Manchmal möchte ich die Sterne essen

Michel Leiris und das Schreiben über sich selbst.

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Michel Leiris © Charles Mallison

Michel Leiris: Man entkommt der Lit­er­atur nicht, auch nicht in den äußer­sten Momenten.
Foto: Charles Malli­son / CC BY-SA 3.0

Fälschun­gen kom­men nicht in Frage, denn Fälschen würde Ster­ben bedeuten.“ Diesen Satz schreibt Michel Leiris 1934 in sein Tage­buch; er ist zu diesem Zeit­punkt dreiund­dreißig Jahre alt, hat ger­ade eine ethno­grafis­che Afri­ka-Expe­di­tion hin­ter sich (und mit dem Tage­buch dieser Expe­di­tion, Phan­tom Afri­ka, unter anderem nach­haltig das Selb­stver­ständ­nis der Ethno­grafie erschüt­tert) und ste­ht am Beginn ein­er auto­bi­ografis­chen Arbeit, die sich über fünf Jahrzehnte hinziehen, mehrere – auf den ersten Blick voneinan­der stark unter­schiedene – Büch­er umfassen und sich auf eine einzi­gar­tige und unau­flös­liche Art mit Leiris’ Leben verzah­nen wird.

Der zitierte Satz ist pro­gram­ma­tisch: Schreiben heißt für Leiris, mit bedin­gungslos­er Aufrichtigkeit Rechen­schaft über sein Leben zu geben, ohne jede Rück­sicht sich selb­st gegenüber – und zugle­ich in ein­er Art von Wette gegen den Tod. „Ist das, was auf dem Gebi­ete der Schrift­stellerei vor sich geht, nicht jeden Wertes bar, wenn es ‚ästhetisch‘ bleibt, harm­los und straf­frei?“, schreibt er in seinem Essay Lit­er­atur als Stierkampf: „Wenn es [...] nicht etwas gibt, das dem entspräche, was für den Stierkämpfer das spitze Horn des Stiers ist? Denn einzig und allein diese materielle Bedro­hung ver­lei­ht sein­er Kun­st eine men­schliche Real­ität und bewahrt sie davor, nichts weit­er zu sein als eitle Gra­zie ein­er Bal­le­ri­na.“ „Ein Buch machen, das eine Tathand­lung sein sollte, dies war das Ziel [...], das mir vor Augen stand.“

Aber wie gelangt man zu dieser Real­ität, dieser Bedro­hung, zur Tat? Was heißt das: das eigene Leben? Diese Fra­gen geben dem Unternehmen seine Dynamik, zwin­gen ihm seine Form auf: zulet­zt eine Sprache, in der sich von Satz zu Satz gegeneinan­der­laufende Ebe­nen von Erin­nerung, Reflex­ion und Neuin­ter­pre­ta­tion des eige­nen Erlebens und Schreibens zu einem dicht­en Gewebe von äußer­ster, fast suizidaler Span­nung ineinan­der­fü­gen.

Ohne Tricks und Kalkül

Man denkt beim Ver­such eines rück­halt­losen auto­bi­ografis­chen Schreibens heute zuerst an Karl Ove Knaus­gårds Kampf, an die soge­nan­nte Self-fic­tion oder an die Fasz­i­na­tion der Leser für Büch­er wie Thomas Melles Die Welt im Rück­en oder auch Wolf­gang Her­rn­dorfs Arbeit und Struk­tur; Büch­er, die zugle­ich wahrhaftig und lit­er­arisch zu sein ver­sprechen; die ohne Tricks und Kalkül auskom­men. Das spür­bare Unbe­ha­gen an der Fik­tion und dem bloßen ästhetis­chen Spiel, das Bedürf­nis nach Authen­tiz­ität und ein­er wirk­lichen Dringlichkeit scheinen Leiris’ Pro­gramm genau zu entsprechen; und doch reicht ein Blick in Man­nesalter oder in die Spiel­regel, um zu sehen, dass Leiris sich diesen Fra­gen auf eine ganz andere Art stellt als zum Beispiel Knaus­gård; dass er Fäden in ganz andere Regio­nen der Sprache, der Innen- und der Außen­welt zieht. Leiris zu lesen kann vielle­icht also auch den Blick auf gegen­wär­tige lit­er­arische Phänomene schär­fen.

Die Unter­schiede sind zunächst natür­lich biografisch und his­torisch bed­ingt: Leiris, 1901 in Paris geboren, schloss sich in den Zwanziger­jahren der sur­re­al­is­tis­chen Bewe­gung an – wobei vielle­icht weniger die Lyrik Inter­esse ver­di­ent, die er in jen­er Zeit schrieb, als die Entschlossen­heit (und zugle­ich Reflek­tiertheit), mit der er Poe­sie und Rev­o­lu­tion als die – nicht immer leicht miteinan­der vere­in­baren – Schlüs­sel­be­griffe für sein Schreiben und Leben annahm; eine Entschlossen­heit und Reflek­tiertheit, die nie irgen­dein­er sur­re­al­is­tis­chen oder anderen Dog­matik gehorchte, im Lauf der Jahrzehnte ihre For­men wech­selte und manch­mal für ihn die Gestalt ein­er auswe­glosen Apor­ie annahm, aber in keinem Moment ver­loren ging. In diesem um die Grund­la­gen der eige­nen Per­son kreisenden Schreiben geht es nie nur um die Selb­st­bestä­ti­gung eines isolierten Ich, Leiris Werk bleibt auf eine ver­quere, aber enge Weise immer mit dem intellek­tuellen und poli­tis­chen Zeit­geschehen ver­bun­den; zeich­net (um den Titel eines Sym­po­sions zu Leiris aufzunehmen) so etwas wie „l´envers du siè­cle“, die Innen- oder Rück­seite des Jahrhun­derts. „Ein tas­ten­des, suchen­des Schreiben, das zugle­ich insis­tent die anthro­pol­o­gis­chen, poli­tis­chen und moralis­chen Fra­gen dieses Jahrhun­derts stellt, es stellt sie radikal und kom­pro­miss­los, auch und ger­ade dort, wo sie unbeant­wort­bar sind.“ (Wal­traud Göl­ter) Immer ist Leiris bere­it, die eige­nen Illu­sio­nen zu zer­brechen, nie dazu, sich in Desil­lu­sion­iertheit auszu­ruhen.

Aber eigentlich ist es unangemessen, auf so glob­ale Weise über einen Autor zu sprechen, der im Schreiben jede Abrun­dung seines Werks unter­gräbt und so entsch­ieden wie Leiris alles Erre­ichte immerzu in Frage stellt. Bess­er scheint es mir, so wie er selb­st es in immer neuen Schleifen untern­immt, einzelne Punk­te und Regio­nen dieses Sprach- und Leben­sraumes aufzusuchen und zu beschreiben.

Selb­sterkun­dung

An der Naht­stelle der bei­den Berufe Leiris’, der Eth­nolo­gie und der Lit­er­atur, ste­ht seine erste wesentliche Selb­sterkun­dung, Phan­tom Afri­ka. Das Buch, ein fast unredigiertes Tage­buch ein­er Expe­di­tion von Dakar nach Dschibu­ti in den Jahren 1931 bis 1933, pro­tokol­liert all die Dinge, die Reisende (und umso mehr Reisende im Dien­ste der Wis­senschaft) gerne aus ihren Aufze­ich­nun­gen löschen: Neben den Bericht­en über ethno­grafis­che Befra­gun­gen, Reis­erouten, Begeg­nun­gen, Orte und Land­schaften ste­hen nicht nur Schilderun­gen der Langeweile des Reisens, sex­ueller Fan­tasien und Nöte (die in triste Mas­tur­ba­tion mün­den), des Zwangs, Autorität vorzus­piegeln, und der nicht unbe­grün­de­ten Angst, sich dabei nur lächer­lich zu machen, zahlre­iche Momente der Gen­ervtheit von der eige­nen wis­senschaftlich-bürokratis­chen Tätigkeit und der Ren­itenz ihrer men­schlichen Objek­te, son­dern auch ein­drück­liche Nach­weise der vol­lkomme­nen Rück­sicht­slosigkeit, mit der die Forsch­er als „Dämo­nen oder Schweine­hunde“ zum Entset­zen der Dorf­be­wohn­er kono-Heiligtümer der Dogon, die diese ihnen nicht zu verkaufen bere­it sind, aus unbe­tret­baren Fetis­chhüt­ten stehlen oder Malereien aus äthiopis­chen Kirchen abtra­gen, um sie durch eigenes Gekritzel zu erset­zen. Diese Mit­täter­schaft ste­ht (wie ihm selb­st klar ist) in einem eigen­tüm­lichen Kon­trast zu Leiris’ erbit­tert­er Feind­schaft zum Kolo­nial­is­mus.

Gle­ichzeit­ig ver­hehlt er nicht die exo­tis­tis­chen Fan­tasien, den Über­druss an Europa und die Verzwei­flung an den eige­nen europäis­chen Lebensver­hält­nis­sen, die ihn sich nach Afri­ka sehnen ließen, als wäre es das raumge­wor­dene Andere; er ergibt sich im Schreiben diesen Wider­sprüchen und Ambivalen­zen und seinen wech­sel­nden Stim­mungsla­gen. Sozusagen im sel­ben Atemzug mit dem Bericht über einen kono-Dieb­stahl schwärmt er von der Dogon-Region in den Ban­di­a­gara-Bergen Malis: „ein Land, das zu kor­rumpieren die Europäer alle Mühe haben wer­den“ und fragt dann immer wieder: „Wann hauen wir hier endlich ab.“ Immer wieder scheint ihm Afri­ka zu wenig afrikanisch; Reisen bedeutet auch ein Aus­treiben des Exo­tismus. Momente, in denen er der ersehn­ten anderen, beson­deren – poet­is­chen – Erfahrung nahe gekom­men scheint, blitzen auf; tre­f­fen ihn wie Blitze, aber sie scheinen keine Spuren in seine Exis­tenz einzuschreiben.

„Am Fuß des Dor­fes You­go ange­langt, in ein­er Land­schaft, die in der Tat das Ende der Welt her­auf­beschwört (ein Kon­glom­er­at von Häusern, heili­gen Hüt­ten, Höhlen und riesi­gen Geröll­halden) [...] Wir richt­en uns [ein] fast mit­ten zwis­chen den Höhlen mit den Gebeinen und auf einem so steilen und schmalen Felsen, daß unsere Bet­ten buch­stäblich am Rand des Abgrunds ste­hen. Beim Schreiben sehe ich die Sonne unterge­hen und die wie vom Blitz oder mit einem Mess­er zugeschnit­te­nen Felsen allmäh­lich ins Schwarze tauchen. [...] Alles ist hier Abgrund, heller Him­mel und Tiefe.“ „Wolken, die uns gegen den Kopf stoßen, erschreck­end wie Wogen oder überdi­men­sion­ale Law­inen. Eine Wolke im Pro­fil sehen [...] Und ich habe sie gese­hen, diese Wolke.“

Ich habe sie gese­hen: Als wäre der Augen­blick endgültig und in den Besitz von Leiris einge­gan­gen; doch der Ort, der dem Ende der Welt gle­icht, ist niemals wirk­lich Ende der Welt; die Reise geht ein­fach weit­er, mit ihren banalen Aspek­ten, die Zeit läuft weit­er, und der Besitz wird unsich­er. Das Sehen selb­st ist von Grund auf unsich­er, wie sich in hüb­schen, einan­der zugle­ich ergänzen­den wie wider­sprechen­den Ein­sicht­en wie diesen zeigt: „Das Irri­tierende [...] ist, daß die Land­schaft ger­ade dem gle­icht, was man erwarten kön­nte.“ Und: „Ich muss schon die Pho­tos anschauen, um über­haupt gewahr zu wer­den, dass es hier wie in Afri­ka aussieht.“ Sehen heißt auch: nicht eins sein mit dem Gese­henen; da sein, aber die Dis­tanz nicht aufheben und nicht aufheben kön­nen.

Beson­ders deut­lich wird diese Kluft im Innern der Präsenz in Leiris’ Erzäh­lun­gen von den Besessen­heit­skul­ten der Zar, die er in Gondar, Äthiopi­en erforscht: die Rit­uale, von ein­er Pries­terin namens Malkam Ayyahu geleit­et, an denen er (den Dol­metsch­er neben sich und das Notizbuch auf den Knien) über mehrere Monate hin­weg teil­nimmt, erscheinen ihm als eine „Welt voller Offen­barun­gen“, die method­is­che Befra­gung, die er durch­führen muss, wird ihm zuweilen unerträglich: „Zum Teufel mit der Ethno­gra­phie“, die nur zu „völ­liger Gle­ichgültigkeit“ führt. „Ich wäre lieber selb­st besessen als die Besesse­nen zu studieren“, klagt oder wün­scht er und merkt oder wäh­nt immer wieder, dass es, sobald man sich an ihn, den Europäer wen­det, nur noch um Geld und Geschenke geht: „Ein entset­zlich­es Ding, der Europäer zu sein, den man nicht mag, auch wenn man ihn respek­tiert, solange er in seinem Hal­bgöt­ter­stolz ver­bar­rikadiert bleibt, und den man in den Dreck zieht, sobald er sich annäh­ern möchte.“

Vertreter der Kolo­nial­macht

Die Exis­tenz dieser Schranke ver­weist ihn auf sich selb­st zurück; nicht allein darauf, dass er Europäer und – so wenig er es auch sein möchte – Vertreter der Kolo­nial­macht ist. „Dazu kommt“, beken­nt er in ein­er bemerkenswert ambiva­len­ten Stelle „der starke sex­uelle Sog der ver­femten Prak­tiken und ein sehr deut­lich­es Empfind­en für jene extrav­a­gante Lüge: die Magie.“ Bleibt man, wenn man der vol­lkomme­nen Gle­ichgültigkeit ent­ge­hen und dem Begehren und der Magie treu bleiben will, angewiesen auf die Lüge?

In der Weise wie Leiris, der Sur­re­al­ist-als-Eth­nologe, kön­nte kaum jemand ander­er die Zar-Besessen­heit­srituale wahrnehmen und beschreiben, in denen nicht bloß ani­mistis­che Kulte mit christlichen, islamis­chen und jüdis­chen For­men ver­schmelzen, son­dern in ein­er extremeren Form von Synkretismus Reli­gion, Blas­phemie und kör­per­liche Wirk­lichkeit eins sind – in dieser Wider­sprüch­lichkeit ist das Rit­u­al nur lit­er­arisch fass­bar, wed­er nüchtern eth­nol­o­gisch noch naiv magisch-religiös. Fass­bar, nicht beherrschbar, für den Schreiben­den, der über die Schranke blickt, dem sex­uellen Sog aus­ge­set­zt ist, aber niemals befriedigt.

Gren­zen der Authen­tiz­ität

Am Ende von Phan­tom Afri­ka ste­ht für Leiris die ent­täuschende, jedoch seinen Blick nicht nur auf sich selb­st, son­dern auch auf Afri­ka öff­nende Ein­sicht, dass man durch Reisen nicht sich selb­st los wird und das Andere nicht auf fremde Kon­ti­nente und Kul­turen zu pro­jizieren, son­dern eher in sich selb­st zu suchen hat.

Inter­es­sant im Zusam­men­hang mit seinem späteren Werk ist aber vor allem, wie Leiris im Tage­buch­schreiben unver­hofft an die Gren­zen dessen stößt, was man Authen­tiz­ität nen­nt. Der Reisende erscheint sich in einem Zus­tand ständi­gen Schwankens; die Tage­buch­form ver­stärkt diesen Anschein nur: das tägliche Auf­schreiben allein kann die Wahrhaftigkeit sein­er Ein­drücke nicht garantieren. Es formt sich kein Bild: die Ein­drücke – vom Land wie von der eige­nen Per­son – schieben sich nicht wie Puz­zlestücke ineinan­der, son­dern ste­hen einan­der ent­ge­gen. Ist das, dieses Schwanken und dieses Nicht-In-Eins-Kom­men eben die Authen­tiz­ität oder im Gegen­teil, ein Sich-Ver­lieren?

Es gibt in Phan­tom Afri­ka eine Liebesgeschichte oder etwas, das eine Liebesgeschichte sein kön­nte. Wenige Jahre später, in seinem Buch Man­nesalter erzählt Leiris die Geschichte neu; ein­mal ergibt sie Sinn, ein­mal ver­liert sich in ihr der Sinn, welche Ver­sion ist wahrer? In Phan­tom Afri­ka taucht Emaway­ish, die Tochter und auser­wählte Nach­fol­gerin der Besesse­nen-Pries­terin Malkam Ayyahu, erst­mals im August 1932 als „schöne, etwas ver­welk­te Wach­sprinzessin“ auf, Anfang Dezem­ber 1932, beim Abschied aus Gondar, behauptet Leiris, nur um die Zar, die Geis­ter, nicht um ihre „Pferde“, die Besesse­nen wie Emaway­ish, trauern zu kön­nen; dazwis­chen ist ein ständi­ger Wech­sel von Anziehung und Abstoßung (bis hin zum „Angewidert­sein“), von eisiger Beobach­tung und inten­siv­er Fasz­i­na­tion zu sehen, deren Gegen­stand, manch­mal kaum unter­schei­d­bar, das Rit­u­al und die Frau zugle­ich sind. Niemals, außer in ein­er Vernei­n­ung, fällt das Wort Liebe oder Ver­liebtheit; die Beziehung erschöpft sich (während die bei­den örtlichen Gerücht­en zufolge schon als kün­ftiges Ehep­aar gel­ten) in ein­er Abfolge von Gesten ambiva­len­ter Zärtlichkeit, die nie beson­ders weit führen. Die oben zitierte Pas­sage vom „entset­zlichen Ding, Europäer zu sein“ liest sich allerd­ings etwas anders, wenn man die nachträglich an ganz ander­er Stelle einge­fügte Fußnote bemerkt hat, der zu ent­nehmen ist, dass an diesem Tag, ein einziges Mal, Leiris der Frau unter die cham­ma gegrif­f­en hat („ich werde nie die Feuchte zwis­chen ihren Schenkeln vergessen“).

Am Höhep­unkt von Leiris zurück­hal­tender Lei­den­schaft kehrt das „Ich habe gese­hen“ wieder: das begeis­tert-gesteigerte Hier­sein und die Dis­tanz gle­icher­maßen: „Ich habe Emaway­ish in Trance gese­hen ... Ich habe sie das Blut trinken sehen. Ich habe sie sog­ar thro­nen sehen, das Bauch­fell und das Gedärm des Schafes um ihre Stirn geschwun­gen [...] noch nie hat­te ich der­maßen emp­fun­den, wie sehr ich religiös bin, aber von ein­er Reli­gion, deren Gott man mich sehen lassen muss ...“

In Man­nesalter, 1939 erschienen, heißt es: „... als dieses Opfer stat­tfand, schien es mir, als knüpfe sich zwis­chen ihr und mir eine Beziehung, inniger als jede Art von fleis­chlichem Ver­hält­nis“. Dieser Satz ist nur im Prä­ter­i­tum for­mulier­bar: einge­fügt in einen schein­bar objek­tiv­en Blick auf die eigene Ver­gan­gen­heit und Exis­tenz. Seine Beziehung zu Emaway­ish bringt Leiris hier auf den Punkt: „Nach Monat­en der Keuschheit und der Entsa­gung, während meines Aufen­thaltes in Gondar, ver­liebte ich mich in eine Äthiopierin, die physisch und moralisch meinem dop­pel­ten Ide­al der Lucre­tia und der Judith entsprach.“

Der Sinn entste­ht im Nach­hinein. Aber was ist wahrer: das „Ich ver­liebte mich – alten Ide­alen in meinem Kopf entsprechend“ oder eine irre­duz­i­bel bild­hafte Stelle wie diese: „Ich schaue auf 3 Dinge: das Merkheft von Abba Jerome [dem Dol­metsch­er], das Zwer­ch­fell des Schafes, das nack­te Knie von Emaway­ish und füh­le mehr denn je meine heil­lose Vere­in­samung. Als bilde­ten diese Punk­te in meinem Kopf ein Dreieck (dessen Verbindun­gen ich als einziger kenne) und als schnit­ten sie um mich herum das übrige Uni­ver­sum mit dem Mess­er weg, wie um mich von ihm abzutren­nen und mich für immer in den [...] Kreis mein­er Verza­uberun­gen einzuschließen.“

Die bei­den Erzäh­lun­gen, einan­der gegenübergestellt, zeigen zwei For­men von Wahrhaftigkeit oder des Scheit­erns an der Wahrhaftigkeit. Am Ende von Phan­tom Afri­ka schreibt Leiris: „Fluch über die Lit­er­atur. Fluch über dieses Tage­buch (das – wie ich es auch anstellte – let­ztlich doch nicht mehr ganz aufrichtig ist).“ Was Leiris aber let­ztlich ger­ade zur Lit­er­atur zurück­führen wird, in ihr wird er ein anderes Exerz­i­tium erproben.

Ver­schärfte Krise

Die Krise, deren Lösung Leiris von sein­er Reise und der Begeg­nung mit dem soge­nan­nten Frem­den erhofft hat, hat sich nur ver­schoben und – nach­dem der Ausweg des Reisens ver­loren ist – ver­schärft; Leiris, der sich schon Ende der Zwanziger­jahre ein­er Psy­cho­analyse unter­zo­gen hat­te, stellt sich nun – übri­gens auf Anre­gung seines Fre­un­des Georges Bataille – einem in mancher­lei Hin­sicht psy­cho­an­a­lytisch geprägten lit­er­arischen Kampf mit sich selb­st und schreibt Man­nesalter: ein auto­bi­ografis­ches Buch, aber genau das Gegen­teil eines spon­ta­nen Tage­buchs. „Um mich auszu­drück­en, wählte ich einen möglichst objek­tiv­en Ton, ver­suchte, mein Leben zu einem einzi­gen Block zusam­men­z­u­fassen (ein Objekt, das ich würde berühren kön­nen, wie um mich gegen den Tod zu feien, ger­ade dann, wenn ich para­dox­er­weise alles zu riskieren bere­it war).“

Träu­men und Bildern, oft Kind­heits­bildern ent­lang will er ger­ade seine Schwächen, seine Angst und seine Ver­suche, durch diverse Exzesse diese Angst und diese Schwächen zu besiegen, in den Fokus nehmen – wobei er dur­chaus Sinn für das Ele­ment von Lächer­lichkeit an diesen Exzessen hat, die sich meist als „klägliche und ungeschick­te Befreiungsver­suche“ her­ausstell­ten statt die erwartete „höch­ste Lust“ zu brin­gen. Die Stierkampfmeta­pher, unter die Leiris sein Buch stellt, ist eine dop­pelte: Man darf nicht überse­hen, dass er nicht ein­fach dem ele­gant-hero­is­chen Torero-Priester nach­strebt, son­dern sich eben­so sehr mit dem Sti­er iden­ti­fiziert.

Leiris schreibt von der Schüchtern­heit, die ihn zu man­is­chen Kon­fes­sio­nen zwingt; analysiert mit Lucre­tia und Judith die gegen­sät­zlichen Quellen sein­er ero­tis­chen Obses­sio­nen; schreibt von dem Gefühl, nur so zu tun als ob, ein „mieser Klein­bürg­er“ zu sein, der sich die Maske des Radikalen auf­set­zt; von dem, was er als seine Impotenz beze­ich­net, wom­it aber weniger ein kör­per­lich­es Symp­tom gemeint ist, als ein­er­seits sein Streben, den Aspekt der Fortpflanzung – und damit der Zeitlichkeit, also Sterblichkeit, wie auch der bürg­er­lichen Fam­i­lien­grün­dung – aus der Sex­u­al­ität zu eli­m­inieren, ander­er­seits seine Zurück­hal­tung; er verdächtigt sich, nie an die Gren­ze zu gehen, immer eine Reserve zu bewahren, ob in der Liebe oder im (Befreiungs-)Kampf. Natür­lich ist eben dieser Ver­dacht selb­st ein Teil des Symp­toms, aus ihm erwächst ein ganzes Sys­tem von Vor­be­hal­ten; aber zugle­ich ist zu beto­nen, dass das kri­tis­che Selb­st­bild und der Blick von außen nicht unbe­d­ingt miteinan­der übere­in­stim­men und Leiris schon in sein­er sur­re­al­is­tis­chen Zeit äußer­sten, ein­mal fast selb­st­mörderischen Ein­satz zeigen kon­nte: Bei einem Ban­kett für den Dichter Saint-Pol-Roux im Jahr 1925 wurde er nach seinem Aus­ruf „Nieder mit Frankre­ich!“ von ein­er patri­o­tis­chen Men­schen­menge und den zu sein­er Ret­tung hinzugekomme­nen Polizis­ten beina­he gelyncht. Und, poli­tisch und men­schlich konkreter, sein Engage­ment für afrikanis­che Migranten brachte Leiris (damals Leit­er der Afri­ka-Abteilung des Paris­er Musée de l’Homme) noch Ende der Sechziger­jahre eine kurzzeit­ige Ver­haf­tung ein.

Es gibt, heißt es in Man­nesalter, „im Herzen der Welt etwas, das glüht und rast, [...] etwas, das ganz allein für sich schre­it und ein­fach ver­langt, daß man es höre“. Wollte man dem Anspruch dieses Schreis in Poe­sie, Liebe oder Revolte gerecht wer­den, wird jede Art zu leben „ein täglich­er Vor­wurf“, „weil man nicht ‚das Unmögliche begehrt‘ hat, weil man sich beschei­den kon­nte.“ Statt sich dem Wahnsinn, dem er sich eine Zeit lang nahe fühlt, oder der alle Gren­zen auflösenden Liebe hinzugeben, entschei­det sich Leiris zu heirat­en – also für Zwies­palt und Selb­stvor­wurf. Das Buch endet mit einem Traum, in dem er ein­er Fre­undin erk­lärt, „warum es nötig ist, mit­tels Klei­dung eine Mauer um sich zu erricht­en.“ Ist jed­er Text, in dem jemand über sich selb­st schreibt, eine Mauer ähn­lich­er Art; und eine Form von Beschränkung?

Im Nach­hinein kann Man­nesalter als eine Art Grundgerüst für die Spiel­regel erscheinen, an der Leiris die näch­sten fün­fund­dreißig Jahre lang schreiben wird, wie um in der Sprache doch das Unmögliche zu find­en und diese Beschränkung zu über­winden. Das Wirk­lichkeits­ma­te­r­i­al, das sich später zu einem vielschichti­gen sprach­lichen Gewebe spin­nt, oder zumin­d­est vieles von diesem Wirk­lichkeits­ma­te­r­i­al, von sein­er Kind­heit an über die Zeit, die er im Kreis um André Mas­son ver­brachte, bis hin zu sein­er (let­ztlich über sechzig Jahre dauern­den) Ehe mit Louise Kah­n­weil­er, seinen Reisen, Fluchtver­suchen, Gren­zgän­gen – seine bürg­er­liche und seine anti-bürg­er­liche Exis­tenz gle­icher­maßen – ist hier mosaikhaft in konzen­tri­ert­er Form dargestellt, nicht ohne dass jenes verzweifelte innere Glühen und Rasen merk­bar wäre, das den Text immer über sich hin­aus­treiben lässt.

Man kann nicht behaupten, dass diese Darstel­lung sich kün­stlich run­den würde, aber Man­nesalter, nach klas­sis­chen Kri­te­rien sein gelun­gen­stes Buch, erschien Leiris bald zu starr; let­ztlich als Fälschung, schon im Buch fällt er sich zuweilen ins Wort: „je länger ich in mein Inneres schaue, desto ver­wor­ren­er wird alles“, die Kom­po­si­tion nach The­men oder The­men­blöck­en scheint ihm willkür­lich. Und, vielle­icht noch wesentlich­er, ihm scheint, er wäre in der Aufrichtigkeit und Selb­stent­blößung nur in die Falle des narzis­stis­chen Kreis­laufs gegan­gen: In jed­er Selb­stan­klage ver­steckt sich ein Wun­sch nach Bewun­derung; den zu analysieren das Spiel nur auf eine neue Ebene hebt, ohne es zu been­den. Wie kann es gelin­gen, dem zu entkom­men und auf etwas anderes, Öff­nen­des – oder etwas wie einen sozusagen objek­tiv­en, unz­er­stör­baren Kern zu stoßen?

Mau­rice Blan­chot schreibt in einem Essay, der im Nach­wort zu Stre­ichun­gen (Bif­fures), dem ersten Band der Spiel­regel abge­druckt ist, Man­nesalter habe „in sein­er star­ren Wahrhaftigkeit die beständi­ge Unge­nauigkeit des lebendi­gen Wesens nur ver­rat­en“ kön­nen, die Spiel­regel hinge­gen entste­he „im Schim­mern ein­er stets erwarteten Wahrheit“; sie zeigt sich als poten­ziell end­los­es Auto­bi­ografie-Essay-Gedicht-Textge­bilde, das die inner­sten Faserun­gen und Brüche (die Fib­rillen und Bif­furen) eines Men­schen­lebens aus­lotet.

Erzäh­lung, Erin­nerung, Traum

Die Spiel­regel umfasst vier Bände, deren let­zter 1975 erscheint, und auch die späteren Büch­er, Das Band am Hals der Olympia und, 1988, zwei Jahre vor Leiris’ Tod fer­tiggestellt und noch nicht ins Deutsche über­set­zt, A Cor et à cri, sind im Grunde Fort­set­zun­gen des Pro­jek­ts. In lan­gen span­nungsre­ichen Sätzen in klas­sis­chem, manch­mal beinah gespreizt wirk­en­dem Franzö­sisch schnei­det er Erzäh­lung, Erin­nerung, Traum und Reflex­ion ineinan­der, unter­sucht und ver­wirft immer wieder, was er her­aus­ge­fun­den hat, sucht nach der Spiel­regel für sein Leben, scheit­ert naturgemäß wiederum und lässt aus dem Scheit­ern etwas anderes entste­hen.

Poe­sie und Rev­o­lu­tion erscheinen (und entziehen sich) im Fort­lauf dieses Werkes als zwei For­men der Sprache oder zwei Gren­zpunk­te. Im ersten Band – den Leiris in der Zeit der deutschen Besatzung von Paris schrieb – vor allem impliz­it: Am Beginn ste­ht die Reka­pit­u­la­tion und Analyse des geheimen Lebens, das die Wörter in Leiris führen. Das erste Kapi­tel, „...reuse­ment!“, das über das ganze Werk seine Fäden zieht, erzählt anhand ein­er Kind­heit­serin­nerung so etwas wie die Ent­deck­ung der Sprache, genauer gesagt: die Ent­deck­ung, dass man niemals „ganz allein spricht“, dass die Sprache zwei Seit­en hat, „eine nach innen, eine nach außen gekehrt“; dass die Wörter nicht sein Eigen­tum sind, son­dern zugle­ich etwas „Öffentlich­es und Geöffnetes“, „in einem Auf­blitzen“ Geteiltes, dass die Sprache ihn „über­steigt und von allen Seit­en ihre mys­ter­iösen Füh­ler vorschiebt“.

Jedes Kapi­tel von Stre­ichun­gen wird zu einem dicht­en Wort-Kör­p­er-Gefüge, in dem Leiris nachvol­lziehen will, wie das Sub­jekt aus ein­er Traum­sprache von Asso­nanzen geboren wird. Über weite Klam­mern sind plöt­zliche Bezüge zu ent­deck­en; ähn­lich dem, was Wal­ter Ben­jamin „chock­hafte Kon­stel­la­tio­nen“ nen­nt. Ein Traum, ein Wort, ein erin­nert­er Gegen­stand haben in Leiris Tex­tkos­mos densel­ben Stel­len­wert wie Schlüs­sel­szenen sein­er Erin­nerung.

Wie schon in Man­nesalter sucht er eine Tiefen­schicht sein­er Exis­tenz in seinen Träu­men, wobei die Art, in der er seine Träume erzählt und weit­er­schreibt, wed­er rein sur­re­al­is­tisch noch streng psy­cho­an­a­lytisch ist, son­dern auf sub­tile Art das Ana­lytis­che, die Reflex­ion mit Bild­haftigkeit und Poe­sie ver­schränkt und ver­schmilzt; der analysierte und mit Leben­sre­al­itäten ver­bun­dene Traum bekommt im Text etwas wiederum – angere­ichert – Traumhaftes.

Es find­en sich Beschrei­bun­gen von unge­heur­er Detail­ge­nauigkeit in den Büch­ern – etwa die Beschrei­bung eines Phono­graphen, der Hand­griffe, die dessen Bedi­enung bedurfte, der Kör­pererin­nerung: „daß zum Beispiel die Fin­ger mein­er recht­en Hand noch immer (wenn ich mich ein wenig darauf konzen­triere), den genauen Wider­stand spüren, den der Schlüs­sel des Räder­w­erks ihnen leis­tete, wenn ich es auf­zog ...“; Beschrei­bun­gen, die das oft bil­lig gebrauchte Wort hal­luz­i­na­torisch ver­di­enen, da sie zu dem Punkt vor­drin­gen, wo sich zart, fast unmerk­lich in der Beschrei­bung eine zweite Seite der Dinge zu zeigen begin­nt, ein magis­ches Schillern. Diese Detail­liertheit bewegt sich auf ein­er ganz anderen Ebene (der Sprache und des Realen) als die Knaus­gårds. Ein­er all­ge­meineren und zugle­ich unsicher­eren Ebene: Was heißt das, ehrlich von sich sprechen? Ist die Erin­nerung auf der Ebene des Erzählbaren wirk­lich zu fassen? (Auch Knaus­gård weiß natür­lich, dass es nicht so ein­fach ist; weshalb son­st würde er an den Beginn von Ster­ben eine Reflex­ion über die Augen in Selb­st­por­traits Rem­brandts stellen.)

Blan­chot meint, die Erin­nerun­gen wür­den in der Spiel­regel „von der Bewe­gung des Denkens zer­stück­elt, das sie unabläs­sig umrührt, um ihnen ihre Keim­fähigkeit und ihre aktive Kraft wiederzugeben“. Im Gleit­en zwis­chen Real­ität, Erzäh­lung, Traum, Reflex­ion, Inter­pre­ta­tion entste­hen Wieder­hol­ungss­chleifen, for­men Muster in Leiris wirk­lichen Leben und Ver­hal­ten wie im Text. Er stellt sich, ein­er glei­t­en­den Wahrheit, die vielle­icht nur die Wahrheit und „die Erfahrung eines Gleit­ens ist“, eine Erkun­dung der Zwis­chen­räume, Abwege und Untiefen, die eine Men­sch­enex­is­tenz aus­machen.

Stre­ichun­gen, der erste Band der Spiel­regel – ein sich ins Einzelne und Kle­in­ste, in Sil­ben und Klänge ver­wüh­len­des Buch –, zeigt inwendig die Spuren sein­er (im Tage­buch mit ihrer bedrück­end zukun­ft­slosen Stim­mung plas­tisch spür­bar wer­den­den) Entste­hungszeit, „dieser Zeit, in der der­art scheußliche Dinge geschehen, dass es unmöglich wurde, sich nicht mehr oder weniger ver­ant­wortlich zu fühlen“, und in der „jede einzelne Geste [...] eine Trag­weite“ und Bedeu­tung hat, sodass es für Leiris „nicht in Frage“ kam, etwas zu veröf­fentlichen, „denn das würde für mich impliz­it bedeuten, den gegen­wär­ti­gen Zustän­den in der Poli­tik zuzus­tim­men“.

In den weit­eren Bän­den wer­den, von der Befreiung von Paris bis zur Begeis­terung und Ent­täuschung über die Rev­o­lu­tio­nen in Chi­na und Kuba, dem Wider­stand gegen den Alge­rienkrieg und dem Mai ’68, die Sta­tio­nen ein­er linken intellek­tuellen Biografie direk­ter Gegen­stand der Erzäh­lung und Reflex­ion; ohne dass Leiris je die Kluft zwis­chen sein­er dich­ter­ischen Arbeit und seinem poli­tis­chen Engage­ment übertünchen würde. Der Zusam­men­hang mit sein­er Zeit – heute unklar gewor­den, als wäre jed­er eingeschlossen in sein eigenes Leben – ist für Leiris noch selb­stver­ständlich und eine ständi­ge Her­aus­forderung.

Der Text verdichtet sich zu nar­ra­tiv­en Knoten­punk­ten: Im zweit­en Band, Krem­pel, etwa eine Erzäh­lung von einiger Selb­stironie über einen naiv­en betrunk­e­nen Ver­brüderungsver­such mit der ein­heimis­chen Bevölkerung in Dakar am Tag des Kriegsendes, „unter der unglaublichen Menge von Ster­nen, die den tro­pis­chen Him­mel über­säen [...]. diesen Ster­nen, die ich manch­mal essen möchte“, in ein­er Nacht, an derem Ende er aus­ger­aubt und mit nur noch einem Schuh durch die Stadt humpelt; und, vor allem, eine inten­sive Liebesgeschichte mit ein­er algerischen Pros­ti­tu­ierten in einem Wüstenkaff während des Drôle de guerre. Die Erzäh­lung dieser Liebe, deren Zauber im Nach­hinein immer frag­würdi­ger wird, führt ihn hin zu dem einzi­gen Moment, wo er „die Empfind­ung [hat­te] durch den Spiegel hin­durchzuge­hen“, dem Tod der Dich­terin Lau­re, in der Leiris „bish­er schon das tre­f­fende Abbild der Heili­gen des Abgrunds gese­hen hat“. Wie bei den Besessen­heit­sritualen in Gondar ist dies ein Moment, in dem Reli­gion, Blas­phemie und kör­per­liche Präsenz eins sind. Die Ster­bende, „die schon unendlich fern zu sein“ scheint, macht eine iro­nisch ket­zerische Geste, und Leiris fühlt einen „heili­gen Schreck­en“ und eine eisige Kälte in seinem Rück­en­mark, ein bläulich­es Gleißen geht (so nimmt es Georges Bataille, Lau­res Lebens­ge­fährte, wahr) von seinem Kopf aus.

Etwas Wildes, Vor­be­halt­los­es, Unin­te­grier­bares erscheint in Momenten wie diesem im so dicht durchkom­ponierten und von Vor­be­hal­ten und Reflex­io­nen geprägten Text.

Auch im Zen­trum des drit­ten Bands und vielle­icht der Spiel­regel als Ganz­er ste­ht eine Gren­z­er­fahrung, näm­lich ein Suizid­ver­such, den Leiris 1957 unter­nahm. Wie er diesen beinah gelun­genen Selb­st­mord­ver­such schildert – verk­lam­mert mit der poli­tis­chen Sit­u­a­tion, mit ein­er kom­plex­en Abfolge von Traumerzäh­lun­gen, mit ein­er Liebe, die ihm wie die Erfül­lung ein­er lan­gen Sehn­sucht erschien und mit der ver­glichen „alle anderen Aben­teuer, die ich erleben kon­nte, nur einen zaghaften Ersatz darstell­ten“, rück­sicht­s­los gegen sich selb­st, aber mit äußer­ster Diskre­tion den anderen Beteiligten, der Ehe­frau, der Geliebten gegenüber –, das ist unmöglich hier nachzuerzählen. Bemerkenswert ist das Faz­it, das Leiris zieht: „Mir scheint, daß ich in diesem Augen­blick, Leben und Tod, Rausch und Scharf­sicht, Inbrun­st und Vernei­n­ung ver­mäh­lend, jene faszinierende Sache am innig­sten umarmt habe, der ich noch immer nach­spüre, weil sie nie ganz zu erfassen ist [...]: die Poe­sie.“

Darin ist keine Entschei­dung für den Tod zu sehen: Was Leiris Poe­sie nen­nt, ist radikal ger­ade in sein­er schar­fen Wider­sprüch­lichkeit. Es ist ein Gren­zpunkt, an dem Sprache und Welt zum Zer­reißen ges­pan­nt sind. In der Schleifen­struk­tur der Spiel­regel entste­ht eine merk­würdi­ge Form von Zeitlichkeit: Als wäre das Leben ein end­los­er Raum, ein Net­zw­erk voller „Knoten von Fak­ten, Gefühlen und Begrif­f­en“, in dem ver­schiedene Punk­te – auch diese äußer­sten Gren­zpunk­te – immer wieder neu aufzusuchen sind, es möglich ist, von einem zum anderen zu gleit­en, Verbindun­gen und Übergänge herzustellen, „die sich ver­fes­ti­gen, bis sie die wahren Erfahrun­gen darstellen“.

Materie in Herzen­sangst

Ein­mal zeigte man dem Kind Michel Leiris einen aus dem Nest gefal­l­enen kleinen Vogel. Die Erin­nerung an dieses Tier, an die Begierde, diese „kleine, fast ungestalte Masse von schreien­der Nack­theit und schmutzi­grosa Farbe“, dieses „Stück Materie in Herzen­sangst“, „gebün­deltes Leben, Fieber und Zit­tern“ in der Hand zu hal­ten, zieht sich durch alle vier Bände der Spiel­regel. Es wäre „das Absolute, in Hän­den gehal­ten“, schreibt er, vierzig Jahre danach. „Die magis­che Welt der Sprach­aben­teuer mit der nack­ten und schreien­den Welt des aus dem Nest gefal­l­enen Vogels in Ein­klang zu brin­gen, das war mein erk­lärtes Ziel“. Was besagt so ein Bild außer eben das: das nack­te Leben? Was besagt es, dass Leiris den kleinen Vogel nie berührt hat?

Das Unerr­e­ichte, das Abwe­sende for­men den Raum. Durch Träume hin­durch erin­nert sich Leiris in den dicht­en Pas­sagen, die dem Suizid­ver­such voraus­ge­hen, an den Park von Ermenonville: langsam durch­wan­derte Zonen von Leere und Fülle, in deren Zen­trum das leere Grab von Jean-Jacques Rousseau liegt, der Ort, wo „Rousseaus Asche fehlt“. Damit ist der Platz des authen­tis­chen Autoren-Ich in der Auto­bi­ografie, der Punkt, an dem jedes Beken­nt­nis lan­den muss, ganz gut definiert. Es ist der Punkt des Scheit­erns, von dem Leiris immer wieder spricht, zugle­ich ist es der Punkt, wo das Scheit­ern sich ver­wan­delt: Wenn Leiris mit der Spiel­regel seine eigene Stat­ue errichtet hat, wie er schon im ersten Band erwägt, so gle­icht sie eher als einem Stand­bild einem jen­er „chi­ne­sis­chen Mon­u­mente, wo die Räume und Zwis­chen­räume [...] wichtiger sind als die eigentlichen Gebäude“.

Im vierten Band der Spiel­räume, Wehlaut – Frêle Bruit, was sich auch als „Schwach­es Geräusch“ oder „Frag­iler Lärm“ über­set­zen ließe – , und im Band am Hals der Olympia wach­sen die Zwis­chen­räume, eine größere Leichtigkeit ist zu spüren, ohne dass die Grund­lage des Werks sich verän­dert hätte. „Man möchte sagen: war er des endlichen Mißlin­gens erst ein­mal sich­er, so gelang ihm alles unter­wegs wie im Traum“, wie Wal­ter Ben­jamin über Kaf­ka schrieb. Und mehr und mehr lässt sich ahnen, was es ist, das fehlt und fehlen muss; am Ende hat man als Leser den Geschmack jenes geträumten, im Traum nie erre­icht­en Dinges auf der Zunge, dem Leiris nach­jagt.

Selb­st­mord­ver­such

Vielle­icht hat nie­mand nach Leiris mehr so viel von der Lit­er­atur erwartet, nein, ver­langt. Von der Lit­er­atur und damit von sich selb­st: Vielle­icht ist sein unauswe­ich­lich­es (und am Ende in dem Spiel der Ver­schiebun­gen und Auf­schübe fast akzep­tiertes) Scheit­ern aber auch par­a­dig­ma­tisch für das unauswe­ich­liche Scheit­ern jedes ern­sthaften Schreibens.

Leben-als-Schreiben heißt: die Aufhe­bung jed­er gesicherten Wahrheit. In dieser Bewe­gung aber lebt und schreibt man, in der Sicher­heit dieser Bewe­gung, ihrer komis­chen Ern­sthaftigkeit und Wahrhaftigkeit.

Nach­dem Leiris, an dem Abend im Jahr 1957, die Über­do­sis Bar­bi­tu­rate geschluckt hat, um mit sich Schluss zu machen, legt er sich, so als wäre nichts, zu sein­er Frau ins Bett, geste­ht ihr, was er getan hat, und murmelt im Ein­schlafen abschätzig: „Das ist alles Lit­er­atur.“ Eine böse Ironie steckt in diesem halb unbe­wusst daherge­sagten Satz: Man entkommt der Lit­er­atur nicht, auch nicht in den äußer­sten Momenten. Aber immer­hin entkommt man sich selb­st; als Leiris nach drei Tagen aus dem Koma erwacht, ist er jemand ander­er: „Als wäre jede Ein­heit zer­brochen [...] waren zwei Wesen an die Stelle mein­er gewohn­ten Per­sön­lichkeit getreten: ich war nicht länger Michel Leiris, son­dern [...] ein unge­mein sno­bis­tis­ches englis­ches Schrift­steller­paar gewor­den, wobei ich mich bald mit dem Mann, bald mit der Frau iden­ti­fizierte, je nach­dem, ob ich aus­gestreckt auf der linken oder auf der recht­en Seite lag.“