insek­ten, kaum merk­liche Bewe­gun­gen in der Erde unter unseren Füßen, feuchte Küh­le, die aus dem Wald zu uns auf­steigt. Wir merken nicht, wie die Däm­merung ein rotes Band über die Hügel span­nt und erst der Wald vom Dunkel ver­schluckt wird, schließlich wir.