Bleiglatter Fluss, milde Sonne

Von

„Des Helfens müde“

„Also auch der Berufene:
Er ver­weilt im Wirken ohne Han­deln.
Er übt Belehrung ohne Reden. (…)
Ist das Werk voll­bracht,
so ver­har­rt er nicht dabei.“
– Lao-Tse: „Tao-te-King”

Wollte auch ich einst die Men­schen so belehren,
so verän­dern, ihnen ins Gewis­sen reden
wie zwei mein­er Fre­unde es tun?
Er, der seine Schüler vom fanatis­chen Gottes­glauben
erlösen; sie, die ihren Vater
wei­therziger machen will, damit er nicht mehr
nach­plap­pere die kleinkari­erten Borniertheit­en
der Lan­deipartei, die er wählt.
Am Tele­fon sagte sie neulich zu mir:
Es sei „zu wenig“, nur zu schweigen und
sich nicht zu äußern, wenn,
(wie ein Bekan­nter von mir),
ein­er sagt, Neger seien weniger wert
und unter Hitler sei nicht alles schlecht gewe­sen.
Irgen­det­was Ähn­lich­es näm­lich sagte
vor einem Jahr ein naher Ver­wandter,
als wir an einem lauen Som­mer­abend
am Flus­sufer standen
in den schrä­gen Strahlen der sink­enden Sonne.
Er sprach und ich schwieg.
Wie soll ich ein ganzes Leben,
ver­bracht in selb­st­gerechtem Dog­ma­tismus –
denn diese Negeran­sicht­en sind nur
ein Aus­druck so eines Lebens –
verän­dern durch ein Wort von mir?
Und so schwieg ich und beobachtete
die Enten im Fluss,
die Enten­mut­ter und ihre kleinen Küken,
während die Sonne unsere Schat­ten streck­te.

 

„Zeital­ter der Aufk­lärung“

Oh, ihr Kon­ven­tio­nen der Mor­gen­stun­den,
ihr priester­lichen, nach denen des Schlafes
(hör die Trom­meln des sibirischen Schama­nen):
Ich merke, dass die aufgeris­sene Stelle
zwis­chen den Zehen wieder schmerzt.
Das Muskelverspan­nungscre­megift
ist in die ekle Wunde gesick­ert.
Meine Fußknöchel pochen.
Nie hast du deine Ruhe, nie!
Die Kon­ven­tio­nen der Gewöh­nung,
weil die Real­ität mich umstellt
wie Philipp II von Spanien seine Akten
in seinem kleinen Arbeit­sz­im­mer,
in diesen Mor­gen­stun­den.
Was für ein Som­mer: vorgestern schon
zog über die Stadt eine hell­graue Wolken­wurst,
wälzte vom Fließband des Him­mels
ihren faden Wasser­leib Rich­tung Alpen,
um sich über verir­rten Wan­der­ern
zu ent­laden – Selb­st­mörder, Wahnsin­nige,
von Som­merge­wit­tern angeschwol­lene Flussfluten,
Poli­tik­er, die wegen verun­treuter Gelder
beim Inter­view wein­er­lich wer­den,
die vor zwanzig Jahren von ihrem Mann
ver­lassene Frau, kinder­los,
im regen­triefend­en Park ihren Hund
aus­führend (wo sind all die Män­ner?),
in Wien wieder eine Beislbe­sitzerin
hin­term Tre­sen erschla­gen,
Fracht­flugzeuge, die ton­nen­schwere
Kabel­rollen trans­portieren …
Oh, ihr Kon­ven­tio­nen der Mor­gen­stun­den,
oh, ihr Kon­ven­tio­nen der Arbeit
(die Pyra­mi­den, Glüh­bir­nen,
die 3-D-Druck­er, denk an all die Chirur­gen,
Zucker­bäck­er und Finan­zamts­beamten),
die Kon­ven­tio­nen der so genan­nten Som­mertage:
Aber was sich Johan­na die Wahnsin­nige
vom Leben erwartet hat, was Nofretete,
was Iwan der Schreck­liche oder Mut­ter Tere­sa,
weißt du es wirk­lich?
Die in die Wunde gesick­erte Creme.
Immer wieder erstaune ich,
dass ohne Ord­nung alles zer­fall­en würde.
Das Chaos existiert nicht.
Neu­rosen sind ein gemein­er Mythos.
Sinn­los nach dem Sinn zu suchen.
Hier ist er: die Kabel ver­legen sie im Ozean,
damit Hel­mut und Sheila, getren­nt
durch Haifis­che, Meereswogen, Wal­fis­che,
Öltep­piche und Wracks gesunken­er Schiffe,
miteinan­der sprechen kön­nen;
auch Transak­tio­nen lassen nicht warten
auf sich, fan­tastis­ch­er als die Drachen
alter Sagen, fan­tastis­ch­er als Medusa,
Cer­berus und Dänikens Außerirdis­che,
fan­tastis­ch­er als all diese Dinge,
vor denen Diderot und Voltaire und
all die küh­lköp­fi­gen Fran­zosen
pikiert ihre Nase rümpften ... Aber auch jet­zt noch,
wenn die Nebel sich heben,
wenn die Wun­den sich schließen,
wenn das Meeres­geglitzer dich blendet,
wenn die Fluten an den Sand­säck­en leck­en,
auch jet­zt noch trom­melt der Schamane
unterm Grau des weit­en Him­mels
in Sibirien, in ein­er Lich­tung
von schlanken Birken
den Rhyth­mus der Geburten,
schre­it ihn hys­ter­isch,
schre­it ihn der­wis­chgle­ich
in dein von Kon­ven­tio­nen
ver­stopftes Gehirn.

 

„Vom Nutzen und Nachteil der His­to­rie
für die Liebe“

Ganz weit weg ist Alexan­der der Große
in der Schlacht von Issos und das Mosaik­bild, das ihn preist.
Ganz weit weg sind Catili­na, der Vulka­naus­bruch von Pom­pe­ji,
weit weg auch Karl der Große und die Schmach von Canos­sa.
Weit, weit weg der Wandtep­pich von Bayeux
und der Mut Wil­helms, der Eng­land eroberte.
Weit weg ist der Großin­quisi­tor Nino de Gue­vara
und das Gemälde von El Gre­co, das ihn preist,
eben­so weit weg wie Charles Le Bruns Gemälde
von Lud­wig XIV und sein Schreibtisch in Ver­sailles,
weit weg wie der Sieg der Briten bei Trafal­gar,
weit, weit weg wie Mon­ets Son­nenauf­gang
über dem Außen­hafen von Le Havre,
weit weg ist auch der Friedensver­trag von Weimar,
weit auch der Duce von Ital­ien,
der Panz­erkreuzer Potemkin,
weit weg der Napalmkrieg im Jahre 1972
und das kleine Mäd­chen, das um sein Leben ren­nt,
weit weg die Frauen in Bur­ka,
die für Aja­tol­lah Chome­i­ni auf die Straße gin­gen,
weit weg der Krieg im Koso­vo,
eben­so weit weg wie die fal­l­en­den Zwill­ingstürme in New York,
alles ist so weit weg, weit, weit weg,
weil du weit weg bist und ich nicht weiß,
ob du wiederkom­men wirst,
weit weg ist alles und unwirk­lich ist es gewor­den,
ja es ist so unwirk­lich gewor­den,
weil du und ich – weil wir uns
vielle­icht niemals lieben wer­den.

 

„Won­nen der Gewöhn­lichkeit“

Im bergen­den Zwielicht eines schwülen Som­mer­abends
höre ich von weit­em schon das sum­mende Sausen
der fer­nges­teuerten Spielzeu­gren­nau­tos: zwei sind’s,
auf dem dun­klen Asphalt des leeren Park­platzes
vorm Super­markt. Erst höre ich das Sum­men,
dann sehe ich die Autos: wie hek­tis­che Insek­ten
rasen sie, mit ihren leuch­t­en­den Spielzeugschein­wer­fern
über den von der abendlichen Dunkel­heit geplät­teten Platz.
Dann sehe ich, hin­ter Müll­con­tain­ern ver­steckt,
die zwei Män­ner, ihre Fern­s­teuerun­gen fest in den Hän­den.
Zwei Män­ner in meinem Alter, nicht dünn, nicht dick,
nicht groß, nicht klein und, soweit ich das sehe, wed­er
beson­ders schön noch hässlich. Bei­de tra­gen Bärte.
Diese Won­nen der Gewöhn­lichkeit … Doch wo sind ihre Frauen?
Wo sind ihre Fre­undin­nen? Sitzen sie unter sich
und sprechen sie über zukün­ftige Kinder, über die Liebe
und der­gle­ichen Dinge, über die, wie man sagt,
Frauen miteinan­der reden? Oder haben diese bei­den
zehn­jähri­gen Burschen, mit Bart, in meinem Alter,
gar keine Frauen, keine Fre­undin­nen?
Sind ihnen die Zumu­tun­gen der weib­lichen Biolo­gie
zu müh­sam, und haben sie sich vielle­icht deshalb
auf dem auto- und men­schen­leeren Park­platz verabre­det,
an einem schwülen Som­mer­abend,
um die Won­nen der Gewöhn­lichkeit auszukosten,
um über die tech­nis­chen Details ihrer neuesten Fern­s­teuerun­gen
und die Raf­fi­nessen ihrer Autos zu reden, bei Bier und Zigaret­ten,
während die Straßen­later­nen ange­hen und ich mich,
vor­beige­hend, frage: Was ich eigentlich ver­ste­he
unter diesen Won­nen der Gewöhn­lichkeit?
Nicht dick, nicht dünn, nicht schön, nicht hässlich,
zwei Män­ner in meinem Alter, zwei Autos, die sum­mend sausen
mit eifrig leuch­t­en­den Schein­wer­fern
über den schwarzen Asphalt des großen Park­platzes
vor einem Super­markt, in ein­er schwülen Som­mer­nacht.

 

„Im 21. Jahrhun­dert“

Die Welt, wie sie lebt, ist allmäh­lich ver­greist.
Straßen und Plätze sind uni­formiert.
Der Men­sch ist gelang­weilt und seel­isch vereist
und glaubt, er hat Sex, da er nur onaniert.

Tag wird zur Nacht und die Nächte zu Tagen;
und elek­trisches Licht ver­schluckt alle Sterne.
Und möchte ein Men­sch ein­mal wirk­lich was wagen,
so muss er erken­nen: Es gibt keine Ferne.

Alles ist nahe, erdrück­end und sta­tisch.
Nichts gibt’s zu ent­deck­en, stets nur zu verbessern.
Und über­all herrschen diesel­ben Geset­ze,

und über­all hört man nur Phrasen und Sätze,
die alles ver­sumpfen und seel­isch ver­wässern.
Der Men­sch lebt. Doch wie? Sehr fad und apathisch.

 

„In diesen Zeit­en, oder: O tem­po­ra, o mores!“

Wie soll man in diesen Tagen
ein Leben führen, das eines agilen Geistes würdig wäre?
Tourist zu sein ist eine Schande;
und wenn man nicht als Diplo­mat oder Agent
durch die Welt reist, ist es hoff­nungs­los,
auch nur irgen­det­was Inter­es­santes zu sehen.
In jedem Kuhkaff diesel­ben Ket­ten, Lokale,
im nördlich­sten Finn­land
diesel­ben Dummheit­en und Phrasen wie
im zehn­ten Wiener Gemein­de­bezirk.
Men­schen, die von Wladi­wos­tok bis Wind­hoek
das­selbe denken, in diesel­ben Geschäfte gehen
und über­all die aufge­het­zten Bürokrat­en,
die, wie in Aus­tralien neulich, eine Mut­ter mit Kind
aus dem Kranken­haus wer­fen,
weil sie im falschen Dis­trikt ins Kranken­haus
gegan­gen ist. Ich kann schon ver­ste­hen,
dass das arme Com­put­er­sys­tem
von diesem Fall über­fordert wor­den wäre.
Wer soll einem jet­zt lei­d­tun?
Die Com­put­er, die über­ar­beit­eten Bürokrat­en,
die Mut­ter, deren Kind auf dem Weg ins kor­rek­te
Kranken­haus gestor­ben ist?
Wie soll man in diesen Tagen – aber das
haben sich wahrschein­lich Pla­ton und
Mil­ton und Lud­wig Feuer­bach auch schon gefragt –
ein des Geistes würdi­ges Leben führen?
Frauen Mitte dreißig wer­den krankhaft ehrgeizig
und sitzen in von Neon­lam­p­en kopfwe­hhell
erleuchteten Büros mit grauen Tep­pich­bö­den
und abge­s­tanden­er Luft, bis 22 Uhr,
weil sie kein Kind haben; und die, die eines haben,
pla­nen die Chi­ne­sis­chkurse
und die notwendi­ge Wochen­ra­tion Rital­in vor,
während andere sich ihren Penis wund­scheuern,
weil sie nicht aufhören kön­nen,
sich Pornos anzuschauen, in der Hoff­nung,
ihre Frau komme nicht dahin­ter,
denn wit­tern tut sie schon was.
Ach von wegen, dass früher alles bess­er war,
das behaupte ich auch gar nicht.
Das ändert aber nichts daran,
dass ich mir ein Leben als Diplo­mat
mit schön geschnit­ten­em Anzug
und teurem englis­chen Hut aus bestem Filz
irgend­wo in Mexiko zu ein­er Zeit,
als die Mäd­chen dort noch nicht wussten,
was Guc­ci und Pra­da sind,
span­nen­der vorstelle –: Und, na klar,
mit ein­er hüb­schen jun­gen Geliebten,
die mir eine drama­tis­che Szene macht,
nach­dem sie erfahren hat,
dass ich sie in meine neueste Kurzgeschichte
einge­baut habe ...
Aber solche Phan­tasien sind eitler Hum­bug.
Die kamen mir nur, weil ich neulich ein Buch
von G. Greene in der Hand gehal­ten,
aus dem Fen­ster geschaut habe und es satt hat­te,
dass es am Son­ntag wieder reg­net,
dass ich kein Geld habe
und schon wieder wegen dieser Pan­demie
Gren­zen geschlossen wer­den und Men­schen
in Düs­sel­dorf in Panik ger­at­en, weil sie
ihre kranke Mut­ter in Pad­ua nicht pfle­gen kön­nen.
So schließt man die Gren­zen, so wie
früher Kaiser und Papst
einan­der wech­sel­seit­ig geban­nt
und aus­geschlossen haben.
Ach Gott, wie öd, es gibt wirk­lich
nichts Neues, nichts Neues
unter der Sonne.

 

„Fen­ster“

Im hohlen Zwis­chen­raum
der zwei Fen­ster
sam­melten sich jeden Som­mer
die Leichen der Fliegen.
Die Fen­ster waren staubig
und das Licht durch sie immer gelb.
Die Fen­ster in dem Zim­mer,
wo wir zum ersten Mal
im sel­ben Bett über­nachteten
und aus dem ich, Jahre später,
den Kopf hin­ausstreck­end
in die eisige Kälte,
die Sterne sah,
als wäre der leuch­t­ende Mond
zer­borsten
in hun­dert­tausend Split­ter.

 

„Epiphanie“

An jen­em heißen Som­mertag
in der men­schen­leeren Stadt
saß ich in meinem Wagen
vor der sinn­los roten Ampel,
vor dem blendend weißen Zebras­treifen,
über mir der blaue Him­mel,
als plöt­zlich sie von rechts
die leere Straße über­querte,
in einem blauen Kleid mit weißen Punk­ten
und ohne Schuhe, ohne Sock­en, nack­ten Füßen,
mit dem dün­nen, roten Garn um die Fes­sel
ihres linken Beins,
als plöt­zlich sie die Straße über­querte,
die roten Schuhe in der Hand,
sie baumelten in ihrer Hand,
als plöt­zlich sie die Straße über­querte,
ohne Blick zu meinem Wagen, wie ver­sunken in
das Weiß des Zebras­treifens,
als plöt­zlich sie die Straße über­querte
und ich wusste, dass ich sie begehre,
und ich wusste, dass ich sie liebe,
als die Ampel schal­tete
und ich durch die men­schen­leere Stadt fuhr,
geblendet von mehr als der Sonne,
die über mir im blauen Him­mel schien,
weiß Gott, wo, ich wusste nur:
dass ich liebe, liebe, liebe ...

 

„Kiiseli“

An einem stillen Nach­mit­tag, im Hochsom­mer,
im hohen Nor­den, als der Pan schlief,
saßen auf der Ter­rasse eines Haus­es aus Holz,
rot, mit weißen Fen­ster­rah­men,
Vater, Mut­ter, Kind und aßen,
still blick­end auf den blendend glitzern­den Fluss,
in hellem Rot leuch­t­ende, noch von Ker­nen,
klitzek­leinen Ker­nen durch­set­zte Beeren­grütze
aus ein­er Schüs­sel aus Glas, rein wie der Fluss,
mit einem weißen Häubchen Schlagob­ers gar­niert,
an einem stillen Nach­mit­tag, im Hochsom­mer,
im hohen Nor­den, als der Pan schlief.

 

„Der Lauf aller Dinge“

I
Der Pas­tor predigt den Kaltherzi­gen,
der Dichter gibt sein Schön­stes,
wirft Perlen vor die Säue.
Wer liebt, ver­sucht zu ret­ten sich sel­ber
und das Geliebte, bis er am Ende
erken­nen muss: Es war alles Haschen nach Wind.
Du ziehst eine Bilanz und wun­der­st dich,
dass du noch leb­st, eine lebendi­ge Leiche
unter unzäh­li­gen lebendi­gen Leichen,
lebendi­ger nur durch das Bewusst­sein,
dass du tot bist,
weil deine Liebe nicht auf Anklang stieß,
weil dein Erbar­men mis­sachtet wurde,
weil deine Erken­nt­nisse durch den Dreck gezo­gen wur­den,
weil man das Licht in dir aus­trat mit Füßen:
Die Glock­en läuten,
der Dichter klappt seine Mappe zu,
das Pub­likum klatscht,
und Liebende gehen zugrunde an gebroch­en­em Herzen.
Finie la comédie, Vorhang!,
und gute Nacht.

II
Die Leben­sze­ichen ander­er nimmt er begierig auf,
atmet sie wie frische Luft,
sodass er die Leben­den erstickt,
sich nährend an ihnen wie ein Par­a­sit.

Der Fehler der Lebendi­geren:
Dass sie Mitleid mit ihm haben
und sich hoff­nungs­froh täuschen lassen
von sein­er nun geblähteren Brust.

Ihr größer­er Fehler:
Dass sie ihn nicht totschla­gen
und vergessen.

Wer gibt, wird immer geben.
Und wer nichts hat, dem wird
das Let­zte, was er hat, genom­men.

 

„Tag­traum“

Das schläfrige Hell­blau des Him­mels
und eine Sonne, die nicht blendet, hin­ter
ein­er dün­nen Schleier­wolke, die sie verdeckt
wie ein fast durch­sichtiges Kleid
den schö­nen Kör­p­er ein­er jun­gen Frau.
Ich däm­mere dahin im Zug, plöt­zlich
mit leichtem Erschreck­en vor der Stille
der Land­schaft, die vorüber­huscht, weil
mich dieses milde Licht erin­nert an gewisse Tage
voller Wol­lust und Wehmut und unverse­hens
füh­le ich, füh­le es zu deut­lich,
dass eine Frau, die ich liebe, mit milder, warmer,
feuchter Zunge, still und hell wie die Sonne über den Hügeln,
mein Glied liebkost und ich seufze,
weil ich es nicht nur füh­le, nein,
weil mir ist, es geschehe in diesem Augen­blick.
Ich schrecke auf – die weni­gen Men­schen im Zug
schweigen, in ihre Tele­fone, in ihre Büch­er ver­tieft.
Kön­nte jed­er Tag so ein stiller Feiertag sein,
die Men­schen wären ruhiger und zufrieden­er,
und auch die Land­schaft scheint vor sich hin zu dösen,
doch ich greife, wieder erwacht, zu mein­er Tasche,
denn bald – schon die näch­ste Sta­tion – muss ich aussteigen.
Ich stelle mich vor die Aus­gangstür,
blicke in den blauen Him­mel, das alles gutheißende Licht,
auf die noch grü­nen Hügel und läch­le: Noch
wölbt sich ein wenig das Glied in der Hose, doch
bald, beim Nach­hausege­hen, werde ich wieder
auf andere Gedanken kom­men ...
Der Zug hält, ich steige aus.

 

„Am Vor­mit­tag“

I
Hin­term rot­gestrich­enen Holz­za­un flim­merte am Vor­mit­tag
um neun Uhr der Fluss wie ein alter Fernse­hbild­schirm. Die Sonne
war den unschlüs­si­gen Gewit­ter­wolken hil­f­los aus­geliefert.
Hell und dunkel, als klappte jemand Jalousien auf und zu,
war das Gras und kein einziger Vogel set­zte sich auf den Zaun.

Sich­er, sagte ich mir, in jugendlichem Über­schwang
magst du dran glauben, dass die Liebe dich erlösen kann,
aber die Men­schen lieben dich nicht, wenn sie dich nicht bewun­dern kön­nen:
damit sie stich­haltigere Gründe haben, dich zu has­sen,
grausame Neugi­er zu bekun­den, oder
sich mit deinen Erfol­gen zu schmück­en.

Wie ein leer­er Bahn­steig war der Zaun leer. Die Abstände
zwis­chen den Hol­zlat­ten trau­rig notwendig wie die Abstände
der Quer­balken von Schienen, so notwendig wie kein Schick­sal
es ist, so monot­on wie jen­seits des Flusses der rauschende Verkehr
von der Straße.

Oder du siehst ein: Die Men­schen beste­hen alle möglichen Prü­fun­gen,
bloß die men­schlichen nicht. Erwarte keine Liebe. Sei nicht kindisch.
Leiste, arbeite. Lei­de ... und wenn du vom Selb­stver­ständ­nis der anderen
genug hast, erin­ner’ dich an deine meta­ph­ysis­chen Träumereien
(ja, das waren noch Zeit­en).

Monot­on eilen Schat­ten­fleck­en über die abschüs­sige
Ufer­wiese, die Wasserblu­men bewe­gen sich nicht vom Fleck,
sind nicht so stechend grün wie das Gras.
Ein­lul­len­der Wind, jet­zt endlich kommt der Fluss in Bewe­gung mit
regelmäßi­gen Schäfchen­wolken­wellen.

Aber schau, man kann nicht auf jeden asozialen Tram­pel Rück­sicht nehmen.
Jugendlich­es, Men­schlich­es hin oder her. Entwed­er du kommst jet­zt mit
oder nicht. Du stra­pazierst schon seit tausend Jahren meine Geduld.

Die Gewit­ter­wolken kön­nen sich nicht entschließen und greifen
unser­er Unschlüs­sigkeit vor. Stechen­des Grün hier und Roggen­breibraun dort,
im Wass­er, von Wolken beschat­tet, unter dem Schlamm.
Und Gedanken, die aus den Ästen der Bäume aus­ge­spon­nen sind
wie der let­zte Faden ein­er todgewei­ht­en Spinne im
Visi­er ein­er diebis­chen Elster.

II
Der Fluss ist blei­glatt und wie ein altes Fließband
schleppt er sich dahin; die Schaum­fleck­en langsam,
kopfhän­gend wie die Grande Armée nach dem Aben­teuer in Moskau.
Trüb ist die Luft, wie Anfang Okto­ber.

Sie tun ihre Pflicht unter der Woche, bleiben
son­ntags lang liegen, schla­gen die Zeit tot, dass sie aus allen Poren blutet.

Reg­los hän­gen herab die Buchen­blät­ter, Tan­nen­nadeln,
wie Klageweiber am Weges­rand.
Zwei Möwen spie­len Fan­gen über der Spiegelfläche des Flusses.
Sie ärg­ern mich, weil sie den Wasser­spiegel
absichtlich nicht mit den Flügeln streifen.

Sein geistiger Hor­i­zont endet am augen­na­hen Hügel
seines Nei­ds, sein­er Miss­gun­st. Alles, was er tut, tut er aus Neid.
Darum das Erlah­men der Kräfte in der Mitte, wo die Schöpferischen
erst so richtig in Fahrt kom­men ...

Kraft­los wälzt sich der Fluss weit­er wie ein Fließband.
Nein, nicht Nebelschwaden ver­schleiern Ufer und Fluss.
Die Wolken sind’s, wie im Okto­ber, wenn die Blät­ter braun und feucht wer­den.
Wenn der Boden wie Erde auszuse­hen begin­nt, wenn Zeit ist für
Sen­ti­men­tal­itäten oder nur andeu­tungsweise ent­blößte Haut
und Küsse, die du niemals mehr vergessen wirst.

Also, ich bitte dich, du sagst, dein Sohn sei faul.
Aber auf der Dien­streise klagst du über die Langeweile im Hotelz­im­mer.
Kommst aber in hun­dert Jahren nicht drauf, ein Buch zu lesen
oder das Zim­mer zu ver­lassen.
Immer sind’s die anderen.

Ein Herz sei ein zu klein­er Hügel, um dran zu ruhen,
las ich neulich. Inmit­ten jenes Sees, den ich mir jet­zt denke,
erhebt sich ein Hügel. Drauf eine Laube mit griechis­chen Säulen.
Das Wet­ter: wie hier am Fluss. Alles blei­glatt.
Ring­sherum Waldesstille, das Knack­en im Unter­holz, wenn Tiere
gäh­nend durch den Nebel schle­ichen.
Dort umfasst die Hand ihren Kör­p­er, spürt durch die drei Schicht­en
Herb­stk­lei­dung die junge, warme Haut.
Die zwei Möwen spie­len auch hier ihr Spiel.
Wenn wir auf dem Ufer ein Auto auf dem sandi­gen Park­platz hören,
lassen wir voneinan­der ab, fahren mit dem Floß zurück.

Der See ist blei­glatt, die Luft ist grau wie Anfang Okto­ber.
Schweig. Ich will nichts hören von deinen Pflicht­en und Dien­streisen.
Lass, Men­sch, mich in diesen Augen­blick­en – sie kehren niemals wieder –
in Ruhe mit deinem grotesken, schrillen Geschwätz.