Die dritte Landschaft

„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“

Von

Thomas Stangl © Aleksandra Pawloff

Thomas Stan­gl. Foto: Alek­san­dra Pawloff

Hier und heute befinde ich mich in ein­er Hafen­stadt am Atlantik. Nach achtzehn Uhr darf ich nicht mehr aus dem Haus gehen; ich schaue aus meinem Fen­ster im zehn­ten Stock­w­erk eines Le Build­ing genan­nten Hochhaus­es in die Nacht hin­aus, auf die leeren Straßen, die Flussmün­dung, den Him­mel. Hin­ter dem Hafen­beck­en liegt ein Vier­tel, das offen­bar früher von Marokkan­ern bewohnt war und immer noch Petit Maroc heißt; eine immerzu beleuchtete Straße führt dort ger­adeaus von der Zug­brücke bis zur Mole. Es ist eine kurze Straße, das Vier­tel ist winzig, nicht viel mehr als zwei, drei Häuserblöcke. Nie­mand ist unter­wegs, aber ein paar Mal über­quert jeden Abend ein weißes Auto die Brücke und fährt die Straßen ab. Immer das selbe Auto, auf immer der­sel­ben Strecke. Zur Mole, zu den Werften, zurück zur Brücke. Zwis­chen der Mole und der Werft, nahe einem Denkmal im Wass­er, das an die Sklaven­be­freiung erin­nern soll, ist eine Dachkon­struk­tion aufges­pan­nt, ich weiß nicht, zu welchem Zweck. Unter diesem Dach ist ein Schein­wer­fer ange­bracht, der immerzu in Bewe­gung ist und einen winzi­gen Bere­ich des Bodens ausleuchtet. Geht man (tagsüber) unter diesem Dach hin­durch, bemüht man sich, diesem Schein­wer­fer auszuwe­ichen. Aus einem ver­bor­ge­nen Laut­sprech­er dringt leise Musik, san­fter Jazz; wom­öglich auch nachts, aber nur unter diesem Dach zu hören. Die Musik ist san­ft und doch beun­ruhi­gend: soll sie einen unter der Dachkon­struk­tion fes­thal­ten oder soll sie einen vertreiben? Sobald das weiße Auto seine Runde been­det hat, ist die Straße wieder leer, minuten­lang, stun­den­lang. Ein graues Beton­band unter einem schwarzen Him­mel. Im Wass­er blinken die grü­nen und roten Lichter der Bojen auf.
Ein­mal sitzt (mor­gens) ein Kor­moran auf dem Denkmal, das an die Sklaven­be­freiung erin­nern soll, eine schwarze, bewegliche, lebendi­ge Form, die sich als eine Fort­set­zung dieses Denkmals vor dem Him­mel abze­ich­net. Während der Zeit­en des soge­nan­nten Dreieck­shan­dels segel­ten durch den meer­bre­it­en Strom vor meinem Fen­ster die Schiffe mit den in Übersee in Baum­wolle, Zuck­er, Tabak und Kaf­fee ver­wan­del­ten Sklaven, die sich flus­saufwärts in Nantes wiederum in Geld und in von prächti­gen Palais gesäumte Kais ver­wan­deln wür­den. Magie des Kap­i­tal­is­mus. Die Flus­sarme, an denen diese Kais lagen, wur­den später zugeschüt­tet und sind zu selt­samen leeren Beton­schneisen gewor­den, über die fast laut­lose Expressstraßen­bah­nen sur­ren.
Ich schaue aus dem Fen­ster auf Him­mel, Fluss und Meer und den Streifen Land gegenüber, reine Form und Farbe, die aufeinan­der antworten, fast nur Ober­fläche, fast abstrakt (aber dem Anschein ist nicht zu trauen.)

Ein paar Schritte weit vom Build­ing ent­fer­nt liegt der Strand, der jeden Tag ein anderes Gesicht zeigt: je nach Wind, je nach Sta­di­um von Ebbe und Flut, je nach Tageszeit und Licht und der Form der Wolken, ich möchte diesen Anblick, diesen Wan­del in mich ein­saugen. Tausende von Muschelschalen unter meinen Schuhen sind dabei, zu Sand zu wer­den; tausende wun­der­bare und einzi­gar­tige For­men aus Kalk, Lebe­we­sen mit ihrem winzi­gen Bewusst­sein, die das Meer ver­stoßen hat (einen Weg in solch ein Bewusst­sein find­en). Ab und zu liegt eine ertrunk­ene Bisam­rat­te im Sand, ein beinah biber­großes Tierchen mit nass-verk­lumptem Fell, leicht geöffnetem Maul, leicht gebo­ge­nen Schnei­dezäh­nen, mit solch­er Ruhe; ein paar Plas­tik­flaschen, Bier­dosen, Ben­zinkanis­ter ver­rot­ten im Schlamm zwis­chen Algen und Ästen und schwarz­nassen Holztrüm­mern wie von zahllosen Schiff­sun­tergän­gen. Die Gis­cht ist an manchen Stellen giftig-gelb. Kommt mir ein Men­sch ent­ge­gen, schiebe ich schnell meine Maske hoch, wie als Gruß. Die älteren Män­ner, die hier am Strand spazieren gehen, sind streng und fre­undlich und tra­gen eine Brille mit dün­nem Met­all­rand. Mir kommt vor, sie sind alle der­selbe ältere Mann.

Eigentlich­es Zen­trum der Stadt ist (ein paar Schritte weit vom Build­ing in die andere Rich­tung) ein deutsch­er U-Boot-Bunker aus der Zeit des Zweit­en Weltkriegs, bru­tal und unz­er­stör­bar wie die Flak­türme in Wien, aber auch dieser Bunker, der alle Bombe­nan­griffe über­stand, hat sich ver­wan­delt. Nicht nur das vio­lette Licht, das aus den (zu anderen Zeit­en für Ver­anstal­tun­gen und Konz­erte genutzten) Durch­lässen und Innen­räu­men schim­mert und das san­ft glitzernde und giftig schäu­mende Wass­er des Hafen­beck­ens, das in und an ihm sicht­bar wird, ver­wan­delt ihn. Über eine Rampe, die beim Car­refour-Markt ihren Aus­gang nimmt, kann man auf das Dach des Bunkers steigen. Zunächst ist dort nur Beton zu sehen, eine Stachel­drahtab­sper­rung, Gänge zwis­chen da und dort ris­sig gewor­de­nen Stahlbe­ton­wällen. Und ein paar Hin­weiss­childer, die ins Leere zu weisen scheinen; zumal an den Wällen nur noch hellere Flächen an Fototafeln erin­nern, die dort ein­mal aus­gestellt waren. Dann begin­nt man doch Kleinigkeit­en zu ent­deck­en. Eine Dritte Land­schaft: so nen­nt der Garte­nar­chitekt Gilles Clé­ment jene Räume ein­er Natur, die sich in den von Men­schen geze­ich­neten, zer­störten, ver­lasse­nen Regio­nen oder Gebäu­den ansiedelt, Indus­trieru­inen, Straßen­rän­der, ver­lassene Städte und Fab­riken, Mil­itärgelände.
Hier ist es das Zen­trum.
Das Dritte, das entste­ht und dem sein Lauf gelassen wird, ist ein Zwis­chen­zu­s­tand; etwas zwis­chen dem Kün­stlichen und dem Natür­lichen, zwis­chen Men­schen­welt und Wild­nis.
In den Sprengkam­mern am Bunker­dach pflanzte Clé­ment den Bois du trem­ble, einen aus dem Ver­bor­ge­nen, einem Gerippe aus Stahlbe­ton­trägern her­vorwach­senden zit­tern­den Wald – das sug­ges­tive Zit­tern spielt sich im Wort, in der Beze­ich­nung ab, es ist ein Wald aus Zit­ter­pap­peln. Hin­ter Git­tern, im von Lichtschneisen durch­zo­ge­nen Halb­dunkel, wach­sen die noch ziem­lich niederen Bäume in großen, teils mit Plas­tik aus­gelegten Trö­gen und streck­en ihr win­terkahles Geäst aus den Kam­mern her­vor in den Him­mel. Nichts Üppiges und Wuch­ern­des ist an diesem Wald, nur vor­sichtige Lebendigkeit an einem gegen das Leben gerichteten Ort.
Am anderen Ende des Bunker­daches liegt der Wolf­s­milch­garten, franzö­sisch Jardin des Euphorbes, was nach Epheben und dem Ephemeren klingt und nach ein­er grund­losen, leisen, von außen kaum wahrnehm­baren Euphorie. Man geht über das Git­ter von Beton­wällen oder steigt hinab in die schmalen in rechte Winkel gezwängten Täler: Ein biss­chen Geröll und moosig zartes Grün, eine dünne Schicht Leben auf dem Beton, im Feb­ru­ar­früh­ling sog­ar ein paar Blüten, daneben eine ver­wis­chte Zeich­nung, eine Land­karte ohne Ort­sna­men, nur dass es einen Fluss gibt, ist erkennbar. Man mag diese Zeich­nung nicht für Kun­st hal­ten. Es kön­nten auch Spuren der Ver­wit­terung, des Ver­falls sein. Daran sich ori­en­tieren, an ein­er Land­karte, von der man nicht weiß, ob sie eine Land­karte ist, einem Kunst­werk, von dem man nicht weiß, ob es ein Kunst­werk ist, an Spuren der Ver­wit­terung.
Dieses Mon­ster des U-Boot-Bunkers, das wie ein Mag­net die Bomben anzog und vor ihnen ver­schont blieb, während die Stadt in seinem Rück­en in Trüm­mer fiel, ist nun von ein­er scheuen Veg­e­ta­tion besiedelt und als Ganzes in den drit­ten Zus­tand ver­set­zt, etwas wie ein Kunst­werk gewor­den, aber kein Kunst­werk, son­dern eigentlich ein Leben­sraum, es ist bedeu­tungs­los und frei, für uns Spaziergänger da, ohne sich für uns zu inter­essieren.

Wichtig ist, dass zusam­menkommt, was nicht zusam­menge­hört. Damit Leben entste­ht (oder etwas anderes).

Ich schaue aus dem Fen­ster, von hier aus gese­hen ist der Euphor­ben­garten nicht erkennbar, die Zit­ter­pap­peln, braunes Geäst vor den Fab­riks­dämpfen, sind nichts Beson­deres.
Manch­mal habe ich (beson­ders hier, beson­ders abends, wenn ich nicht mehr aus dem Haus darf) den Ein­druck, die Musik, die ich auf dem Com­put­er hören kann, ist keine Musik mehr, die Filme, die ich auf dem Com­put­er sehen kann, sind ohne Leben, ohne Form, drei Minuten schon zu lang. Ich habe den Ein­druck, die Texte, die ich auf dem Com­put­er lese, sind ohne Sinn und kein Gedanken­gang nachver­fol­gbar, was ich selb­st schreibe, ist genau­so beliebig, hier und heute, ohne Musik, ohne Leben, ohne Form, ohne Sinn. Ich schalte den Com­put­er aus und stelle mir die Tiere vor, die den Strand, diesen zivil­isierten, nur leicht ver­rot­teten Stadt­strand jet­zt für sich haben. Die Stran­dläufer, die Möwen, die Bisam­rat­ten. Ich stelle mir das langsame Wach­sen, die min­i­male Bewe­gung der Veg­e­ta­tion auf dem Dach des Bunkers vor. Ich schalte den Com­put­er wieder ein und schreibe (hier und heute) diese Sätze auf.
Ich schreibe eine Wolke auf (möchte das zumin­d­est), an einem anderen Abend: diese große, flache langge­zo­gene zartlila Wolke, die kurz nach Son­nenun­ter­gang im Osten zwei Hand­bre­it über dem Hor­i­zont am Him­mel ste­ht und von der meer­bre­it­en Loire eher zitiert als gespiegelt wird. Als sie längst ver­schwun­den ist, wird das Zartlila beiläu­fig von ein­er kleineren gebauscht­en Wolke tiefer am Hor­i­zont wieder aufgenom­men und ins Dunkel geset­zt. Ein Son­nenun­ter­gang ist erzählbar und Teil der Geschichte.
So tritt diese zufäl­lige Son­nenun­ter­gangs­land­schaft in Beziehung zu mir, dem zufäl­li­gen Beobachter, zu diesem Feb­ru­artag im Pan­demie­jahr, und enthält mehr Wirk­lichkeit als die Zeitungs­seit­en, die ich sieben, acht, zwölf Mal am Tag durch­blät­tere, weil es immerzu etwas Neues geben kön­nte. Dieses Neue zer­rin­nt mir unter den Fin­gern, während die große flache zartlila Wolke und ihr zitiertes Spiegel­bild zu meinem Leben gehören, nicht als Fest­ge­haltenes, son­dern Teil eines Raumes, Erweiterung eines Raumes. Nicht Natur, son­dern Dritte Land­schaft.

Ich hätte wahrschein­lich nicht nach Worten für diesen Son­nenun­ter­gang gesucht, hätte ich nicht kurz davor Claude Lévi-Strauss´ berühmte Son­nenun­ter­gangserzäh­lung in Trau­rige Tropen gele­sen: „die Erin­nerung an das Leben ist selb­st ein Leben ander­er Art“ heißt es dort, und die Lust, einen Son­nenun­ter­gang anzuschauen, wäre eine Lust der Erin­nerung, der phan­tas­magorischen Wieder­hol­ung der „Dämpfe und Zuck­un­gen“ des zu Ende gehen­den Tages. „Auch die Spiele des Bewusst­seins lassen sich an diesen flock­i­gen Zeichen able­sen.“ Vielle­icht ger­ade deshalb, weil eine Rück­über­set­zung niemals möglich ist, ich weiß nicht, wofür es ste­ht, dass die Sonne über dem Atlantik an einem Feb­ru­artag im Jahr 1934 „aufzu­platzen“ schien „wie ein Eigelb und alle For­men, an denen sie noch fes­thing, mit Licht zu ver­schmieren“. Ich weiß nicht, wofür das „scharfe und dun­kle Her­vortreten“ eines „Ket­tenge­birges aus Dämpfen“ ste­ht. Ich weiß nicht, wofür die flache langge­zo­gene zartlila Wolke an einem Feb­ru­artag im Jahr 2021 ste­ht und wofür ihr zartes Zitat im Fluss. Am Ufer, gle­ich neben dem Denkmal, das an die Abschaf­fung der Sklaverei erin­nert, sind an einem Pfeil­er zwei Plakate ange­bracht, auf dem einen ein rot­ger­ahmtes Foto von Nikos Asla­mazidis (1972 – 2008), Opfer der mod­er­nen Sklaverei, auf dem anderen wird knapp erzählt, dass Asla­mazidis, ein griechis­ch­er Lei­har­beit­er in den Werften dieses Hafens, angestellt bei irgen­deinem Sub- oder Sub­sub­un­ternehmen, nach neun­zehn Tagen Hunger­streik gestor­ben ist. Es muss zusam­menkom­men, was nicht zusam­menge­hört.

Ich schaue aus dem Fen­ster, ein weißes Auto zieht seine Run­den, ich stelle mir vor, es wäre kein Fahrer im Wagen, es würde ganz von selb­st durch die Nacht fahren.
Da wir als zivil­isierte Men­schheit, wir harm­losen und genusssüchti­gen Sklaven­hal­ter, am Zen­it des Reich­tums dabei sind, unsere Sicher­heit­en zu ver­lieren, und geneigt, die Welt zu ver­lassen: vielle­icht gelingt es, in ein­er drit­ten Land­schaft, in einem drit­ten Zus­tand, ein­er men­schen­leeren Welt alles wiederzufind­en, alles wiederzuerfind­en, aber anders. Ephemer, ephebisch, wie die Pflanzen­decke auf dem Bunker, der zit­ternde Bewuchs eines kaum bewohn­baren Plan­eten.
Oder, ger­ade nicht in ein­er men­schen­leeren Welt.
Lévi-Strauss beschreibt ein indi­genes Volk am Rand des Ver­schwindens, die Nam­bik­wara. In den dreißiger Jahren war der Großteil dieses Volks schon aus­gelöscht, die meis­ten durch die Grippe oder andere Epi­demien gestor­ben. Bei einem der ver­sprengten Grüp­pchen, die im Regen­wald noch unter­wegs waren, ver­brachte er einige Wochen; er schreibt mit eigen­tüm­lich­er Zärtlichkeit über die eigen­tüm­liche Zärtlichkeit, mit der sie die Welt bewohnen. Diese Men­schen haben fast nichts: kein­er­lei Klei­dung, keine Hänge­mat­ten, keine Deck­en, sie schlafen nackt auf der nack­ten Erde. Und sie spie­len und umar­men einan­der, sie spie­len mit ihren Eheleuten, ihren Geliebten, ihren Kindern, ihren Haustieren, umschmiegen und umar­men ihre Eheleute, ihre Geliebten, ihre Kinder, ihre Haustiere, drän­gen sich „nackt und zit­ternd um flack­ernde Feuer“, manch­mal wer­den sie „von ein­er tiefen Melan­cholie befall­en.“ Ihre Nack­theit hat nichts mit einem reinen Naturzu­s­tand zu tun, nichts mit Frei­heit oder Erotik, aber auch nichts mit Demü­ti­gung und Erniedri­gung. „Von ihnen allen geht eine große Fre­undlichkeit aus“. Sie jagen, natür­lich, Tiere, die ihren Haustieren gle­ichen, manch­mal töten sie Men­schen, die ihnen gle­ichen, Weiße, die ihnen zu nahe kom­men.
Lévi-Strauss sieht sich an einem End­punkt der Wis­senschaft und nicht nur der Wis­senschaft: Auf der Suche nach ein­er „auf ihren ein­fach­sten Aus­druck reduzierten Gesellschaft [...] bis ans Ende der Welt gegan­gen“, entzieht sich ihm, so schreibt er, bei den Nam­bik­wara „jede sozi­ol­o­gis­che Erfahrung“: er find­et nur Men­schen.
Vielle­icht kann an solch einem End­punkt die Lit­er­atur (oder noch etwas ganz anderes?) begin­nen? Bei den zit­tern­den Bäu­men und Men­schen, den Gräsern auf Beton? Oder den zertrete­nen Muscheln, den toten Bisam­rat­ten, den im Kreis fahren­den Autos auf den nächtlichen Straßen und der Spiegelung auf dem Wass­er? Mit ein­er leisen, kaum wahrnehm­baren Euphorie? Ich schaue aus dem Fen­ster.

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