„Das Geld wandert ab aus diesem Beruf“

Ulrike Draesner im Gespräch mit Cornelius Hell über die zeitgenössische Dichtung und die Schwierigkeiten bei ihrer kritischen Würdigung.

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CORNELIUS HELL In der Jury­diskus­sion beim Mer­an­er Lyrikpreis war diese Jahr ein­mal die Rede von ausster­ben­den Tieren und von der Lyrik als ausster­ben­der Gat­tung – sehen Sie das so, befürcht­en Sie das?

ULRIKE DRAESNER Ja und nein. Zum einen gibt es eine lebendi­ge Lyrik-Schreib­szene, viele Töne, sehr gute deutschsprachige Lyrik aus vie­len ver­schiede­nen Quellen, von ganz unter­schiedlichen Alters­grup­pen, die sich aneinan­der reiben. Auch der Zus­trom zu Fes­ti­val-Lesun­gen ist bekan­ntlich immer noch gut, und natür­lich trägt das Inter­net noch ein­mal ganz anderes zur Möglichkeit bei, Lyrik über­haupt wahrzunehmen und zu rezip­ieren. Doch im Buch­we­sen sieht es trau­rig aus: Die tat­säch­lichen Buchverkäufe hal­ten in kein­er Weise mit, Lyrik wird in den großen Ver­lagspro­gram­men zunehmend mar­gin­al­isiert, sie wird manch­mal nur noch mitver­legt, weil ein Autor andere Gen­res bedi­ent, sie wan­dert ab, und das Geld wan­dert ab aus diesem Beruf.

HELL Lyrik wird auch kaum mehr rezen­siert, sie wird kaum noch disku­tiert.

DRAESNER Und wenn, dann eben dig­i­tal, im Inter­net, die Lyrik­com­mu­ni­ty muss sich ihrer selb­st annehmen. Und wenn es in diesem Seg­ment des Lit­er­aturbe­triebs kein Geld mehr gibt, dann gibt es auch kein Geld für pro­fes­sionelle Rezen­sio­nen. Das heißt, die innere Köchel­tem­per­atur steigt, zunehmend sprechen Lyrik­er über Lyrik­er, ein In-Talk, ein grup­pen­dy­namis­ch­er Prozess, der wed­er den Autoren noch der Gat­tung gut tut – sie braucht auch Anstöße von außen, den frem­den Blick.

HELL Und die Lyrik selb­st: Ist sie in Zeit­en von Wikipedia in ein­er anderen Sit­u­a­tion? Sie haben auf die vie­len kul­turellen Ver­satzstücke hingewiesen, die sich ger­ade auch in den Gedicht­en in Mer­an gezeigt haben.

DRAESNER Ja, ich denke, dass sich durch die Ver­füg­barkeit von Dat­en jeglich­er Art etwas verän­dert im Gle­ichk­lang mit zahlre­ichen anderen Lebens- und Wis­sens­bere­ichen. Man geht gerne davon aus: Man kann ja alles nach­schauen, alles ist ver­füg­bar, ich gebe etwas ein, schon erscheint die Infor­ma­tion, oder „die Bedeu­tung“. Und natür­lich kann man als Autor, egal ob man nun Prosa, Dra­ma oder Gedichte schreibt, damit arbeit­en – in jeglich­er Hin­sicht.  Die span­nende Frage dahin­ter: Wie gehen wir mit Wis­sen, mit Wis­sens­for­ma­tio­nen um? Das sieht man auch hier in Mer­an in den Tex­ten: man zitiert, fälscht, imi­tiert, ver­linkt. Das Pub­likum mag nach­schauen, oder auch nicht. Kommt es darauf an? Welche Rolle spie­len Quellen oder Ref­eren­zen? Wir scheinen süchtig nach ihnen, süchtig nach dieser Art von „Wirk­lichkeit“, die Gedichte immer aufgelöst und umspielt haben – zugun­sten ein­er anderen, sprach­lich induzierten Real­ität des Sprachlosen, Nicht­sprech­baren. Die Verän­derun­gen in den Par­a­dig­men von Ver­füg­barkeit und Wis­sen verän­dern, das kann nicht anders sein, auch diesen anderen Bere­ich des Sprechen-Nicht­sprechens. Unter diesem Aspekt fand ich hier in Mer­an jene Texte, die for­mal hybrid gebaut sind, am span­nend­sten. Ich ver­ste­he sie als Aus­druck ein­er Suche nach Sprech­möglichkeit­en in einem sich eben­falls zunehmend auflösenden Gat­tungskos­mos.

HELL Verbindliche For­men gibt es ja schon lange nicht mehr. Aber mit­tler­weile ist auch der tra­di­tionelle For­men­spe­ich­er wieder offen und man kann sich daraus bedi­enen. Heißt das, dass jed­er seine Form indi­vidu­ell erfind­en muss?

DRAESNER Für mich hat es das immer geheißen beim Gedichte-Schreiben: Der ganze Kanon ste­ht zur Ver­fü­gung; und das wird durch die Glob­al­isierung der Welt auf schöne Weise kom­plex­er, weil auch ganz andere For­men aus anderen Kul­turen ent­deckt wer­den. Das heißt, man sieht sich beim Schreiben vor einem The­saurus von Wis­sen, das abge­spe­ichert ist in For­men – und zugle­ich vor die Her­aus­forderung gestellt, einen Weg zu find­en mit Diesem-Text, der da im Entste­hen ist, von dem man im guten Fall noch gar nicht weiß, was er wird. Ich würde sagen, dass das ein gen­uin­er Kern von lit­er­arischem Schreiben ist, egal welch­er Art: die Form, die Architek­tur des Ganzen, die Rhyth­mik der Sprache kom­men über­haupt erst im Akt des Schreibens zus­tande. Natür­lich gespeist von dem Wis­sen und der Ken­nt­nis dessen, was man gele­sen hat und was einen umrauscht, aber neu erfun­den gehört.

HELL Wie geht man da als Juror­in vor? Sind die Texte dann über­haupt ver­gle­ich­bar? Gibt es noch Maßstäbe außer­halb der Texte und des eige­nen Anspruchs der Autorin­nen und Autoren, auf­grund der­er man sie beurteilen kann?

DRAESNER Ich ver­suche, mir meine eige­nen Vor­lieben und Geschmacksmo­mente möglichst trans­par­ent zu machen. Wenn man nicht über sie nach­denkt, entschei­den sie – es kommt also darauf an, Strate­gien des Bew­ertens zu find­en und klug anzuwen­den, die ihren Ein­fluss möglichst min­imieren. Ich ori­en­tiere meine Urteile an Leit­fra­gen, die drauf zie­len, die Maßstäbe der Beurteilung aus den zu beurteilen­den Tex­ten selb­st abzuleit­en statt aus mir. Entschei­dend ist, was die Gedichte selb­st ver­suchen, wo und wie sie anset­zen – und dann ihren eige­nen Anspruch umset­zen. Wer möcht­en sie sein, wie machen sie das. Eine andere Frage für mich ist: Wie gehen Form und Sprach­lichkeit zusam­men – in welchem Ver­hält­nis ste­hen sie, wie wird mit den Möglichkeit­en der Span­nung zwis­chen ihnen umge­gan­gen, wie bewusst ist das gemacht und inwiefern begleit­et ein Gedanke, eine innere Notwendigkeit diese Form so, dass das Gedicht dadurch gestärkt wird.

HELL Sie haben in der Jury-Diskus­sion ein inter­es­santes Kri­teri­um genan­nt: die Funk­tion des Endes.

DRAESNER Gedichte und Short Sto­rys sind beson­ders end-empfind­lich. Es gab in Mer­an einige Texte, an denen auffiel, wie gekon­nt die Enden geset­zt waren, sodass sie wirk­lich von unten her die vor­ange­hen­den Verse noch ein­mal tru­gen und stützten. Ein Kri­teri­um: wie liest das Gedicht sich beim zweit­en Mal mit der Ken­nt­nis des Endes? Wächst etwas sozusagen von unten durch das Gedicht hin­durch und schließt es zu ein­er Ein­heit zusam­men? Das muss nicht immer so sein, selb­stver­ständlich gibt es auch die Schön­heit des verklin­gen­den Endes, aber natür­lich sind Enden, Titel, Anfänge und Wieder­hol­ungsmuster Aufmerk­samkeit­spunk­te beim Hören wie Lesen.

HELL Thorsten Ahrend hat in der Jury-Diskus­sion noch ein Kri­teri­um genan­nt, das sehr plau­si­bel klingt: Geschieht in einem Gedicht eine bloße Ver­rät­selung oder strahlt es ein Geheim­nis aus. Das Wort „Geheim­nis“ ist vielle­icht ein alt­modis­ches Wort, aber Anna Achma­towa hat es sehr gemocht. Kön­nen Sie mit diesem Gegen­satz etwas anfan­gen?

DRAESNER Das ist ein alter Topos der Lit­er­aturkri­tik. Rät­sel und Geheim­nis sind zwei sehr unter­schiedliche Dinge, und ich füh­le bei einem Rät­sel nichts außer einen intellek­tuellen Kitzel, und natür­lich kann man manch­mal auch mit Gewinn und bestem Unter­hal­tungswert ein Sprach­witz-Rät­sel ein­bauen. Aber da gibt es eine Lösung und fer­tig. Das hat für mich mit Gedicht­en in kein­er Weise zu tun. Geheimnisse hinge­gen sind Räume, nicht punk­tuelle Ref­eren­zen. Geheimnisse sind kein Ziel. Geheim­nis bedeutet Verun­sicherung, Nicht-Wis­sen und dass durch die Verdich­tung von Sprache, Materie und The­ma tat­säch­lich die Geheimnishaftigkeit unser­er Wel­terk­lärungsver­suche wieder fühlbar wird.

Das Gespräch fand anlässlich des Lyrikpreis­es Mer­an im Mai 2016 statt.