Bis der Bach gegen den Strom schwimmt

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Bewe­gung als Motiv und Meta­pher. Ein Movens, das seinen Aus­gang nimmt in einem Realen: einem Schu­laus­flug mit Volkss­chulkindern, einem ungeliebten, aber bess­er, als auf dem Ses­sel hock­en. Kein Gipfel wird gestürmt, mit­tlere Höhen sollen für alle bewältig­bar sein und da ist es, das stun­den­lange Gehen auf Forststraßen. Keine Fern­sicht, kein Aus­blick, bloß Durch­hal­ten, weit­er Marschieren.

Aus dem Zweierge­spräch öffnet sich der Fluss ein­er Erzäh­lung, zieht die anderen mit sich, leckt an ihren Beinen, schiebt sie her­an und weit­er. In der Geschichte öffnet sich erst der Weg, lässt die müden Beine vergessen. Viele wollen Schritt hal­ten, um kein Wort zu ver­passen. In Wellen geht es vor und zurück, nicht am steini­gen Weg, son­dern in der Wortewelt. Noch eine wollen sie und noch eine. Und da ist sie, die Lust am Erzählen, sie weit­er gehen machen. Sie die Müdigkeit vergessen lassen. Sie ent­führen. Woan­ders hin, mit Aus­blick, den der öde Weg nicht bot.

Ein­mal daran geleckt, wird es eine Sucht. Aber dieses unver­stellte, kindliche Erzählen, das da war schon vor der Schrift, es wurde ver­baut von der Schule. Von Ord­nun­gen, wie es zu sein habe. Mit Zier­rand und einem „und dann und dann“. Nichts durcheinan­der­brin­gen, nicht ausufern, kein Strö­men und Flock­en, kein Dampfen und Nebeln, keine Kaskaden, keine Sprünge. Chronolo­gie. Der tick­ende Zeiger der Uhr. Alles in Por­tio­nen ver­packt, vorgekaut herunter wür­gen, die Essen­szeit­en ein­hal­ten. Kein lustvolles von Stein zu Stein Hopsen über den Fluss. Ja, der Gefahr hinein zu plumpsen gewahr, aber was kön­nte Schlim­meres passieren als nasse Füße? Das Exper­i­ment gründlich abgewöh­nt. Wis­senswieder­gabe. Aufträge erfüllen, auch im Text. Ver­ständlichkeit, Kürze, allen­falls noch Pointiertheit.

Wie leicht ist es, wenn klar ist, wohin die Reise geht. Flussab­wärts natür­lich, immer dem Meer zu. Aber wo ver­laufen sie, die Wasser­schei­den des Aus­drucks? Da oder dort? Ein Wag­nis einge­hen. Die Reg­ulierung muss erst rück­ge­baut wer­den, bevor der Bach gegen den Strom schwimmt.

Gedächt­nis ist Auswahl. Aber irgen­det­was in ihm ver­weigerte sich der Pri­or­itätenset­zung. Es war ein Fun­dus, in dem er jed­erzeit kra­men, ein­mal diese Bund­fal­tenhose, ein­mal jenen Stro­hhut anpro­bieren und wieder weg leg­en kon­nte. Ob Hose und Hut passten, war nicht die Frage. Es war ein Spiel, eine Möglichkeit. Es war Mate­r­i­al, aber es war nicht bloß Füll­stoff, es war ihm lieb und lebendig. Bilder und Gesichter und Melo­di­en und der Geruch von Moos.

Das waren glück­liche Momente, die ihm als Erwach­sen­em abhan­den gekom­men waren. Er hat­te eine andere Rich­tung eingeschla­gen und über die Jahre vergessen, was da gewe­sen war: Das Glück des Erzäh­lens. Der pure Moment des Sich-Ergötzens daran, dass er nicht wusste, wie es weit­er geht, es aber schon in weni­gen Augen­blick­en wis­sen würde, wenn er sich der Geschichte nur hingab. Es war leicht. Es war ein Kinder­spiel.

Nach dem Erzählen kam das Vor­lesen und machte ihm den Platz stre­it­ig. An allen Aben­den um dieselbe Zeit, schon im Bett, aber bere­it, um jede Minute zu kämpfen. Es war der Groß­vater, er war der Hüter des geschriebe­nen Wortes. Der Geruch der grü­nen Ein­bände, er durfte sie noch nicht selb­st anfassen. Immer ein Kapi­tel. Nie wäre es ihm einge­fall­en, dabei einzuschlafen. Es waren keine Ein­schlafgeschicht­en, es waren Aufwachgeschicht­en. Auch nicht für Kinder geschrieben, schon gar nicht für einen Fün­fjähri­gen. Er ver­stand nicht alles und der Groß­vater erk­lärte nichts. Er las vor.

Die Stimme des Groß­vaters erschuf Wel­ten, die alles über­trafen, was er kan­nte. Bären kamen darin vor und mutige Män­ner und feige. Er kon­nte sich nicht erin­nern, dass Frauen darin vor kamen. Doch, eine, aber das war später. Die Geschicht­en zogen sich über Wochen und Monate, denn es gab viele Bände, die in gold­en­er Schnörkelschrift am Buchrück­en durch­num­meriert waren. Da er schon zählen kon­nte, fiel ihm auf, dass sie ihm der Groß­vater nicht der Rei­he nach vor­las. So kehrten Per­so­n­en wieder, nach­dem sie ver­stor­ben waren, tren­nten sich und lern­ten einan­der danach ken­nen, quick­lebendig als Tote, Zeit und Raum außer Kraft geset­zt, so mächtig waren diese Geschicht­en.

Das Kind war froh, auch, wenn jemand starb. Nie kon­nte es sich­er sein, ob nicht ein­er, obwohl bere­its skalpiert und am Marterp­fahl, nicht wieder in der näch­sten Schlucht um die Ecke ritt. Sehr weit kam das Kind so, in Ver­gan­gen­heit­en und Zukün­fte und steck­te doch nur mit seinem Groß­vater unter ein­er Decke. Es wollte ihn nicht gehen, die Geschicht­en nicht enden lassen. Band ihn fest mit dem Gür­tel seines Schlafrocks an seinem Handge­lenk. Und jeden Mor­gen erwachte es über­rascht, wie es der Groß­vater wieder geschafft hat­te, den Zauber­knoten zu lösen und zu entkom­men.

Begierig war es also, das Kind, selb­st lesen zu ler­nen und ent­täuscht über die Geschicht­en, die ihm ange­boten wur­den. Mama geht ins Haus. Mimi hil­ft Mama. Oma kauft Erb­sen. Was war das gegen die Weit­en des Lesens, die er bere­its ken­nen gel­ernt hat­te? Dem Kind wurde das Skalpieren abgewöh­nt. Aber es kon­nte sich erin­nern. Es hat­te an der wilden Kraft der Sprache geleckt, an ihren Wiedergängern, an dem Strudel aus Vorher und Nach­her, in dessen Auge sich alle tre­f­fen. Es hat­te gehört, was möglich war.

Und da war auch eine Angst, denn was war, wenn alles keine Rei­hen­folge hat­te und keine Ord­nung? Es war ein mächtiger Zauber, zu mächtig für ein Kind. Und es ver­gaß.

Zauber

Bewe­gung als Voraus­set­zung für das Schreiben. Freie Bewe­gung. Rich­tungslose, nicht ziel­gerichtete. Mehr ein­er Ahnung fol­gend, ein­er Neugi­er, ein­er Frage, einem Nicht-Wis­sen. Non­sens. In eine Lacke sprin­gen. Sich nass machen. Nunc stans. Das reine Hier und Jet­zt. Ein Risiko einge­hen. Eine Ver­let­zung. Eine Ent­täuschung. Ein Ver­rat. Eine Über­raschung. Ein Geheim­nis. Eine Mauer. Ein Hin­der­nis.

Dage­gen anschreiben, anren­nen. Sich das Knie anschla­gen. Ste­hen bleiben. Ver­schnaufen. Sich das Prob­lem bese­hen. Es umkreisen, belauern, beschnüf­feln, beleck­en. Weg laufen, Angst haben. Wieder kehren. Weit­er machen. Ste­hen bleiben. Nunc stans. Bloße, im Jet­zt ver­har­rende Gegen­wart. Nicht als mor­ti­fizierende Ein­frierung gedacht, son­dern als Öff­nung auf alle ver­gan­genen und zukün­fti­gen Zeit­en hin. Als Augen­blick der Ewigkeit, in dem der Sprung aus einem lin­ear-homo­ge­nen Zeit­fluss möglich wäre. Die müh­same, sukzes­sive Ord­nung des Vorher und Nach­her in der Erzäh­lung gebor­gen in ein­er Öff­nung kom­plex­er Sin­n­fülle.

Kreisen

Arthur’s Seat ist ein Vulkankegel. Ein som­mer­sprossiger Berg mit schüt­terem, grünem Haar, kurz rasiert von den Ost­winden, die von der See her­sprin­gen. Gut­mütig, wie er ist, hat er die Stadt nicht abgeschüt­telt. Wir unter­schätzen ihn gern, und bemerken erst vornüberge­beugt in dem roten Geröll sein­er Flanken, wie steil er ist.

Aus­sicht gewährt er, mehr doch fängt den Blick der junge Asi­ate, der mit geschlosse­nen Augen über der Stadt medi­tiert. Regen­schwaden ziehen graue Vorhänge über die Vier­tel und die, die ger­ade noch im Gänse­marsch zum Gipfel­sturm sich ein­rei­ht­en, stieben auseinan­der und suchen den schnell­sten Weg hinab. Viele Rin­nen hat das Wass­er gewählt und wir hopsen eine davon ent­lang, plöt­zlich fröh­lich, da es sich­er ist, dass wir nicht trock­en bleiben.

Auf ein­mal führt der Weg wieder bergan, über­raschend nach ein­er Biegung hin­auf. Und die Ver­wun­derung weicht dem Bild von „Gödel, Esch­er, Bach“, einem Berg-Para­dox­on, dessen Wege auf unmögliche Weise sich ins Unendliche verzweigen. Und mit einem Schritt ist es ver­lock­end sich vorzustellen, für immer an diesem Berg gefan­gen zu sein, ihn zu umrun­den wie einen Stu­pa. Sich nieder­w­er­fend und wieder­auf­ste­hend, kreisend, im Uhrzeigersinn oder auch ander­srum. Für alle Ewigkeit gehend, schreibend, gehend, schreibend.