In einer Zeit, in der in Europa Krieg herrscht und man nicht entscheiden kann, ob Waffenlieferungen gut oder böse sind, in einer Zeit, in der eine Pandemie wütet und man darüber streitet, ob Impfungen wirksam oder gefährlich sind, in einer Zeit, in der man nicht mehr erkennt, ob ein Text von einem Menschen oder von einer Maschine geschrieben wurde, in einer solchen Zeit entsteht eine Stimmung, in der es immer schwieriger wird, sich selbst als real zu empfinden. Der einzige Schutzheilige, an den man sich dann wenden kann, ist Don Quijote. Verlässlich wird er uns mit weisem Rat und starkem Arm bedingungslos zur Seite stehen.
Der Ritter von der traurigen Gestalt ist weltbekannt, doch ist es meist nur sein Bild, das uns geläufig ist, wie zum Beispiel auf dem Heidelberger Maskenumzug, in dem zwei Männer als Don Quijote und Sancho Panza gegangen sind. Es gibt nicht viele literarische Figuren, die man als Faschingsverkleidung wählen könnte: Sherlock Holmes mit Tabakspfeife, Deerstalker-Mütze und Havelock-Mantel, Harry Potter mit runder Brille und blitzförmiger Narbe auf der Stirn kommen in den Sinn, Hamlet wahrscheinlich, wenn man sich schwarz kleidet und einen Totenkopf in die Hand nimmt. Don Quijote erkennt man aber auf jeden Fall. Erstaunlich ist allerdings, dass man schon beim besagten Heidelberger Maskenzug wusste, wen die beiden Verkleideten darstellen wollten. Denn dieser fand 1613 statt, noch zu Lebzeiten von Cervantes, lange vor der ersten deutschen Übersetzung und zwei Jahre vor Erscheinen des zweiten Teils. Und doch waren Don Quijote und Sancho schon damals Figuren, die, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion nach Belieben überschritten. Es war, als hätten sich die beiden Spanier verselbstständigt, als wären sie dem Buch entflohen, kaum dass es mit großem Erfolg erschienen war. Und wenn man es genau nimmt, ist dies ja in der Tat die natürlichste Sache der Welt.
Keinen anderen Helden der Weltliteratur hat man so klar vor Augen wie den hageren Don Quijote, der mit einer Lanze in der Hand auf einem klapprigen Ross begleitet von seinem treuen Knappen Sancho die Weiten des spanischen Hochlands durchzieht. Meist ist es natürlich nicht der tausendseitige Roman, der uns dieses Bild vor Augen führt, sondern eine seiner zahllosen Illustrationen oder Bearbeitungen, sei dies als Kinderbuch, Musical, Graphic Novel oder Zeichentrickserie. Doch das ist schade, denn Don Quijote ist viel mehr als das ewig wiederholte Bild des gegen Windmühlen anreitenden Spaniers, das im Buch in zwei Seiten abgehandelt wird und eine der langweiligsten Episoden ist. Der 1605 von Miguel de Cervantes veröffentlichte Roman (und seine Fortsetzung von 1615) ist ein Meilenstein der Weltliteratur, der in seiner Radikalität und Modernität bis heute seinesgleichen sucht. Im Spanischen Bürgerkrieg erhoben die Republikaner das Buch zur weltlichen Bibel, und nach der Bibel ist Don Quijote tatsächlich das verbreitetste und meistübersetzte Buch der Welt. 2002 wählten es hundert Autoren und Autorinnen in einer Umfrage des Nobelpreisinstituts zum besten Roman aller Zeiten, und der amerikanische Literaturkritiker Lionel Trilling behauptete 1950, dass jede Fiktion nur eine Variation des Themas des Don Quijote sei.
Dieses Thema ist die Diskrepanz zwischen der Weltanschauung, die man in sich trägt, und der äußeren Welt. Durch das Lesen von zu vielen Ritterromanen wurde der gutmütige, ältere Landadelige Alonso Quijano so verrückt, dass er den Plan fasste, unter dem Namen Don Quijote als fahrender Ritter durch die Lande zu ziehen, um gegen das Böse zu kämpfen. Da es im Spanien des beginnenden 17. Jahrhunderts genauso wenig fahrende Ritter gab wie heutzutage, war das Unterfangen komplett absurd. Für Milan Kundera beginnt die Moderne deshalb in jenem Moment, in dem Don Quijote sein Haus verlässt und bemerkt, dass die Welt da draußen ganz anders ist, als er sie erwartet hatte. Die Innen- und die Außenwelt zusammenzubringen, ist unser Kampf, der Kampf der Moderne. Eine einzige Wahrheit erklärt unsere mannigfaltige Welt nicht mehr, verzweifelt müssen wir versuchen, immer wieder neue Deutungen für die oft unerklärlichen Phänomene unseres Alltags zu finden. Oder aber man belässt es bei seiner einmal vorgefassten Weltanschauung und gleicht die Außenwelt mit aller Gewalt der inneren an. Man wird den Verdacht nicht los, dass das gerade in der Politik oft genug passiert. Windmühlen werden für Riesen gehalten und allen Warnungen zum Trotz reitet man dagegen an, bis man zerschellt. Nur dass Don Quijotes Weltsicht eine weitaus feinere und noblere ist als die seiner derben Umwelt. Er glaubt an das Gute im Menschen und ist gewillt, gegen Ungerechtigkeit und Habgier zu kämpfen, auch wenn er dafür Prügel einstecken muss. Aus diesem Grund wurde er von den deutschen Romantikern als Humanist und Idealist gedeutet, der uns Menschen als Vorbild dienen sollte.
Ich habe Don Quijote bislang vier Mal gelesen: einmal in der Übersetzung von Ludwig Tieck, dann in der Version von Ludwig Braunfels und schließlich in der neuesten Übertragung von Susanne Lange. Danach fühlte ich mich bereit, das Monument auch auf Spanisch zu bezwingen. Bei all diesen Lektüren war es nicht der Humanismus Don Quijotes, der mich am meisten beeindruckte, sondern sein unerschütterlicher Glaube an die Literatur, an die Sprache im Allgemeinen. Bevor er zum Ritter wurde, war er vor allem Leser, und als Leser ist die Welt für ihn eine Welt der Worte. Der Roman ist ein tausendseitiger Versuch, die Welt zu benennen und sie durch das Benennen mit Sinn zu erfüllen. Er glaubt so sehr an die Kraft des Wortes, dass er sich, nahezu wie Gott, aus dem Wort heraus selbst schafft: Er nennt sich Don Quijote und wird zu Don Quijote. Er nennt seinen alten Gaul Rocinante und dieser wird zu seinem ritterlichen Schlachtross. Er nennt die Herrin seines Herzens Dulcinea und schon ist er verliebt. Bei Dulcinea ist sein Glaube an die Macht des Wortes am offensichtlichsten, denn sie ist ausschließlich Name. Die reale Person dahinter ist Aldonza Lorenzo, eine grobschlächtige Bäuerin aus Don Quijotes Nachbardorf Toboso, die er nur ein paarmal aus der Ferne gesehen hat. Dadurch, dass Don Quijote sie nun aber Dulcinea von Toboso nennt und sich entschließt, sie bis zum Wahnsinn zu lieben, wird sie zur schönsten Frau der Welt, zur „Herrin des Universums“. Als Sancho ihm sagt, dass er Aldonza Lorenzo kennt und dass diese alles andere als schön ist, gibt Don Quijote zu, dass es ihm genug ist, „zu denken und zu glauben, dass die gute Aldonza Lorenzo schön und sittsam ist“.1 Egal, wie sie auf andere wirkt, in seinem Geist sieht er sie hold und fürstlich – und das reicht ihm. (Das ist natürlich etwas extrem, gilt aber im Grunde für jede Liebe als Passion, nicht wahr?). Don Quijote besteht nicht einmal darauf, dass auch andere Dulcinea so idealisiert sehen und verweist als Beispiel auf seinen Helm: „Was für dich also ein Scherbecken ist, das ist für mich der Helm des Mambrin und für jemand anderen ganz etwas anderes.“ Don Quijote lässt hier relativ entspannt mehrere Möglichkeiten der Wirklichkeitsauffassung gelten, akzeptiert die Weltsicht seines Gegenübers, sodass auch wir Lesenden angehalten werden, verschiedene Wahrheiten nebeneinander existieren zu lassen, da durchaus alle recht behalten können.
Obwohl Dulcinea von Toboso nur eine Erfindung von Don Quijote ist, also die Fiktion einer fiktiven Figur, hat sie bis heute reale Auswirkungen auf den kleinen Ort in der Mancha, in dem es ein Dulcinea-Museum gibt und der wegen ihr von den französischen Truppen während der Napoleonischen Kriege vor der Verwüstung verschont worden ist. Die Figuren aus Don Quijote haben offensichtlich die Tendenz sich zu verselbstständigen, den Raum der Fiktion zu verlassen. Mitverantwortlich dafür ist, dass der Roman sehr schnell den Weg vom Wort zum Bild gefunden hat und selbst die frühen Don Quijote-Ausgaben bereits illustriert erschienen sind. Das Bild des Ritters von der traurigen Gestalt, das wir vor Augen haben, hat allerdings nichts mit dem hochkomplexen Charakter zu tun, den wir im Lauf der beiden Bände kennenlernen und der mit allen Widersprüchlichkeiten eines Individuums gesegnet ist. Das weitverbreitete Bild des Ritters erinnert eher an die simplifizierte Figur in der apokryphen Fortsetzung des Romans von einem gewissen Avellaneda.
Im Jahr 1613 erschien unter dem Pseudonym Alonso de Avellaneda eine sehr erfolgreiche Fortsetzung des Don Quijote, die sich allerdings nicht auf die psychologischen oder literarischen Feinheiten des Originals einließ, sondern in groben Zügen die derben Schwänke eines irrsinnig gewordenen Landedelmannes und seines tölpelhaften Schildknappen erzählt. Dies erzürnte Cervantes so sehr, dass er sich beeilte, seinen eigenen zweiten Teil zu vollenden. In diesem erkennen Don Quijote und Sancho Panza sehr bald, dass sie berühmt geworden sind, weil ein erfolgreiches und beliebtes Buch über sie geschrieben worden ist. Sie werden immer wieder als die Figuren des ersten Teils erkannt, aber auch öfter mit den Protagonisten des nicht von Cervantes stammenden zweiten Teils verwechselt, was Don Quijote so empört, dass er notariell beglaubigen lässt, nichts mit dem Ritter aus Avellanedas Buch zu tun zu haben.
Das ist eine der literarisch gewitztesten Szenen des Romans: eine fiktive Figur, die weiß, dass sie zum fiktiven Protagonisten eines Romans geworden ist, sich allerdings verbietet, in einem weniger fein gedrechselten Buch vorzukommen. Für Jorge Luis Borges ist diese Episode zutiefst beunruhigend: Wenn nämlich die Figur einer Fiktion auch Leser dieser Fiktion sein kann, dann liegt die Vermutung nahe, dass auch wir, als Leser, fiktiv sein können. Da ist es wieder, das eingangs erwähnte Gefühl, sich nicht mehr als real zu empfinden. Bei der Lektüre des Don Quijote hatte ich dieses Gefühl schon ziemlich am Anfang, im sechsten Kapitel des ersten Teils. Don Quijote ist bekanntlich verrückt geworden, weil er zu viele Ritterromane gelesen hat. Der Pfarrer und der Barbier des Dorfes treffen sich daraufhin in seiner Bibliothek, um Band für Band durchzugehen und zu entscheiden, welche Bücher es verdient haben, verbrannt zu werden, und welche man bedenkenlos behalten kann.
Bei der Inspektion der Bibliothek werden 29 Bücher erwähnt, 13 wandern ins Feuer, 13 werden freigesprochen und bei drei verlegt man sich darauf, später zu urteilen. Eines dieser aufgeschobenen Bücher ist La Galatea, der erste Roman von Miguel de Cervantes, einem engen Freund des Barbiers, wie dieser behauptet. Das Auftauchen des Namens des Autors des Romans, den wir gerade lesen, löst bei uns Lesenden einen subtilen Schauer aus, denn durch diese nicht ganz unschuldige Erwähnung hört der Autor auf, ein Autor zu sein, und wird zu einer Figur. Bei dieser Episode wartete ich jedoch gespannt darauf, ob Cervantes dem Ganzen die Krone aufsetzte und Barbier und Pfarrer nun als nächstes Buch Don Quijote herausziehen würden, das Buch, das ich gerade las. Cervantes verzichtet an dieser Stelle an den wohligen Schauer der Unendlichkeit, denn das Buch im Buch ist natürlich genauso unendlich wie der Spiegel im Spiegel oder das Bild im Bild.
Und erst jetzt erkenne ich, dass ich in meinem zweiten Roman Jokerman den Protagonisten mit dem Namen Stefan Kutzenberger relativ genau in der Mitte über ein Manuskript stolpern lasse, welches dem des Buchs entspricht, das man gerade liest. Kann es tatsächlich sein, dass diese Szene auf meine Don Quijote-Lektüre zurückzuführen ist? Jedenfalls habe ich damals beim Schreiben nicht bewusst an den Pfarrer und den Barbier in der Bibliothek gedacht, die für den Wahnsinn Don Quijotes verantwortlich waren. Dieser drückt sich natürlich nicht darin aus, dass er sich als Ritter sieht, sondern darin, dass er sich seiner Fiktionalität bewusst wird. In dem Moment, in dem sich Cervantes in die Romanhandlung einschreibt, ändert sich seine Position zum Text und damit auch unser Verhältnis zur Erzählung, was die von Borges erwähnte Angst, selbst fiktiv zu sein, auslösen könnte. Selbst spürte ich beim Lesen der Bibliotheksszene nicht Angst, sondern nur das diebische Vergnügen des Autors, sich nun selbst als Romanfigur zur Verfügung zu haben und dadurch eine Vielzahl neuer Erzählmöglichkeiten.
Diese wohlige Lust an der Literatur kitzelte mich noch viel stärker, als ich viele Jahre später bei meinem ersten Roman auf die Idee kam, mich selbst als Protagonist ins Geschehen einzuschreiben. Es war mir anfangs noch nicht ganz klar, was ich damit anfangen sollte, und vielleicht wusste es auch Cervantes nicht, sicher aber war, dass das Buch dadurch gewinnen würde. Bei der Inquisition der Bücher in Don Quijotes Bibliothek ist auf jeden Fall auffällig, dass der Barbier den Roman seines Freundes Cervantes nicht rettet, sondern meint, dass man abwarten müsse, bis der zweite Teil der Galatea erschienen ist, erst dann könne man über das Buch richten. Diesen zweiten Teil kündigt Cervantes im Vorwort des Don Quijote auch geschäftstüchtig an, starb aber, bevor er ihn schreiben konnte.
Die Bücherverbrennung in diesem berühmten sechsten Kapitel des Don Quijote geht also unentschieden aus, es werden gleichviel Bände dem Feuer übergeben wie gerettet. Genauso verhält es sich auch mit den Kämpfen im Buch: Don Quijote gewinnt zwanzig und verliert zwanzig. Diese Ausgeglichenheit zieht sich durch den ganzen Roman und ist dem unglaublichen erzählerischen Instinkt von Cervantes zu verdanken, denn es ist kaum anzunehmen, dass er buchhalterisch mitgezählt hat. Der Roman ist nämlich insgesamt so schlampig geschrieben, dass der bürgerliche Name von Don Quijote zwischen Quijano, Quijada, Quesada und Quejana schwankt, die Frau von Sancho Panza mal Juana, mal Teresa heißt und er sogar einen gestohlenen Esel plötzlich unkommentiert wieder auftauchen lässt.
Die Balance des Texts passt aber bis ins kleinste Detail, angeblich kommen die Namen Don Quijote und Sancho Panza je 2143 mal vor, was schon an Magie grenzt. Aber so funktioniert Literatur, sie hat nun einmal ein Eigenleben und strebt nach Ausgleich. Und diesen Ausgleich zwischen den divergierenden Meinungen unserer Gesellschaft, zwischen unserer chaotischen Innenwelt und der noch viel chaotischeren Außenwelt, zwischen der zu Fiktion werdenden Realität und der zu Realität werdenden Fiktion, all diese Annäherungen können wir erzielen, indem wir Don Quijote lesen, der wie kein anderer zu seinen Überzeugungen steht und dennoch bereit ist, andere Weltsichten zu akzeptieren, der so leichtfüßig zwischen Realität und Fiktion hin und her wirbelt, dass wir den Unterschied nicht mehr erkennen können, und der uns dabei lehrt, dass wir unsere Welt mit Worten bauen und dass ein einziges Wort genügen kann, um sie zu einer besseren Welt zu machen.