Nur zwei alte Männer

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Die Erde stürzte um die Sonne, Dun­kles ums Licht, als Joseph Wasser­stein ein Gefühl von Endzeitlichkeit ergriff. Einst war er berühmt gewe­sen, einst Fotograf. Und was war er nun? Alt. 83. Er saß im Garten sein­er Wiener Vil­la und fluchte leise. Gerne hätte er laut, richtig laut geflucht.
Die Erde indes schoss mit Höl­len­tem­po vor­wärts. Ein torkel­ndes Sechs-Tril­liar­den-Ton­nen-Ei, das wie zum Zeitvertreib zen­trifu­gal im Kreis gejagt wurde, hän­gend an nichts als am Grav­i­ta­tions­faden eines Sterns. Ein unge­heuer­lich­er Zauber­trick war das, eine tol­lkühne Zirkus­num­mer Gottes. Zu lange vorge­führt freilich, um noch als Wun­der zu gel­ten. Nie­mand ver­langte jubel­nd nach ein­er Zugabe.
„Es reicht“, sagte Joseph Wasser­stein laut. „Es reicht, alter Mann.“
Sprach er zu sich? Oder pöbelte er gegen den Allmächti­gen? „Ja, alter Mann, es reicht!“
Früh­lingss­chnee. Plöt­zlich kam er wie The­ater­wat­te vom Him­mel.
„Trotz­dem“, sagte Wasser­stein. „Trotz­dem reicht es.“
Er trug ein schwarzes Hemd wie immer. Das hat­te er sich aus sein­er fotografis­chen Zeit beibehal­ten, als er im Schwarz der Klei­dung aus dem Licht ver­schwand.
Schneeflock­en lan­de­ten auf seinen Hemd­särmeln. Welch schöne Unmöglichkeit, Schneeflock­en im Juni; zwei, drei, vier sick­erten ein. Fünf, sechs, sieben Schneeflock­en lan­de­ten auch auf Joseph Wasser­steins geäderten, fal­tengeze­ich­neten Han­drück­en. Acht, neun, zehn. Und in seinem lan­gen, nach hin­ten gestrich­enen, weißen Haar.

Hakim Elvedin schnippte mit den Fin­gern, wirbelte sin­gend um sich selb­st und wie selb­stver­ständlich ging dabei kein Tröpfchen seines bis zum Gol­drand gefüll­ten Mokkas ver­loren.
„Habibi, es schneit!“, rief er mit heller Stimme und aufgeris­se­nen Augen, als wollte er seine drei Katzen ansteck­en mit der guten Laune. Atarax­ia, die Weiße, blinzelte; Aponia, die Schwarze, zuck­te im Schlaf mit dem Ohr; Eudä­mo­nia, die Rote, sah kurz auf.
Hakim Elvedin lehrte freien ori­en­tal­is­chen Tanz. In seine Kurse kamen zumeist Frauen und zumeist waren diese Frauen um die fün­fzig und auf der Suche nach sich wie alle Men­schen. Hakim war 76. Aber er tanzte wie ein geschmei­di­ger Vierzigjähriger. Und im Kopf tanzte Hakim Elvedin nicht etwa wie ein noch jün­ger­er, im Kopf tanzte er wie jemand jen­seits der Zeit.
„Was für ein Geschenk!“, rief Hakim. „Es schneit!“
Er blick­te durch die hohe, aus ver­schieden­sten alten Rah­men gez­im­merte Fen­ster­front seines Häuschens, sah Joseph Wasser­stein drüben im anderen Garten und wink­te. Joseph aber stierte bloß grim­mig vor sich hin und bekam nichts mit.
Hakim kam die Idee, sich selb­st zu per­si­flieren – und kom­binierte sein rhyth­mis­ches Winken zum gries­grämi­gen Nach­barn mit bauchtänz­erischen Bewe­gun­gen. Beim drit­ten Hüftschwung stellte er fest, dass jeman­dem zu winken – führte es zu solch her­rlich­er Blödelei – gar kein­er Reak­tion bedurfte, alles steck­te in der Idee selb­st. Was für eine Wun­der­barher­rlichkeit!, dachte Hakim Elvedin und seine braunen Augen schim­merten wie Bern­stein bei Fack­el­licht.

„Servus, Nach­bar!“, rief Hakim. „Danke, dass ich dir winken durfte! Du eignest dich außeror­dentlich gut, um dir zu winken. Hast du das gewusst? Dass du ein außergewöhn­lich gutangewunkenge­wor­den­er Men­sch bist?“
Joseph Wasser­stein hat­te wie so oft keine genaue Vorstel­lung, was Hakim Elvedin ihm sagen wollte. Das kon­nte nicht daran liegen, wie Hakim sprach, son­dern musste daran liegen, wie Hakim dachte, ver­mutete Joseph Wasser­stein. Sein Nach­bar näm­lich sprach per­fek­tes öster­re­ichis­ches Deutsch und seine Mut­ter­sprache, das Ara­bis­che, brach sich bei Hakim nicht als Akzent Bahn, son­dern floss als melodiös­er, honigsüßer Singsang zutage, samt Wortkom­bi­na­tio­nen und Satzpirou­et­ten, von denen Joseph Wasser­stein nie zu sagen wusste, ob sie Hakim passierten oder er sie kun­stvoll ersann.
Mit ein­er Decke unterm Arm spazierte Hakim durchs Gar­ten­tor, das die bei­den Grund­stücke ver­band: Hakims liebevoll mit Rosen­bö­gen und Jas­min gestal­tetes Gärtlein und Joseph Wasser­steins grob ver­nach­läs­sigten Vil­len­park, in dem das Gras unkrautumwuchert und kniehoch stand.
Hakim Elvedin, 76, freudig fed­ern­den Schritts, präsen­tierte Joseph Wasser­stein, 83, mür­risch und stock­steif, die gefal­tete Decke, als läge darauf die Königskro­ne.
„Es ist Juni“, knur­rte Wasser­stein. „Im Juni brauch ich keine Decke mehr.“
„Juni hin oder her. Es schneit, Joseph, schau doch nur, wie wun­der­her­rlich­bar es schneit!“ Hakim bre­it­ete Joseph die Decke über Rück­en und Schul­tern, tänzelte um den stein­ern Sitzen­den, zupfte mit seinen schlanken Fin­gern an dieser und an jen­er Falte und über­prüfte sein Werk aus wech­sel­nden Per­spek­tiv­en, sich hin und her und auf und ab wiegend wie ein Maître Coif­feur um seine Kund­schaft.
„Mir wird ganz schwindelig, wenn du so herum­turnst“, grum­melte Joseph Wasser­stein – was Hakim zu ein­er neuer­lichen Umrun­dung motivierte.

Hakim Elvedin trug eine Pluder­hose wie aus Tausend und ein­er Nacht, dazu ein karamell­far­benes, rosa geblümtes Leibchen und darüber eine wald­grüne Joppe, als stammte er nicht aus Damaskus, son­dern aus den Alpen. Um den Hals lag dem alten Tänz­er ein Schal­tuch, das er unter seinem lang­nasi­gen Druiden-Gesicht zu einem Dop­pel­knoten gebun­den hat­te. „Der Schal soll dir wohl was Kün­st­lerisches geben“, hat­te Joseph Wasser­stein ein­mal ges­tichelt und Hakim pfif­fig geant­wortet: „Kün­st­lerisch, genau! Und ich kann, weißt du, dahin­ter meinen ein ganz kleines biss­chen schon schrumpeli­gen Schild­kröten­hals ver­schalen.“
Hakims Füße steck­ten – als wäre die übrige Klei­dung nicht ein­drucksvoll genug – in regen­bo­gen­far­be­nen Woll­sock­en. Und die steck­ten in Plas­tik-Flip-Flops. So besaß Hakim bei schnellem Hin-sehen in jed­er San­dale nur zwei absurde Wol­lze­hen. Die Sock­en-Füßchen des Tänz­ers: die ein­er Kinder-Com­ic-Fig­ur.

„Hakim, um Him­mels Willen, bitte hör mit dem Herumge­hopse um mich auf. Du brauchst mich nicht so zu bemut­tern. Außer­dem tust du, als wäre ich ein alter Knack­er.“
„Du bist ein alter Knack­er, mein Lieber!“, flötete Hakim.
Joseph Wasser­stein rollte die Augen nach oben.

Von den Wolken aus bese­hen, die in diesen Minuten über Wien zogen, wirk­ten die bei­den alten Män­ner wie kuriose Wesen, die in ein­er son­der­baren Beziehung zueinan­der ste­hen mocht­en. Ihre Gärten, der im Okzi­dent liegende Joseph Wasser­steins und der Rich­tung Ori­ent weisende Hakim Elvedins, waren vom Him­mel aus bese­hen eins, der Zaun zwis­chen den Grund­stück­en nicht exis­tent. Zen­tral und ein­deutig hinge­gen der altehrwürdi­ge Lin­den­baum in der Mitte des einst unge­tren­nten, die gesamte Gegend umfassenden Gartens. Ihm schienen alle Him­mel­srich­tun­gen gle­ich lieb, har­monisch grif­f­en seine Äste in die Weite. Der Umfang des Stamms mochte drei, vier dop­pelte Arm­län­gen messen. Ohne es voneinan­der zu wis­sen, hat­ten sich Hakim und Joseph, als sie jünger gewe­sen waren, an ein und dem­sel­ben Tag mit dem Rück­en gegen diesen Stamm gelehnt – Hakim von der einen, Joseph von der anderen Seite kom­mend. Bei­de emp­fan­den Dankbarkeit und ein Gefühl des Angekom­men-Seins, als sie nach oben blick­ten ins mag­netis­che Blau zwis­chen den Zweigen, ins aus­treibende Grün dieses würde¬vollen, schon damals betagten Baums.

„Es ist fast elf“, sagte Joseph Wasser­stein. „Früh­schop­pen­zeit. Wenn du heute schon so unausstehlich aktiv sein musst, hol uns wenig­stens zwei Flaschen Bier aus der Küche.“
„Jet­zt schon Bier? Glaub­st du, das tut uns gut?“
„Ich bin ein alter Knack­er, hast du doch ger­ade fest­gestellt. Soll ich mit dem Bier warten, bis ich tot bin?“

„Na also“, sagte Joseph Wasser­stein Minuten später.
„Prost“, sagte Hakim Elvedin.
„Prost“, gab Joseph Wasser­stein zurück.
Die bei­den alten Män­ner stießen die Bier­flaschen aneinan­der. Nach ihrem Rit­u­al an den Seit­en der Flaschen­hälse, zweimal schnell, ein­mal langsam. Klack-klack. Klack. Es klang leise durch ihre Gärten, leise über die Linde hin­weg, und ein Fünkchen leis­er noch über alle Him­mel. Die Erde indes, samt ihnen darauf, drehte sich unge­bremst mit Über­schall.

Die Leute behaupteten, im Alter ver­laufe das Leben schneller, Joseph Wasser­stein aber wusste, dass das Schwachsinn war und Tat­ter­er wie er sich täuscht­en. Bloß von der Schlap­pheit in Kopf und Gliedern rührte der Ein­druck. Bloß weil sie selb­st daherka­men wie die Sch­neck­en­post, glaubten sie, dass das Leben run­dum immer rasch­er ablief. Das war alles, ver­dammt aber auch!
Das Span­nend­ste zulet­zt waren noch seine Träume. Joseph träumte sie in grobkörnigem Schwarz-Weiß – jen­em Stil, in dem er während sein­er besten Zeit fotografiert hat­te, Auf­nah­men in einem Spek­trum von hell­stem Tag bis dunkel­ster Nacht und dazwis­chen ein­er uner­schöpflichen Vielfalt aus Grau. Wie ober­fläch­lich und nur schein­bar Far­bauf­nah­men doch waren. Schwarz-Weiß-Fotografien hinge­gen führten das Sehen ins Essen­tielle, offen­barten den Kern der Men­schen und der Dinge. Und nun also träumte er in Schwarz-Weiß.
Die Frau in seinem Traum war sym­pa­thisch gewe­sen, entspan­nt und natür­lich; Typ bre­itschul­trige, som­mer­sprossige Wasser­sport­lerin. Sie hat­te einen selb­st­sicheren, fre­undlichen Blick. Mit dieser Natür­lichkeit kam sie auf ihn zu und befriedigte ihn mit der Hand. In Schwarz-Weiß.
Und was war nun die tief­ere Bedeu­tung dieses Bildes? Als sich Joseph Wasser­steins Aufwüh­lung gelegt hat­te, war die Nachricht zu erken­nen. Nicht eigentlich um Sex ging es in diesem Traum. Son­dern um Barmherzigkeit. Um let­zte Gnade. Darum, nur noch darum.
„Hakim, wir ken­nen uns doch jet­zt schon eine Zeit lang.“
„Vierzig Jahre, mein Fre­und. Vierzig­mal Früh­ling, Som­mer, Herb­st und Win­ter.“
Joseph Wasser­stein nick­te träge.
„Weißt du was, Hakim?“, sagte er schließlich.
„Was denn, mein Alter?“
„Mich freut’s nicht mehr.“
„Was freut dich nicht mehr?“
„Das Leben.“
Hakim stemmte eine Hand in die Hüfte. „Bist du dep­pert? Das Leben freut dich nicht mehr? Und das sagst du aus­gerech­net, wenn wir miteinan­der ein Bier trinken?“
„Ja, aber gle­ich trinken wir es nicht mehr. Dann ist das Schöne auch schon wieder vor­bei für den Tag. Dann kommt nichts mehr.“ Joseph Wasser­stein blick­te in seinen ver­wilderten Garten, als blick­te er in eine ver­störende Welt. „Hakim, seien wir uns ehrlich, ich hab’ da ein­fach nichts mehr zu suchen.“
„Wenn du nichts mehr zu suchen hast, kannst du trotz­dem was find­en. Ich zum Beispiel finde, du kön­ntest deinen ver­schrumpel­ten Tat­ter­greis­popo heben und endlich wieder ein­mal fotografieren!“
Joseph Wasser­stein schüt­telte den Kopf. „Ich bring kein gutes Bild mehr zusam­men.“
„Oder du machst es wie alle Pen­sion­is­ten und ziehst dir ober­fläch­lich lustige Serien rein, sen­ti­men­tale Schnulzen, Soft­pornos.“
„Hab schon alles gese­hen. Viel zu viel hab’ ich schon gese­hen.“
„Oder …“ Hakim hob erfreut die Augen­brauen und set­zte sein mitreißend­stes Druiden-Gesicht auf. „Oder du suchst dir ein Weibchen!“
„Ein Weibchen“, sagte Joseph Wasser­stein matt. „Ein Weibchen“, wieder­holte er, nun verächtlich gegen sich. „Ich bin schon froh, wenn ich mit mein­er Prosta­ta halb­wegs zurechtkomme und mir in der Nacht nicht in die Unter­hose mach’. Was soll ich da mit ein­er Frau?“
„Nicht für Sex, Joseph. Für“ – Hakim Elvedin bre­it­ete die Arme aus – „für Lii­i­i­i­iebe!“
„Unsinn.“
„Ich kann für dich suchen. Ein Weibchen, Joseph. Im Inter­net. Ein liebes. Ich kann das, Joseph. Ich mach das für dich. Ich such dir ein Weibchen!“
„Nein, such mir lieber die Num­mer für den Notar raus, ich ver­ma­ch dir meine Bude. Und davor noch die Num­mer ein­er Sargfir­ma. Ich will einen ordentlichen Sarg.“
„Ich will deine Vil­la nicht. Viel zu groß. Da musst schon selb­st drin­nen bleiben. Und in einen kleinen, gemütlichen Sarg kommst du noch früh genug.“
In diesem Augen­blick brach ein Son­nen­strahl durch die Wolk­endecke. „Schau!“, jubelte Hakim. „Die Sonne kommt zu uns! Jet­zt begin­nt der Som­mer, darauf wett ich mit dir um ein Bier. Ger­ade fiel noch Schnee und jet­zt … der Som­mer, Joseph! Bald schaust du meinen Mädels und mir wieder beim Tanzen zu, gut? Gut, Joseph?“ Hakim vollführte eine Drehung, schwang die Arme komö­di­antisch zum Him­mel, stellte sich in seinen wollbe­sock­ten Flip-Flops en pointe auf die Zehen, als imi­tierte er eine Bal­le­ri­na, und suchte während dieser Auf­munterungsnum­mer vergebens Joseph Wasser­steins Blick, Joseph Wasser­steins mit einem Mal trä­nen­feuchte Augen.
„Du machst das richtig, Hakim, mit dein­er Kasperei und Tanz­erei und so.“ Joseph lächelte müde. „Genau­so muss man mit dem Leben umge­hen, Hakim, genau­so wie du. Aber mir, weißt du, mir liegt das nicht. Ich sitz nur noch blöd herum, immer noch in Schwarz ange­zo­gen, als gäb’s ein Werk zu voll­brin­gen und dabei bring ich nicht ein­mal mehr den Willen auf, laut zu fluchen, wie es sich gehören würde, auf die ganze Scheiße.“
„Scheiße sagt man nicht“, ent­geg­nete Hakim, bewegte rügend den Zeigefin­ger vor Josephs Gesicht. „Kreuzküm­mel­nochein­mal. Das darf­st du sagen, Joseph. Ver­suchs ein­mal. Kreuzküm­mel­nochein­mal! Na komm, ein­mal nur! Ganz laut und wild! Kreuzküm­mel­nochein­mal!“
„Joseph … komm schon! Ein­mal wenig­stens sag es! Kreuz!KümmelNoch!Ein!Mal!“
„Kreuzküm­mel­nochein­mal“, flüsterte Joseph.

Hakim besah ihn. „Kreuzküm­mel­nochein­mal, bist du ein schlechter Ver­flucher.“
„Flucher.“
„Was?“
„Flucher. Man sagt Flucher. Nicht Ver­flucher.“
„Flucher passt für dich nicht. Du bist ein schlechter Ver­flucher.“
„Kreuzküm­mel­nochein­mal!“, brummte Joseph Wasser­stein.
„Na also“, sagte Hakim Elvedin.

Dieser Text ist der Beginn des im Früh­jahr 2023 bei Picus erscheinen­den Romans „Nur zwei alte Män­ner“.