Welche Geschichten darf man erzählen?

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Immer öfter hörte ich in let­zter Zeit in Gesprächen mit anderen Schreiben­den die Frage, die mehr Zweifel war, zum Erzählen welch­er Geschicht­en man dieser Tage noch berechtigt wäre. Ist es in Ord­nung, die Per­spek­tive eines Arbeit­slosen einzunehmen, obwohl man selb­st im Augen­blick sein­er Erfind­ung durch seine Erfind­ung Arbeit hat, ist es möglich, Men­schen anderen Geschlechts eine Stimme zu geben, ohne ebendiesem anzuge­hören, darf man sich anmaßen, ein fremdes Schick­sal – schreck­lich oder her­rlich – zu umreißen, kann man über­haupt erzählen, was nicht das eigene ist?

Nun glaube ich, dass Schreiben stets Selb­ster­mäch­ti­gung ist, uner­wartet und unbeauf­tragt, eine Skru­pel­losigkeit, eine Willkür, eine Aneig­nung. Die Unbefugten erdicht­en, entwer­fen, beobacht­en, suchen die Worte zu den Umstän­den aus, über­set­zen die Wirk­lichkeit nach Gut­dünken, lösen ein Einzel- oder Kollek­tivschick­sal aus dem Wust der Welt her­aus und machen es sicht­bar. Mitunter verzicht­en sie auf die Ver­satzbruch­stücke und leis­ten sich die Idee ein­er vol­lkom­men neuen Schöp­fung. Die Vorstel­lung, sich etwas nicht vorstellen zu dür­fen, scheint absurd im Architek­ten­we­sen der Lit­er­atur. Ohne diese Durch­läs­sigkeit der Welt, die einen befähigt, sich in mehr als sein eigenes Leben hineinzu­ver­set­zen, muss man an sich selb­st ver­ar­men und bleibt mit dem Tage­buch seine Ichs zurück in der kleinen Gesellschaft jen­er, die einem hin­re­ichend ähn­lich sind. Sich die Fes­sel anzule­gen, seine erzählten Geschicht­en mit der eige­nen Biogra­phie oder Gesin­nung zu beglaubi­gen, ist ein Akt falsch ver­standen­er Acht­samkeit, eine über­tra­gene Folge der iden­tität­spoli­tis­chen Diskurse vielle­icht, eine Vor­sicht, nie­man­dem seine Art des Aufder­welt­seins weg­nehmen zu wollen, als ver­puffte es, würde entwertet, wenn man sich ihm näherte. Die Frei­heit, Anspruch darauf zu erheben, jede noch so nor­male, noch so fremde, noch so unmögliche, noch so unmoralis­che, unpassende Geschichte zu erzählen, bewahrt einen naturgemäß nicht vor dem Scheit­ern daran. An jedem Text kann man bit­ter­sten Schiff­bruch erlei­den: weil er schlecht ist. Die Möglichkeit des Scheit­erns wohnt jed­er Frei­heit inne, und kein­er muss sich fürcht­en, er würde nicht auf ein Misslin­gen, eine Aneck­ung, eine Unsauberkeit, oder gar einen Dreck aufmerk­sam gemacht. Der Frage, was in der Lit­er­atur in Ord­nung wäre, lässt sich vielle­icht nur die große Unord­nung, die Beschrei­bung der Welt als ein nicht­lin­ear­es, sper­riges Chaos, in dem es Muster aber keine Let­zt­gültigkeit­en gibt, als Antwortver­such ent­ge­gen­stellen. Und während die eine Geschichte aufräumt, wühlt die andere im Staub.

Zu ein­er anderen Gele­gen­heit fragte mich eine Kol­le­gin, ob ich kein schlecht­es Gefühl hätte, wenn ich in meinen Roma­nen Täter­schaft und Unge­heuer­lich­es beschriebe, als ver­stünde ich einen Teil davon. Ich fürchte, ich nahm es eit­el mehr als Kom­pli­ment denn Kri­tik. Aber ich war über­rascht, dass für sie der Unter­schied zwis­chen ver­ste­hen und Ver­ständ­nis haben, darstellen und sich gemein­machen, nicht zählte, denn für sie schien es, als hätte ich mir mit der Aneig­nung, dem Ausleucht­en, dem genauen An- und Abtas­ten ein­er bösen Geschichte selb­st auch die böse Gesin­nung ins Herz geholt. Vielle­icht war es eine Form der logis­chen Umkehr von „Ich kann nur ver­ste­hen und schreiben, was ich bin“ zu „Was ich ver­ste­he und schreibe, muss ich sein“. Ein biss­chen rat­los blieb ich mit diesem lit­er­arischen Konzept der Wech­sel­wirkung in Charak­ter­fra­gen zurück, aber glaubte schlussendlich auch hier, dass die eigene Iden­tität ein Akt der Selb­ster­mäch­ti­gung ist – wie das Schreiben.