Heute

Von

Sechs Uhr, zehn Minuten. Die Kinder frühstücken. Leise. Langsam. Mika­do. Als woll­ten sie dieses selt­same Wesen nicht in Bewe­gung brin­gen. Ihn. A Qui­et Place. Seine Frau ste­ht vor der Arbeit­splat­te, stre­icht laut­los die Jausen­brote, geht in Gedanken den Tag durch. Flüstert. „Habt ihr die Sportwäsche eingepackt? Die Vok­a­bel­hefte? Den Zirkel? Das Top-Jugendtick­et?“ Er kann das bestäti­gende Mur­ren sein­er Töchter hören. Das Schlürfen des Tees. Riecht ihn. Roibusch. Gegessen wird kaum. Viel zu früh. Ein Kich­ern schum­melt sich bis zu ihm. Dazu ein: „Ts-ts-ts“. Wahrschein­lich schnar­cht er. Dort, hin­ter der Ecke. Die Form der Wohnküche ein L. Der Esstisch das eine Ende, die Sofa­land­schaft das andere. Sein Schlafgemach, wenn es spät wird. Und spät wird es meist. Sie ein Mor­gen­men­sch. Immer schon. Er von Geburt an nach­tak­tiv. Das Geheim­nis ihrer lan­gen Beziehung. Dem andern nicht Sch­ablone sein. Das Leben miteinan­der führen? Ja. Aus zwei eines machen wollen? Nein. Zwar Teil des Orch­esters, nur jed­er mit eigen­er Stimme. Vor­sichtig öffnet seine Frau die Terrassentür, kühle Frischluft strömt in den Raum. Die Hündin schlüpft hin­aus in den Garten, erstes Geschäft des Tages. Die Kinder schlüpfen in ihre Jack­en, schul­tern die Schul­taschen­ziegel. Er selb­st schlüpft zurück, als Küken in sein Ei, als Schmetter­ling in seine Puppe, als Herkuleskäfer in seinen Kokon. Schlaf, der ihn fest auf das Led­er drückt, flügellahm, die Zierkissen seine Bar­rikaden, die zu Boden gerutschte Wolldecke seine Tuchent. Irgend­wann spürt er den Abschied­skuss sein­er Töchter. Sie wis­sen, es war spät gewor­den, er hat lang gear­beit­et. Seine Frau deckt ihm behut­sam die Beine zu. Die Hündin deckt sie ihm wieder ab, schleckt seine Zehen, legt sich zu seinen Füßen, rollt sich ein. Er fühlt sich geliebt. Run­dum. Und doch hundsmis­er­abel, schuldig, ein Schmarotzer, der mit seinen elend lan­gen Nachtschicht­en immer noch zu wenig leis­tet. Ein Spä­tauf­ste­her eben, somit kein brav arbei­t­en­der Frühaufsteher, kein­er der soge­nan­nten Fleißi­gen, Leis­tungswilli­gen ... Die Welt schwarzweiß sehen, so sim­pel, so prim­i­tiv, so aufhussend – und Du wirst Kan­zler. Tage gibt es, helden­hafte, wenn er schreibt bis vier Uhr nachts. Oder fünf Uhr früh. Oder durch. Tat­säch­lich schreibt. Seite um Seite. Sieg über alles. Tage, wie dieser vielle­icht ein­er zu wer­den imstande ist? Wer weiß! Irgen­det­was weckt ihn schließlich endgültig. Still ist es. Das Haus nun leer. Die Frau in ihrem Ate­lier, ihrer Werk­statt. Dort ist sie glücklich. Die Kinder wahrschein­lich zwis­chen Mathe und Englisch, oder Musik und BE, in der großen Pause. Die Schul­milch sein­er Gym­na­si­ums Zeit fällt ihm ein. Kakao, Vanillemilch, Frucht-Joghurt. Mehr stand nicht zur Auswahl. Wer Let­zteres bekam, hat­te entwed­er wohlhabende Eltern; oder Eltern, die mit­tels täglichem Frucht-Joghurt vor­gaben, wohlhabend zu sein; oder seine Eltern vol­lkom­men unter Kon­trolle. Wer Vanillemilch bekam, hat­te keinen Geschmack und unmit­tel­bar danach großen Durst. Ja und wer wie er aus weniger betucht­en Ver­hält­nis­sen stammte, hat­te das Leitungswass­er des Waschbeck­ens auf der Schülertoilette, zwei Scheiben Schwarzbrot in Stan­niol, dazwis­chen But­ter, hin und wieder mit Extrawurst. Dazu der tägliche Apfel. Meist mehlige, wie aus einem Sack Kartof­feln. Ein­mal ange­bis­sen, danach luft­getrock­net endge­lagert in dem Fach sein­er Schul­bank. Diese Frucht ist ihm geblieben. Star­rt ihm tagtäglich ent­ge­gen, in seinem Büro. Äpfel, die zu Büchern wer­den. Apple-Book. Und los. Com­put­er an. Zulet­zt ver­wen­detes Doku­ment öff­nen. Die Zeilen des Vortages lesen, ein­mal, zweimal, wieder und wieder, immer unzufrieden­er damit wer­den. Erste Kor­rek­turen vornehmen. Ver­schlimmbessern. Sich wie automa­tisiert in seine Mails flüchten. Bald diesen Wider­willen spüren. Mails, Mails, Mails. Erzwun­gene Kom­mu­nika­tion. Ähn­lich einem Spazier­gang, wenn über Zäune, oder aus Fen­stern, oder direkt auf der Straße Men­schen das Gespräch suchen, aus deinem flüchtigen Gruß ein Erlah­men wird, Stag­nieren, aus fünf plöt­zlich fünfzehn Minuten, fünfzig ... Roll-Leine mit Ein­hand-Bremssys­tem. Er will weit­er, doch es reißt ihn zurück. Wuff. Mails. Worte, die er sich abrin­gen muss, besorgt, vielle­icht brauchen sie jenen Vor­rat auf, der später für seine Texte von­nöten wäre. Mit­ten­drin der Newslet­ter ein­er Tageszeitung, ein Klick, und schon ist er in der Onlin­eaus­gabe. Liest über den DiesUnd­Das und das Wie­Und­Was, über die DaUn­d­Dort und das HierUnd­Fort. Bewegt seine ergonomis­che Maus, hört dabei sein Schnaufen. Früher hätte er für solch ein Schnaufen die Stiegen empor und hin­aus bis an die Gartentüre laufen müssen, weil Post oder Paket­di­enst. Heut reicht das Bewe­gen des Rollses­sels. Leise hinge­gen die Atemzüge der Hündin. Sie ist in sein Büro mitübersiedelt. Liegt hin­ter dem Schreibtisch. Der Schreibtisch selb­st ist mit­tels Tas­ten­s­teuerung zu einem Steh­pult hochfahrbar, the­o­retisch. Prak­tisch schnup­pert die Arbeit­splat­te Höhen­luft nur dann, wenn seine Kinder sie besteigen. „Los Papa, drück!“ Auf und Ab. Leben. Eben. Ein Hin und Her. Und doch immer nach vorne gerichtet. Zurück nach gestern? Unmöglich. Der Bild­schirm, an dem über USB-C sein Lap­top hängt, ist mit den Jahren immer größer gewor­den, ver­schlingt ihn mit­tler­weile, lässt zwar die Arbeit als optis­che Täuschung darauf klein­er erscheinen, die Leere der Seit­en füllt sich aber den­noch nicht von selb­st. Hin und wieder reduziert er seine Doku­mente auf zehn Prozent, so winzig, unmöglich das Geschriebene zu lesen – und tippt ins Nichts. Er. Ein Was eigentlich? Unter­wegs auf Lesereise, wenn er in diversen Hotels an der Rezep­tion ste­ht, vor ihm der Meldezettel, darauf das Kästchen Beruf, weiß er nicht recht: Autor? Schrift­steller? Jemand, der eine Tätigkeit selb­ständig ausübt, die auch dazu dienen soll, Ein­nah­men zu lukri­eren, sprich: Unternehmer? Das passt, klingt jedoch zu groß, zu mächtig, nach LKW, während er doch inner­lich eher auf einem Draht­e­sel sitzt. Tretmühle. Selb­ständi­ger schreibt er dann. Spürt, wie ihn dabei diese eupho­risch melan­cholis­che Liebe durch­strömt. Eupho­risch, weil ständig selb­st. Melan­cholisch, weil ständig. Kein Entkom­men. Jed­er Schlen­dri­an rächt sich, jede offene Rech­nung, jede ... „Rech­nung!“ fällt ihm ein. Steuer. Es ist Monat­san­fang, der let­zte muss erledigt wer­den ... Er öffnet die entsprechende Lade, begin­nt die Belege in seine Pul­tord­ner 1-31 einzuord­nen – sein Klin­gel­ton reißt ihn hoch. Die Num­mer unbekan­nt. Nachricht wird keine hin­ter­lassen. Mag er gar nicht. Irgend­wann der zweite Anruf. Diesel­ben Zif­fern. Wieder nichts. Im Inter­net auf Inverssuche gehen, hof­fen fündig zu wer­den. Niente. Egal. Weit­er. Zurück in sein Arbeits­doku­ment. Er muss abgeben. Bald. Längst ist es Nach­mit­tag. Schule aus, Werk­statt geschlossen. Das Haus füllt sich wieder mit Leben, Aus­tausch mit den Lieben. Dann zurück ins Büro. Jet­zt aber. Die aufk­om­mende Müdigkeit ignori­eren. Den Hunger. Mon­tag bis Fre­itag, isst nur spät abends, um den Tag zu nutzen. Schreibt nun. Been­det das eine Kapi­tel seines Romanes und begin­nt das näch­ste. Wie soll es heißen? Das Wort „Kugelfisch“ kommt ihm in den Sinn. Warum? Weiß er nicht. Es ist ein­fach da, wie so vieles. Ste­ht nun getippt vor ihm. Kapi­tel 3. „Kugelfisch“ recher­chiert er. Aus­re­ichend Gift trägt das Tier in sich, um dreißig Erwach­sene zu töten – und den­noch wird es verzehrt. Ein hand­fester Idiot eben, der Men­sch an sich. Aus­geliefert bleibt er hän­gen, durch­forstet das Inter­net, kommt vom Hun­dert­sten ins Tausend­ste, find­et sich plöt­zlich auf der Home­page ein­er sein­er bevorzugten Tageszeitung wieder – Hand, die sein Hirn überholt und dor­thin geleit­et hat – liest nun erneut über den DiesUnd­Das und das Wie­Und­Was, über die DaUn­d­Dort und das HierUnd­Fort. Hält bald seine Kinder in den Armen, kurz darauf, seine Frau, „Schlaft gut, Ihr Lieben!“, übersiedelt auf das Sofa, 22 Uhr, Kopfhör­er auf, ZiB2. Putin dort, Kickl da. Sein Hunger nun wie ein Ver­trieben­er, nur noch Appeti­t­losigkeit? Er fängt zu tip­pen an, irgend­was Gereimtes: Es ist schein­bar wahr, dass das, was war, nur noch dem, der es erlebt hat, eine Mah­nung bleibt, weil alles Wis­sen ihn beina­he zum Wahnsinn treibt, das die Erin­nerung tief in sein Bewusst­sein schreibt. Denn nun erleben wir wieder ein Beben ein­er Gen­er­a­tion, die nicht vergessen kann, was sie nicht erlebt hat, sie arbeit­en voll Größen­wahn besessen dran, Äng­ste, die beruhigt waren aufzuschreck­en, Schilder, die zur Mah­nung dienen abzudeck­en, die Geis­ter, die zu schlafen schienen aufzuweck­en. Und erschüttert sehen unsre Zeitzeu­gen, wie wir wieder eine Zeit zeu­gen, und uns so weit beu­gen, bis wir den Weit­blick ver­lieren, den Geist manip­ulieren, plöt­zlich wieder marschieren und die Fin­ster­n­is regieren. Der Teufel ist erwacht, der mit sein­er Macht die Men­schen, die uns nahe sind, zu Fein­den macht. Und er lacht, weil er weiß, wie schwach wir sind, wie wenig wach wir sind, denn unter wessen Dach wir sind, hängt nur davon ab, wie die Rede klingt, die die Ver­nun­ft ver­schlingt. Wir sind das einzige Tier, das den Instinkt bezwingt, kön­nen dem Ruf nicht wider­ste­hen, der aus der Hölle dringt. Wir treten den Leib, der noch nach Leben ringt, haben den Hass zum Fre­und gemacht, der uns das Herz ver­schlingt. Wir sind das einzige Tier, das den Instinkt bezwingt, kön­nen dem Ruf…!“ Mit­ter­nacht. Die Hündin stupst ihn an, muss raus. Ein kurzes Leck­er­li danach. Und er. Vielle­icht doch noch etwas essen? Ein wenig Mediathek. Willkom­men Öster­re­ich. Oder Heute Show. Es wird Till Rein­ers’ Hap­py Our. Ein Uhr dreißig. Vielle­icht doch noch eine Seite Kugelfisch? Irgend­wann schläft er ein. Mor­gen ist längst Heute gewor­den, und heute wird es bess­er. Ganz bes­timmt ...