Verschärfungen

Von

1.

Es heißt, die Welt bren­nt. Nicht nur unter Fin­gernägeln zeit­genös­sis­ch­er Autorin­nen und Autoren. Sie bren­nt vielerorts tat­säch­lich. Es begin­nt an Rän­dern. Bren­nt rein bis in die Mitte. Es bren­nt glob­al. Sie wer­den überdeckt, ver­tuscht, kurz gelöscht, flam­men erneut auf. Die Brand­herde ein­er Welt, die nicht friedlich ist, es nie war. Es heißt auch, diese brandbeschle­u­nigte Welt ist ges­pal­ten. Nicht nur in Mei­n­un­gen. Es geht ums Über­leben. Um Reich­tum und Machte­in­fluss. Um Priv­i­legien und Ras­sis­mus. Um Frei­heit und Aus­gren­zung. Mobil­ität und Migra­tion. Nation­al­is­mus und Ego­manie. Radikalisierung und Krieg. Es geht also, wieder ein­mal, um Vieles. Viel zu Vieles. Bald alles. Und das macht die Sache unumgänglich und auf eine Weise unerträglich für die Lit­er­atur, in der doch die Sprache bren­nen sollte, über Seit­en und Ober­flächen der Texte hin­aus, hof­fentlich, und über Spal­tun­gen hin­weg. Das wäre das erste Anliegen. Eine Lit­er­atur, die sich der Gegen­wart zuwen­det. In bren­nen­der Dringlichkeit.

2.

Es heißt weit­ers, die Lage spitzt sich zu. Krisen und Katas­tro­phen zeigen sich in ver­schärfter Form. Dieser Plan­et, so hört man’s, so sagt man’s, ste­ht auf Messers Schnei­de. Im Ökol­o­gis­chen. Im Geopoli­tis­chen. Im sozialen Frieden. Wir haben einen Begriff dafür, wenn’s so sehr bren­nt, dass man han­deln muss, weil eine Sache unauf­schieb­bar ihre schmer­zliche Schärfe offen­bart. Wir nen­nen diese Lage der Welt eine akute. Im tat­säch­lichen Wortsinn. Die Ver­schär­fun­gen der Welt­lage betr­e­f­fen uns alle, ich frage mich, was ist zu tun? Was ist, aus Sicht ein­er Gegen­wart­slit­er­atur zu erwidern? Was hil­ft? Wie sich angesichts dieses Akuten in der Welt lit­er­arisch posi­tion­ieren?

3.

Was es braucht, zum Beispiel (es ist nichts Neues, aber es ist wichtig, zu wieder­holen), sind wache Gesellschaften. Einen ver­schärften Fokus auf die Zusam­men­hänge. Wahrnehmungen, die über Gren­zen hin­aus­ge­hen. Glob­ales Han­deln. Und eine Sprache, die durch­dringt. Wer hört denn noch zu? Was wird noch ver­standen? Wem wird ein Podi­um gegeben? Und welche Posi­tio­nen wer­den auf diesen Podi­en gegen­wär­tig wieder und wieder neu vertreten? Reden wir also von Posi­tion­ierun­gen ein­er Lit­er­atur der Gegen­wart, so braucht es angesichts der zunehmenden Ver­schär­fun­gen dringliche Gegen­po­si­tio­nen. Alter­na­tive Stand­punk­te. Hal­tun­gen des Wider­stands. Und also auch Sprache des Wider­ständi­gen.

4.

Ich suche. Aus akutem Anlass. Ich suche, zum Beispiel (es ist nur ein Beispiel, aber irgend­wo muss man begin­nen), nach For­men sprach­lich­er Klarheit und Schärfe. Ver­bale Klin­gen, die den eigen­nützi­gen und macht­gieri­gen Scharf­macherin­nen und Scharf­mach­ern mein­er Zeit Paroli bieten. Ich spitze mir die Gegen­worte zu. Ritze mir Sätze der Oppo­si­tion zurecht. Arbeite an einem Skalpell, ja, ein Sprach­skalpell muss es sein! Eines, das die Ein­schnitte und Ver­w­er­fun­gen ein­er Gesellschaft an der Kippe sicht­bar macht, das die Naht­stellen im Sozialen aufzeigt, ihre Zer­ris­senheit offen­legt, das die Lügenge­flechte durchtren­nt, jene der Reden voll Hass, voll Gier und voll Neid, und dem fanatisch Über­spitzten die prekären Schlag­seit­en nimmt. Dieses Sehn­suchtsskalpell ein­er anderen Sprache legt Schicht für Schicht den Unter­grund jen­er Sprecherin­nen und Sprech­er frei, ihren Hass, ihre Gier, ihren Neid, ihre Sprache selb­st: his­torische Tex­turen. Denn kein Hier und Heute ohne Geschichte. Von wo kommt’s denn, das Gesagte? Wer spricht hier wem hin­ter­her? Was ver­birgt sich zwis­chen den Zeilen des brav Aufge­sagten, Nachge­sagten? Welch­er Grund wird der Sprache untergeschoben, vorgeschoben, was grundiert im Eigentlichen diese akut reak­tionäre Sprach­land­schaft? Und was hallt uns so bedrohlich per­fide wieder und wieder neu aus der Ver­gan­gen­heit ent­ge­gen? Kein Jet­zt ohne per­ma­nente Kri­tik am Gestern.

5.

Das war doch alles schon mal da. Damit hat­ten wir doch alle schon mal zu tun. Haben wir daraus nichts gel­ernt? Oder ist diese akut bren­nende Fratze mein­er Gegen­wart mehr als nur ein neues Gesicht des überkomme­nen Alten? Kehren die Dinge wieder, oder waren sie nie weg? Die Schicht­en, auf denen ich ste­he, die mich und meine Welt grundieren, und aus denen ich mit Messern und Skalpellen verzweifelt ver­suche, so etwas wie Geschichte abzule­sen, sollte ich sie nicht vol­lends zertrüm­mern? Es ist doch nichts mehr zu machen damit. Was helfen Jahrzehnte kri­tis­ch­er Aufar­beitung, wenn das tat­säch­liche Han­deln unverän­dert bleibt? Ich schreibe gegen Mauern an. Man hat sie erbaut, nicht weil man’s nicht bess­er wüsste, son­dern aus selb­st­süchtiger Überzeu­gung, dass es das Beste sei für die eigene Posi­tion.

6.

Ich suche weit­er. Nach Sätzen, die tiefer gehen. Die weit­ere Schicht­en frei­le­gen. Die den Furchen fol­gen. Den Wöl­bun­gen im Geschichts­bo­den. Die Auf­brüche ersehnen. Die unter lär­mend dumme Ober­flächen drin­gen, jene ver­flacht­en Aus­sagen der glänzend auf­polierten Reden der glänzend auf­polierten Red­ner­in­nen und Red­ner, die im Hier und Heute das Sagen haben, jeden­falls jenes Sagen, das Macht ausübt. Ihnen wurde trotz ihres dumm ober­fläch­lich Gesagten, oder gar auf­grund dessen, weil Ober­flächen so schon dumm glänzen, mehrheitlich die Stimme gegeben. Vielerorts. Und immer wieder. Ihnen wird vielerorts und immer wieder neu die gesellschaftliche Ver­ant­wor­tung über­tra­gen, zuge­traut, zugeschrieben. Und nichts anderes ist es, eine poli­tis­che Zuschrei­bung, die wir alle mit­tra­gen, an jedem neuen Tag. So ist jede Wahl auch Akt der Sprache: Demokratie ver­lei­ht Stim­mge­walt durch Stim­mge­bung. Das sollte uns Mut machen. Das sollte uns auf­fordern. Eine ver­schärfte Stim­mung im Land braucht also, nochmals anders for­muliert, entsch­iedene und scharfe und sicher­lich entschär­fende Gegen­stim­men.

7.

So weit, so gut, so schön for­muliert. Die Sache hat nur einen Hak­en: Mag ich auch in meinem beschei­de­nen lit­er­arischen Tun dieses Dage­gen pos­tulieren, wen schert’s tat­säch­lich im Poli­tis­chen? Von Lit­er­atur ist im Poli­tis­chen ja kaum mehr die Rede. Auch ist im Lit­er­arischen oft wenig vom Poli­tis­chen die Rede. Es ver­wun­dert also wenig, dass kaum jemand auf die Lit­er­atur wartet, hin­sichtlich der Bewäl­ti­gung dieses Hier und Heute. Wer fragt denn schon die zeit­genös­sis­chen Autorin­nen und Autoren, wie es um diese Gegen­wart bestellt ist? Wer lädt die lit­er­arischen Zeitgenossin­nen und Zeitgenossen in die Par­la­mente und Regierungs­ge­bäude ein, um diese Welt auf Messers Schnei­de neu zu bes­tim­men? Dabei wär’s doch, wenn wir von demokratis­ch­er Stim­mge­bung und von demokratiefeindlichen Stim­mge­wal­ten reden, nahe­liegend, die Gesellschaftsver­ant­wor­tung auch und ger­ade bei Autorin­nen und Autoren zu suchen. Sie von ihnen auch einzu­fordern. Diese selb­st von uns zu fordern. Oder fordern wir zu wenig? Erwarte ich selb­st nur das, was so viele erwarten: dass ich näm­lich mit meinem Schreiben, wie’s heißt, wenig­stens über die Run­den kom­men möchte? Dass ich schon zufrieden bin, wenn es mir halb­wegs gut geht? Dass es doch schön ist, wenn man zumin­d­est was ver­di­ent? Ist das die let­ztliche Basis meines Schreibens, dieses Halb­wegs? Demütig nicke ich mit dem Kopf, wenn meine Texte mal da, mal dort ein Gehör find­en, mal da, mal dort einen Abdruck hin­ter­lassen, auf Podi­en, in Zeitschriften, aber Hand aufs lit­er­arische Herz: Wer liest denn im Poli­tis­chen die Zeitschriften der Lit­er­atur? Welche Poli­tik verir­rt sich denn ins The­ater, in Lesungs­for­mate, Per­for­mances, Räume zeit­genös­sis­ch­er Kun­st? Ja, ok, ein Verir­ren wird da und dort fest­gestellt sein, aber lässt sich dadurch bere­its von Rel­e­vanz der Lit­er­atur für die Gegen­wart sprechen? Ist die lit­er­arische Posi­tion im Hier und Heute nicht immer eine selb­stver­liebte und verblendet erschöpfte?

8.

Natür­lich ist sie das. Jede Posi­tion­ierung ein Rin­gen um Boden unter den Füßen. Beson­ders wenn Angst die eigene Exis­tenz umlauert. Und darin ist sie gut, diese Gegen­wart­spoli­tik, in der Beschwörung des Ängstlichen in den Stim­men. Mut also, sage ich mir selb­st. Und traue diesem Mut nur tageweise über den Weg. Ich zögere meist, werde fahrig im Schreiben, het­ze von Pro­jekt zu Pro­jekt, hoffe auf Aufträge, Ver­anstal­tun­gen, bemühe mich um Halt, anstatt um Hal­tung. Beg­nüge mich mit Fra­gen des Erfol­gs und des Scheit­erns im lit­er­arischen Betrieb, anstatt mit jenen des tat­säch­lich sys­temisch Rel­e­van­ten. Darin ste­ht das Sys­tem Lit­er­atur den anderen For­men neolib­eraler Betrieb­samkeit um nichts nach: Wir kreisen um uns selb­st, aus Angst zu Ver­schwinden. Konkur­renz und Pro­duk­tions­druck wiegen schw­er­er als die Notwendigkeit gesellschaftlich­er Mit­gestal­tung und Teil­habe. Auch wenn ich mich dieser bedrohlichen Tat­sache ver­suche zu entziehen, das kap­i­tale Rin­gen ums Kap­i­tal frisst, an viel zu vie­len Tagen, alles auf an Utopie.

9.

Doch umso mehr. Doch umso dringlich­er: Wenn Lit­er­atur, wenn Kun­st etwas zur Weltbes­tim­mung beitra­gen will, dann muss sie sich beständig auf die Füße stellen. Unnachgiebig. Ren­i­tent. Auf aufgeschla­gene Fersen. Wunde Zehen­spitzen. Auf Häuser, Däch­er, Felsvor­sprünge. Oder was auch son­st für Aus­blick sorgt. Ich bin nicht groß. Beileibe nicht. Aber den­noch hier, wieder und wieder neu, ein Ver­such, aufzuste­hen. Jede Posi­tion­ierung, die zu ein­er Hal­tung find­en möchte, ein Auf­s­tand. Ja, man kön­nte aufgeben. Sich nur auf sich sel­ber konzen­tri­eren. Den Ver­di­enst im Auge haben. Auf Erfolg schie­len. Den Markt durch­schauen und zugle­ich halb­wegs mitschwim­men. Die Gegen­wart kom­men­tar­los vorüberziehen lassen. Vielle­icht tut das manch­mal auch gut. Vielle­icht muss man sich nicht immer abmühen. Mag sein, vielle­icht zer­fleis­cht man sich irgend­wann selb­st, im eige­nen Anspruch, wenn man schon nicht vom Betrieb zer­fleis­cht wird. Was aber bleibt, sind schlaflose Nächte. Immer dann, wenn sie sich mir wieder auf­drän­gen, die Brand­herde da draußen. Und ich ver­suche meine Beteili­gung an der Wirk­lichkeit wegzuschieben, mit diesem Wort: da draußen. Diese Welt da vor mein­er Türe, die let­ztlich doch immer auch ich bin. Keine Sprache für die Gegen­wart also, die nicht bei mir selb­st begin­nt.

10.

Ich arbeite weit­er. An ein­er Sprache, die sich nicht zufrieden gibt, wenn Frieden fehlt. Die rast­los bleibt, unbe­quem ist, Unbe­quemes spricht, dem Bequem­lichen den Kampf ansagt. Mis­strauisch gegenüber Vor­eiligem. Hell­hörig gegenüber Ver­lo­gen­em. Ankla­gend gegenüber allem Unrecht. Acht­sam und zaghaft auch, ver­let­zlich, wom­öglich, zweifel­nd, im besten Fall, ungut leise in läh­mender Stille, schmerzhaft laut, wenn’s sein muss (es muss sein, so oft muss es sein!), angrif­fig, und ja, dadurch auch angreif­bar: Jede Posi­tion­ierung, die sich wo dage­gen­stellt, immer eine Angriffs­fläche. Das kann weh tun. Das kann einem kurz auch mal die Sprache ver­schla­gen. Das kann zu Rückschlä­gen führen. Aber ich möchte mir nie den Vor­wurf gefall­en lassen müssen, beliebig die Worte geset­zt zu haben. Die Schrift zu stellen, für ein Hier und Heute, in Tex­turen der Welt, ist beständi­ge Ver­ant­wor­tung und Auf­trag, nicht im Unbes­timmten zu ver­hallen. Für jede Gegen­wart, die dem Lär­men der Mächti­gen noch etwas zu erwidern hat, braucht es eine Bes­timmtheit in der Sprache. Man mag es eine neue Schärfe nen­nen. Wortwörtlich. Eine akute Lit­er­atur.