Ganz der Himmel ist nirgendwo

Erzählung

Von

Bei der Probe ein­er Bach Arie in einem kleinen Ate­lier in Wien erscheint der Fagot­tistin Andrea ihre tote Schwest­er Anna, die sich mit ihr erin­nern möchte – an früher. Die anfänglichen Vor­be­halte Andreas weichen ein­er völ­li­gen Hingabe in die Suche nach Puz­zlesteinen der gemein­samen Geschichte. Kind­heit, Eltern­haus, Erwach­sen­wer­den, Nähe und Dis­tanz, wer­den auf ver­schiede­nen Ebe­nen wieder erlebt und hin­ter­fragt. Der Blick auf die vielschichti­gen ambiva­len­ten famil­iären Beziehun­gen verur­sacht ver­wirrende Gedanken­strudel in Andrea. Ihre Reflex­io­nen ver­mis­chen sich in der Erin­nerung mit dem direk­ten Erleben der früheren Andrea und ihrer Schwest­er. Bis Andrea erken­nt, was sie darin zu suchen hat.

Die Probe

Er ver­schwindet nahezu zwis­chen den mächti­gen Häuserzeilen, die ihn säu­men. Ein schmaler, steiniger Streifen, der sich von ein­er Quer­gasse zur Näch­sten zieht. Nichts hat er gemein mit den roman­tis­chen Großs­tadt-Oasen und ihren Wun­der­rasen, wuch­ern­den Kräuter­beeten, von Bienen umschwärmten Rosen an Laven­del.

Hier ist es schat­tig und kühl, nur Farne und Efeu set­zen sich durch und sor­gen für mattes Grün. Fast kön­nte man den kleinen Vor­garten überse­hen im Vor­beige­hen, denn keine Pracht geht von ihm aus. Still ver­har­rt er unter den vie­len Fen­stern, aus denen höch­stens auf ihn herab gese­hen wird, staunend betra­chtet wird er wohl sel­ten. Er ist ein­fach da.

Jedes Mal, wenn Andrea das Gar­ten­tor auf­sper­rt, hat sie ein wenig Mitleid. Mit dem Garten? So unschein­bar, wie er da liegt, ja, das Mitleid gilt dem Garten. Wahrschein­lich. Es ist eine Art Wehmut, die sie befällt, nicht unan­genehm. Ihre Augen bleiben an den Ritzen und Ris­sen der umgeben­den kühlen Mauern hän­gen, ver­fol­gen die feinen Lin­ien, die irgend­wo begin­nen, irgend­wo enden.

Sie hat sich angewöh­nt, draußen auf die Kol­le­gen zu warten. Hier kann sie sich gut auf die Probe ein­stim­men, sich umstim­men. Drin­nen wartet eine andere Welt. Far­ben und For­men tre­f­fen dort aufeinan­der, prächtige Tep­piche, Malereien, Instru­mente, bunt zusam­mengewür­felt. Der eigentliche Garten, denkt Andrea, der mit den Blu­men und Schmetter­lin­gen. Man ist ungestört und kann bis in alle Ewigkeit Töne wieder­holen.

Andrea schreckt auf, als sie die Gar­ten­türe hört, die Sän­gerin ist da. Gut so, begin­nen wir mit dem Hör­baren, beschließt Andrea, und schließt das Ate­lier auf. Es ist nahezu dunkel hier drin­nen, eine küh­le Höh­le, selb­st im Som­mer wird es hier nie warm, keine Sonne erhellt den Raum. Sie tastet an der Wand neben dem Ein­gang, um das Licht einzuschal­ten, gle­ich neben der Tür ist der magis­che Schal­ter. Er ist der König hier, der über jeden Winkel des Raums herrscht.

Schla­gar­tig leucht­en die vie­len kleinen Lichtquellen, jede einzelne gezielt aus­gerichtet, auf Stoff, Holz oder Wand. Licht und Schat­ten wer­den lebendig, spie­len miteinan­der, ver­steck­en nichts. Selb­st der Staub liegt wie ein stolzes Wesen auf dem Klavier und präsen­tiert sich. Als würde er jedem Ein­drin­gling hier gle­ich klar machen wollen, dass es hier um etwas Eigenes geht. Diesen Moment, wenn plöt­zlich so Vieles zu sehen ist, liebt Andrea.

Plöt­zlich ist sie da. Anna. Unangemeldet wie immer. Anna ist ihre große Schwest­er. War ihre Schwest­er. Ist. Man bleibt eine Schwest­er, auch wenn man tot ist. Anna kommt und geht, erscheint, set­zt sich über­all dazu, möchte plaud­ern. Über dies und das, ditte und dette, wie sie gesagt hätte. Aber sie sagt es nicht. Sie ist nur da. Und stört Andrea beim Proben. Lass uns Eine schmauchen, hätte sie gesagt, aber sie sagt es nicht.

Sie ist nur da. Andrea weiß nicht, wie sie damit umge­hen soll. Sie möchte sich nicht ablenken lassen. Was gibt es noch zu plaud­ern, jet­zt wo sie tot ist. Jet­zt wo Andrea zur Probe muss, sie möchte Anna nicht dabei haben. Nicht ein­mal die Musik lässt sie mir alleine. Ihren Bach. Ihre Fagott Arie. Seine Einzige. Du musst plaud­ern. Sagt Anna? Du musst, du musst, du musst, häm­mert es jet­zt in ihrem Kopf.

Mit­tler­weile ist der andere Kol­lege auch eingetrof­fen, man hat sich geeinigt, wer wo platziert ist, Noten wer­den aus­ge­bre­it­et, Töne anges­timmt, Töne ange­sun­gen. Andrea mag die Anfänge von Proben, die erwartungsvolle Stim­mung, die in der Luft liegt, wenn sich die Musik mit kleinen Blitzen ankündigt, bevor sie sich gle­ich in einem Moment der Gemein­samkeit ent­laden wird.

Doch heute ist ihr diese Freude genom­men. Anna nimmt sie in Anspruch. Reißt sie fort aus dieser Verbindung, in eine andere. Andrea fühlt sich bedro­ht, sie merkt, dass sie sich schw­er konzen­tri­eren kann. Die let­zte Zeit war anstren­gend. Die vie­len Besuche bei Anna im Kranken­haus, die Tage, die davon bes­timmt waren. Sie sind nun vor­bei. Was war, ist für immer gewe­sen. Dieser Spruch hing irgend­wo auf einem Plakat, er kommt ihr plöt­zlich in den Sinn. Vielle­icht weil sie ihn nicht ver­standen hat?

Wo hat sie ihn gele­sen? Warum ist er plöt­zlich da. Wie Anna? Vor­bei, für immer und ewig. Oder immer. Immer da. Wie Anna. Soll sie das trösten? Andrea sieht das Ver­gan­gene wie Zinnsol­dat­en vor sich aufgestellt, sie bewachen unbe­weglich das Tor der Ewigkeit. Das ist kein Trost. Sie möchte wed­er die Ver­gan­gen­heit noch die Ewigkeit hier sehen, schon gar nicht das Tor öff­nen. Hier und jet­zt, was auch immer das bedeuten mag, will Andrea in Ruhe sein, aber Anna kann keine Ruhe geben. Sie hat das Tor offen­bar geöffnet und die Zinnsol­dat­en bestochen. Sog­ar Bach schafft sie zu ver­drän­gen, ärg­ert sich Andrea. Anna will sich erin­nern, mit Andrea. An früher, flüstert Anna.

Kindlein mein, schlaf nur ein,
weil die Stern­lein kom­men.
Und der Mond kommt auch schon
wieder angeschwom­men.
Eia Kindlein, Kindlein mein,
eia Kindlein, schlaf nur ein.

 

Früher

Anna erzählt so wun­der­bare Geschicht­en. Von Räu­bern und Wölfen, ver­lasse­nen Königskindern, verza­uberten Bären, blutrün­sti­gen Mon­stern und kost­baren Schätzen. Wieso kann Anna so schön erzählen. Andrea ver­sucht, ihren Pup­pen Geschicht­en zu erzählen, die lang­weilen sich. Andrea kann sich nur fürcht­en. Das Fürcht­en ist groß, man kann es sehen, wenn es da ist. In der Nacht und am Tag.

Andrea steigert sich in alles rein, da kann man nichts machen.

Häuser und Fen­ster ziehen vor­bei. Oder Bäume, Blu­men und Felder. Nur manch­mal, eigentlich oft, wenn der Vater über­holt, ist das Auto ist auf der falschen Seite. Dann ist Andrea auch auf der falschen Seite, sie kann nicht auf die Richtige zurück. Und aussteigen kann sie auch nicht. Meis­tens sitzt sie hin­ten im Lader­aum, weil im Auto vorne nicht so viel Platz ist für alle. Da kann sie sich hin­le­gen und sich tot stellen.

Wenn die Mut­ter anfängt zu sin­gen, set­zt sich Andrea auf. Die Mut­ter steckt alle an, ihre Stimme ist wie eine gute Fee. Andrea ken­nt alle Lieder, die die Mut­ter singt. Schon immer. Sie sind schön oder lustig oder fremd, Andrea denkt nie über die Lieder nach. Worüber sie erzählen, inter­essiert sie nicht. Sie hat nur ein schönes Gefühl beim Sin­gen.

Die Straße schlän­gelt sich durch den Wald. Die dun­klen Nadel­bäume rauschen an den Fen­stern vor­bei und winken Andrea in jed­er Kurve zu. Majestätisch wiegen sich ihre Äste hoch oben im Wind, es ist wie ein Tanz, den sie für Andrea vor­bere­it­et haben. Die Stämme ste­hen stramm am Straßen­rand Spalier und weisen, hell erleuchtet von den Schein­wer­fern, feier­lich den Weg. Andrea freut sich seit Stun­den darauf.

Von nichts kommt nichts, sagt der Vater.

Anna dreht sich zu Andrea und schnei­det Gri­massen, das ist lustig. Anna kann so lustig sein, wieso kann Anna das. Andrea fällt nie etwas Lustiges ein. Sie beobachtet genau, was Anna macht, was sie sagt, wie ihre Stimme klingt, ihr Gesicht aussieht. Alle lachen. Vielle­icht kommt es auch von nichts. Jeden­falls ist es immer schon da, das Lustige. Anna kann ein­fach alles.

Die Felsen­straße ist schmal und eng. Gott sei Dank ist es schon dunkel, nichts zu sehen. Andrea weiss, wie steil es rechts hin­unter geht. Sie mag die Dunkel­heit, man kann sich gut in ihr ver­steck­en. Nur vor dem Hören kann man sich nicht ver­steck­en. Nichts als die Stimme des Vaters. Es kann sehr laut wer­den.

 

Die Probe

Vor dem Hören kann man sich nicht ver­steck­en. Schon gar nicht auf ein­er Probe. Andreas Fin­ger kom­men nicht recht in Schwung. Sie verzählt sich und ver­passt ihre Ein­sätze. Es ist ihr unan­genehm vor den bei­den Anderen. Aber sie kann es nicht ver­hin­dern, und schon gar nicht ver­steck­en. Eigentlich kann man sich vor nichts ver­steck­en. Man ver­sucht es nur, immer und immer wieder.

Als es Anna schon sehr schlecht ging, saß Andrea oft bei ihr, Zuhause oder im Spi­tal, und erzählte ihr von belan­glosen Din­gen. All­t­ags­geschicht­en, Fortschritte ihrer Kinder, Büch­er oder Artikel, die sie ger­ade las. Um sie bei Laune zu hal­ten, sie von den Schmerzen abzu­lenken. Hat Anna es bemerkt, dass Andrea sich ver­steck­te? Sich und ihre Angst? Wo ver­steck­te Anna ihre Angst?

Andrea will sich nicht erin­nern, und sie will nicht Annas Stimme hören. Warum hat sie nicht früher damit ange­fan­gen, als es noch ging? Reden wir über unsere Kind­heit, über unsere Jugend, über unser Leben, über alles was uns verbindet. Verbinden wir uns mit allem. Sie hät­ten genug Zeit gehabt. Wieso erst jet­zt. Vielle­icht hat Anna ja damit gewartet, um die Zeit zu ver­längern, über­legt Andrea. Um zu bleiben. Je mehr Andrea ver­sucht, ihre Gedanken an Anna zu bekämpfen, umso stärk­er greifen sie um sich, umso weit­er blickt sie zurück. Wo hat alles ange­fan­gen?

 

Zuhause

Wie schön blüht uns der Maien,
der Som­mer fährt dahin.
Mir ist ein schön’s Jungfräulein
gekom­men in meinen Sinn.
Bei ihr, da ist mir wohl,
wenn ich nur an sie denke.
Mein Herz wird freuden­voll.

Mut­ter ist schön. Sie riecht gut, auch wenn sie sich anstrengt. Kein Fleck auf Mut­ters Bluse, der Vater ist nass vor Schweiß, wenn er Andrea das let­zte Stück bis zum Gipfel trägt. Bergschweiß stinkt nicht, sagt Mut­ter zu Andrea. Der Berg ist gut, seine Abgründe edel. Geduldig schre­it­et Mut­ter den Weg ent­lang, bergauf oder bergab. Still ver­har­rt sie, wenn der Vater böse wird. Ihr trau­riger Blick hängt in der Luft, oft den ganzen Tag. Die Luft ist dann grau und trüb. Man blickt schw­er durch sie hin­durch, manch­mal gelingt es.

Mut­ter möchte man alles erzählen. Auch Mut­ter kann gut erzählen. Von früher, als sie jung war, Schulgeschicht­en. Oder sie erfind­et Mäusegeschicht­en. Dann ist die Luft weich und warm, wie ein Früh­lingswind. Wenn man schon Kniestrümpfe anziehen kann, erst ab Mai. Auch wenn Mut­ter singt, ist es warm. Mut­ter ist so schön, ihre Haare sind aufgesteckt. Hat sie Haare oder eine Frisur? In der Nacht, wenn Andrea sie aufweckt, hat Mut­ter Haare. Wie ein Mäd­chen ist Mut­ter dann, in der Nacht ist alles anders.

Warum ist Andreas Mut­ter auch Annas Mut­ter? Es müssten doch zwei sein. Jed­er Men­sch hat eine Mut­ter. Meine Mut­ter. Anna soll ihre eigene haben, nicht die von Andrea. Wahrschein­lich ver­ste­ht Andrea diese Rech­nung nicht, sie ist schlecht in Math­e­matik. Eins und eins ist aber zwei. Beim Vater ist es anders. Sie ist froh, dass Anna sich ihn mit ihr teilt. Ein­er reicht.

Anna ist gut in Math­e­matik. Außer­dem war sie als Erste da und ken­nt sich mit allem bess­er aus. Außer­dem schaut sie der Mut­ter ähn­lich. Anna hat helle Haare. Andrea sieht dem Vater ähn­lich und ist eine Zige­uner­in, sagt der Vater. Der Vater ist nicht hell. Aber er weiß alles. Das wis­sen alle und haben Angst vor ihm.

Anna wäre auch gern eine Zige­uner­in, sagt sie. Aber das kann nicht stim­men, Anna sieht doch der Mut­ter ähn­lich. Andrea klet­tert gern auf Bäume und find­et viele Sachen im Wald. Vierblät­trige Klee­blät­ter und Akeleien. Das kann Anna nicht. Sie nen­nt Andrea Tarzan. Andrea ist gern Tarzan.

Die bei­den Pup­pen liegen unter dem Christ­baum, Hand in Hand. Die Puppe für Anna hat goldgelbe Haare. Sie sind weich, man kann sie frisieren. Und blaue Augen hat sie. Und sie lächelt, immer. Die Puppe für Andrea lächelt auch immer. Aber sie hat keine Haare. Und sie ist eine Negerpuppe. Das darf man so nicht sagen. Andrea weint.

Anna passt auf Andrea auf. Du bist nicht meine Mut­ter, sagt Andrea. Das stimmt, denn Anna ist ihre Schwest­er. Und sie ist sehr ver­ant­wor­tungs­be­wusst, sagt Mut­ter. Anna holt Andrea jeden Tag vom Kinder­garten ab. Über die große Straße kann Andrea nicht alleine gehen, dort gibt es keine Ampel. Die Straße ist sehr befahren. Ein­mal kommt Anna nicht, weil sie in der Schule plöt­zlich krank wird und nach­hause geht. Da muss Andrea doch alleine über die große Straße. Andrea schaut den Autos zu, und keines bleibt ste­hen.

Gegenüber wird ein großes Haus gebaut, Wohn­hau­san­lage heißt das. Zuerst sind es nur tiefe Gruben, da ist manch­mal Wass­er drin. Da kann man von ein­er Grube zur näch­sten sprin­gen und darf nicht hine­in­fall­en. Dann entste­hen die Stock­w­erke, immer höher wird das Haus. Man kann beim Wach­sen zuse­hen, und man kann Tarzan sein. Es gibt keine Gelän­der, man kann auch abstürzen. Anna erzählt Andrea, dass Vater sie mit dem Fer­n­rohr beobachtet hat. Mut­ter sieht weg.

 

Die Probe

Erin­nern ist wie auswendig spie­len. Die Musik kommt von allein. Sie entspringt nicht  der eige­nen Phan­tasie, son­dern fol­gt ein­er Par­ti­tur. Jed­er Ton ist fest­gelegt, jede Pause hat ihren Platz. Anfang und Ende lassen sich nicht ver­han­deln. Und doch spielt man das Vorgeschriebene frei, fühlt sich frei, wie ein Vogel, der seine Weise in die Welt zwitschert. Wer ken­nt schon seine Par­ti­tur? Über weite Streck­en fliegt und flat­tert man ungestört dahin. Es bere­it­et Andrea immer mehr Freude, den Bildern der Ver­gan­gen­heit zu fol­gen. Als hätte sie längst darauf gewartet, im Archiv zu stöbern, das voll von Geschicht­en zu sein scheint.

Vielle­icht sollte sie die Probe abbrechen, über­legt Andrea, die Gedanken und Erin­nerun­gen über­schla­gen sich. Was will Anna von ihr? Und warum während der Probe? Wer waren sie alle, was war los mit ihnen allen? Diese Fam­i­lie. Wo galt es hinzuse­hen? Vater, der Cho­lerik­er, Andrea die Zige­uner­in, Anna die Brave, zwei ferne Brüder und eine lästige Jüng­ste? Erin­nern, ausleucht­en, hin­ter­fra­gen? Warum war Anna so brav, so gut? Hat­ten die Eltern ein­fach Glück mit Anna? Andrea Glück mit Anna? Alle Glück mit Anna? War Anna glück­lich damit?

Nie­mand fragte danach, es war eine geregelte Welt, in der sie aufwuch­sen. Kein Krieg, kein Hunger, seid doch froh. Es war ein­fach so. Wäre alles anders gekom­men, fragt sich Andrea, hätte es anders kom­men kön­nen? Wenn, ja, wenn was? Anna die Jün­gere gewe­sen wäre, vielle­icht? Würde Anna noch leben? Wer vergibt die Rollen? Sinn­los, darüber nachzu­denken. Es war so, so war es ein­fach. Wie oft ver­gaß Andrea als Kind auf die Zeit und kam am Abend nicht vom Spie­len nach­hause. Es gab ja Anna, die sollte sie dann suchen.

Das Spielzeug des Vaters

Hörst du nicht die Glock­en, hörst du nicht die Glock­en?
Ding dong dong

Ich werd dir den Hin­tern ver­sohlen, nach dem Essen. Der Vater kann sehr laut wer­den.

Ein run­des Ding aus Plas­tik, geflocht­en am oberen Ende. Noch nie hat Mut­ter einen Tep­pich gek­lopft damit. Fre­undlich und hell hängt es im Abstell­raum. Wozu eigentlich? Kön­nte auch ein Spielzeug sein. Das Spielzeug des Vaters.

Anna sitzt beim Nachtmahl komisch da. Sie hält sich immer die Hand vor den Mund, es sieht aus, als würde sie angestrengt über etwas nach­denken. Sie strengt sich wirk­lich an. Sie möchte ihr Gesicht ver­steck­en. Dem Vater fällt trotz­dem auf, dass ihr Gesicht aufgeschun­den ist.

Anna hat einen aus­geschla­ge­nen Zahn. Weil sie beim Laufen gestolpert ist. Später wird er immer ein biss­chen schief abgeschlif­f­en sein, nur ein biss­chen. Als sie Andrea suchen war, ist es passiert. Es war schon dunkel. Als sie vor den großen Buben davon laufen mussten, mit denen Andrea zuerst gespielt, dann gestrit­ten hat. Andrea ist schon wieder nicht rechtzeit­ig nach­hause gekom­men.

Der gelbe Spielplatz ist ver­boten, er ist zu weit von zuhause ent­fer­nt. Andrea liebt den gel­ben Spielplatz. Klet­terg­erüste und Rutschen, alles in gelb. Es ist ein ver­spiel­ter Spielplatz, der schön­ste, den Andrea ken­nt. Gelb ist eine schöne Farbe, auch im Abstell­raum leuchtet es gelb. Bald ist nach dem Essen.

Zeig mir, ob der Hin­tern noch rot ist, sagt der Vater am näch­sten Tag in der Früh. Von gelb zu rot. Rot ist keine schöne Farbe. Rot ste­ht Andrea am besten, sagt die Mut­ter. Das Aben­drot und die Kirschen kön­nen nichts dafür, man kann eine Aus­nahme machen, find­et Andrea.

Vater wurde auch so erzo­gen, sagt Anna.  Mut­ter greift nie ein, sie ist still. Ihr trau­riger Blick hängt dann in der Luft, oft den ganzen Tag. Das hil­ft nicht. Andrea kann auch nicht helfen. Nur auf­passen. Ein biss­chen.

Anna ist nie schlimm. Ein­mal muss sie es doch gewe­sen sein. Sie kni­et im Elternz­im­mer. Andrea geht schauen, Annas Back­en sind so rot. Vielle­icht hat sie Fieber?

Anna erzählt die Geschichte von Frau Holle. Andrea geniert sich. Sie drückt sich auch gern vor den Din­gen. Wie wird man eine Gold­marie? Wenn es doch schon eine gibt.

 

Die Probe

Ein ewiges Entwed­er Oder. Gold­marie und Pech­marie. Andrea spielt mit­tler­weile Bach nur mehr in Noten, ihr Inneres ist längst ganz woan­ders hin aus­gerichtet. So tun als ob, das Gegen­teil von entwed­er oder, auch nicht das Wahre. Ob es jemand merkt, dass sie die Musik ver­lassen hat? Oder hat die Musik sie wohin geführt?

Im Ate­lier ist es mit­tler­weile sehr warm gewor­den. Zu warm, eine Pause wird ein­gelegt, zum Lüften. Andrea ist froh darüber, sie kann flücht­en. Ent­flücht­en. Dem Vater, Bach, sich selb­st, wem auch immer. Andrea geht nun endlich „eine schmauchen“ mit Anna. Immer wenn Andrea raucht, ist Anna dabei. Es ist keine Ein­bil­dung.

Wenn Andrea raucht, spricht sie wie Anna, denkt sie wie Anna, sieht sie aus wie Anna. Erst seit Anna tot ist, raucht Andrea wieder. Sie genießt es auf eine ganz eigene Art, wenn sie den Rauch aus dem Mund bläst. Es ist nicht ein­fach Rauchen. Es ist ihre ganz per­sön­liche Ver­wand­lung. Anna in ihr, Anna raucht. Eine Zigaret­ten­länge. Ein schön­er Moment. Sie hat ihn in der Hand.

Wenn die Illu­sion weg ist, schlägt die Real­ität zu. Das mag Andrea nicht. Sie weiß, dass die Real­ität wichtig ist. Noch wichtiger aber ist die Illu­sion. Ver­schmelzung ist das beste. Kein Entwed­er Oder. Was ist dann was? Die Gren­zen ver­schwim­men, die Real­ität zeigt sich fre­undlich­er, die Illu­sion weniger unre­al­is­tisch. Ist Annas Erscheinen Illu­sion oder Real­ität? Andrea mag das Unklare daran, es treibt sie an, stellt ihr Auf­gaben und Fra­gen, denen sie nachge­hen möchte, will sie Antworten find­en?

Eine Maus huscht über den Stein­bo­den. Das ist real. Andrea beobachtet, wie sie plöt­zlich abrupt ihren Lauf stoppt und sich zu putzen begin­nt. Ist sie aus Angst ste­hen geblieben, erstar­rt vor dem großen Schat­ten, der sich über ihr bewegt hat? Andreas Schat­ten? Putzt sie sich aus Ver­legen­heit? Ver­steckt sie ihre Angst dabei? Weil sie sich nicht ver­steck­en kann? Vielle­icht hat sie erkan­nt, dass es zu weit zum näch­sten Loch ist, der Schat­ten sich jed­erzeit auf sie wer­fen kann. Die Barthärchen zit­tern, Andrea will kein dro­hen­der Schat­ten sein.

 

Der Schat­ten

Ist der Fall klar? Das sagt einem doch der Anstand. Wenn Vater zu dozieren begin­nt, weiß Andrea nicht, was sie machen soll. Meis­tens ver­ste­ht sie nichts. Er redet von so vie­len Din­gen. Aber Fra­gen sind heikel. Wenn man fragt, zeigt man, dass man nichts ver­standen hat. Und wenn man nichts ver­ste­ht, ist der Fall nicht klar. Das kann Vater nicht ver­ste­hen.

Manch­mal ist man dann nur ein Hirned­erl oder ein Pleam­pl. Das macht nichts, denn dann ver­ste­ht man zwar weit­er­hin nichts, aber man braucht keine Angst zu haben. Manch­mal erwis­cht man aber den falschen Moment, dann macht es schon etwas. Dann bringt man Vater aus sein­er Rede. Das kann er nicht ver­ste­hen. Und er kann sich nicht beherrschen.

Wir sind ja nicht bei den Haus­meis­tern, sagt Vater oft. Wenn er das sagt, hat man meis­tens etwas nicht ver­standen. Von guten Manieren. Oder vom Anstand. Was bei den Haus­meis­tern los ist, wird nicht erzählt. Das ist schade. Andrea war noch nie bei den Haus­meis­tern. Sie stellt sich vor, dass es bei den Haus­meis­tern schön ist. Die müssen nichts ver­ste­hen.

Manch­mal fragt Vater, ob man etwas ver­standen hat. Fra­gen sind heikel. Wenn die Antworten nicht stim­men. Und die Stimme. Wenn sie nicht laut und deut­lich ist. Man den Mund nicht weit genug auf­macht. Oder die Fin­ger vor den Mund hält. Die ver­steck­en dann das Wort. Oder die Angst. Man kann es nie wis­sen.

Man muss auf­passen. Andrea weiß das und tut es. Trotz­dem passiert manch­mal etwas. Es kann immer etwas passieren. Obwohl sie den Schat­ten hat. Der ihr beim Auf­passen hil­ft. Wenn der Schat­ten sich bewegt, begin­nt es gefährlich zu wer­den. Das sollte auf keinen Fall passieren. Er ist dann ein dro­hen­der Schat­ten.

Wenn er ganz ruhig ist, mag Andrea den Schat­ten, weil man sich mit ihm nie allein fühlt. Er hängt in der Luft, er ist dunkel, so dass man ihn immer sehen kann. Er sagt einem, was man darf. Und was nicht. Andreas Fre­undin hat keinen Schat­ten, sie hat sie ein­mal gefragt.

Nun wollen wir sin­gen das Abend­lied
und bit­ten dass Gott uns behüt.

 

Die Probe

Her­ren­men­schen, das hat Mut­ter oft über Män­ner gesagt, fällt Andrea ein, während sie an der Zigarette zieht, und die Maus beobachtet. Beson­ders über Vater. Mut­ters Worte waren scharf, wenn sie ihr Schweigen unter­brach. Sie meinte, was sie sagte, Her­ren­men­schen waren ihr zuwider.

Waren es Män­ner, die sich nicht beherrschen kon­nten? Warum hat­te sie so einen geheiratet? Vater war ein alter Vater. Ein alter König, vor langer, langer Zeit wurde er geboren. Lange vor Mut­ter. Der Krieg lange vor­bei. Die Zer­störung bald nicht mehr zu sehen. Die Her­ren­men­schen blieben.

Die Maus putzt sich immer noch. Sie hat Steck­nade­lau­gen, ohne Blick. Der Blick ist wie die Stimme, nichts, was der Blick nicht aussprechen kann. Was kann die arme Maus sagen, ohne Blick? Wenig­stens kann sie piepsen, denkt Andrea, während sie sich über sie beugt. Sie würde sie gerne aufheben und stre­icheln.

Gottge­lassen, hört sie den Kol­le­gen drin­nen ger­ade sin­gen. Offen­bar wird die Pause zum Üben genutzt, im Kleinen, ohne Fagott. Von draußen ver­fol­gt sie die Worte der Singstim­men, du musst glauben du musst hof­fen, du musst gottge­lassen sein. Wer denkt heute noch so, denkt sie. Schw­er vorstell­bar für sie, würde sie das ihren Kindern je als Rat mit­geben? Das Leben in die Hand zu nehmen, darum geht es doch. War ihre Mut­ter gottge­lassen oder feig. Gab es da einen Unter­schied?

Was für ein Wort. Sich ergeben in göt­tliche Fügung? Also nicht han­deln. Andrea weiß nicht recht, bleibt daran hän­gen. Etwas zieht sie an, das Wort fasziniert sie. Eigentlich sind es zwei. Worte. Sie sind nur eins gewor­den. Von Mann und Frau gesun­gen, zweis­tim­mig, innig aneinan­der geschmiegt. Wie sehr doch Bach die Kun­st des Aus­drucks beherrschte. Diese Ver­bun­den­heit dringt tief in sie ein, lässt sie nicht los. Eine Hochzeit der Worte, man ver­spricht sich einan­der. Wird es hal­ten? Gott oder gelassen, was hört man stärk­er?

Du musst glauben, singt die Frauen­stimme, immer und immer wieder, du musst hof­fen, erwidert die männliche bestärk­end. Das Wech­sel­spiel der bei­den Stim­men scheint die Worte zu ver­wan­deln. Keine Härte darin zu hören, keine Strenge, die Auf­forderung wird zum Akt der Liebe. Wie einen Kuss hauchen sie das Du jew­eils in das Muss des Anderen, und nehmen dem Hof­fen die Bange. Geben dem Glauben die Hoff­nung.

Andrea klebt an den Stimme der Bei­den, saugt jedes einzelne Wort auf, das sie sin­gen. Wie sie es sin­gen. Wie sie die Unter­schiede klin­gen lassen und zugle­ich aufheben. Nichts bleibt hier im Entwed­er Oder steck­en. Wie stark es sich doch auswirkt, denkt Andrea, wenn sich das Wie auf das Was legt. Nichts ist dann stärk­er, nichts bess­er. Kann das Was ein Anderes wer­den? Was wohl der Vater ohne das Schweigen der Mut­ter?

Die Zigarette ist aus­ger­aucht, die Maus geflüchtet, die Däm­merung bricht ein. Als wäre sie krim­inell, eine Ein­brecherin. Als Andrea das Ate­lier wieder betritt, hat sich die frische Luft dort angenehm aus­ge­bre­it­et. Und eine neue Stim­mung. Das Licht spielt mit der Fär­bung von draußen, nimmt sie fre­undlich auf. Ein har­monis­ches Spiel. Alles scheint weich und ein biss­chen müde, noch nicht im Dunkel ver­schwun­den. Andrea mag diese Tageszeit, kein Ehrgeiz liegt mehr in ihr.

Andrea ist in Gedanken noch bei ihrer Mut­ter. Mut­ter war auch nie ehrgeizig. Nie musste man bess­er als jemand sein. Mut­ter hat­te ein aus­geglich­enes Wesen. Sie war behütete Tochter gewe­sen und einzige Schwest­er eines liebevollen Brud­ers, konkur­ren­z­los aufgewach­sen. Sie liebte ihre Eltern, ihre Kinder, ihre Fre­undin­nen. Und die Musik.

Ob sie ihren Mann liebte, weiß Andrea nicht. Mut­ters Eltern­haus war fre­undlich gewe­sen, maßvoll.Trotz Kind­heit im Krieg. Keine Stre­it­ereien, keine bösen Worte. Vielle­icht hat das Wilde gefehlt, das bekam Mut­ter dann später mit ihrem Mann zur Genüge. Ihr Schweigen wohl eher eine Schock­starre. Gelassen war das nicht. Und mit Gott hat­te es auch nichts zu tun.

Andrea muss jet­zt den Ein­satz geben, die Arie begin­nt mit dem Fagott. Sie kann sich nicht drücken.Tempo und Moment in ihrer Hand, sie scheut diese Macht. Der Moment ist so leicht der Falsche. Oder der Ver­meintliche, ist er der Wahre? Wie soll man ihn bes­tim­men? Und wann ist er da?

Ein Großer oder ein Klein­er. Ein Guter, kein Guter. Ein­er, auf den man wartet. Man sehnt sich hin. Zu ihm. Nach ihm. Ver­passt ihn, betrauert ihn, fürchtet ihn. Kommt er als Fre­und, geht er als Fre­und? Als Ver­führer baut er sich auf, und wird dann doch oft zum Ent­täusch­er. Oder er ist plöt­zlich da. Als Glück. Einen Moment, bitte.

 

Die Großen und die Kleinen

Die Großen dür­fen immer den Christ­baum schmück­en. Der Christ­baum gehört zu den Großen. Er ist so ein Großer. Alle schauen auf ihn, bewun­dern ihn. Von Anfang an, seit Andrea denken kann, war er ein Großer. Er bekommt den besten Platz, den her­rlich­sten Schmuck, die schön­ste Zeit. Andrea benei­det ihn. Was wäre, wenn er ein Klein­er wäre? Andrea wün­scht sich ein­mal einen kleinen Christ­baum. Dann würde er ganz zu ihr gehören. Anna gehört längst zu den Großen. Vielle­icht immer schon. Wie der Christ­baum, ver­mutet Andrea.

 

Die Probe

Es ist spät gewor­den, alle schon gegan­gen, die Probe vor­bei. Andrea wird noch ein biss­chen aufräu­men. Nachk­lin­gen. Sie öffnet die Tür zum Garten, um zu lüften. Abend­luft. Abend­lied. Das hat die Mut­ter gern mit ihnen gesun­gen. Andrea trägt die Noten­stän­der zu ihrem Platz. Andrea über­legt, ob sie eine glück­liche Kind­heit hat­te.

Eine glück­liche Fam­i­lie

Ein alter Film. Andrea und Anna als kleine Mäd­chen. Im Garten, am Berg, im Dirndl. Als Pudel verklei­det. Mit Hund. Ohne Hund. Der Vater spritzt Andrea mit dem Schlauch an. Lacht Andrea? Die Mut­ter spielt Feder­ball mit Anna. Ein Baby im Kinder­wa­gen, unterm Kirschbaum. Die Brüder schnei­den Gri­massen und feix­en in die Kam­era. Ihr seid so eine glück­liche Fam­i­lie gewe­sen, sagt Andreas Tochter.

Mehrstim­miges Sin­gen. Das Glück der Fam­i­lie. Am Ster­be­bett von Anna wird gesun­gen wer­den. So schön, dass Anna sich krüm­men und noch schw­er­er gehen wird. Andrea wird es genau merken. Dass es Anna unan­genehm ist. Das wahre Glück der Fam­i­lie loszu­lassen, ist fast unmöglich. Danach wird es weit­er gehen, alle wer­den schnell wieder böse aufeinan­der sein und sich wieder und wieder zer­stre­it­en. Gut, dass Anna es nicht mehr mit­bekom­men wird.

Nur noch eine Schwest­er übrig. Sie reden miteinan­der, Andrea und sie, über Anna. Sie kön­nen den Schmerz teilen. Immer­hin. Mit den Brüdern kann man nichts teilen, ihnen fehlt zu viel. Andrea und ihre kleine Schwest­er. Sie wis­sen bei­de, dass nie­mand so wie Anna sein kann. Sie reden jet­zt miteinan­der. Wieder. Schon wieder. Ger­ade noch. Ger­ade wieder nicht. Immer wieder. Jet­zt müssen sie miteinan­der auskom­men, ohne Anna. Die zwei Jüng­sten. Sie sind gar nicht mehr jung.

 

Die Probe

In anderen Fam­i­lien ist auch nicht alles gut. Der Leit­satz der Mut­ter. Andrea hat ihn im Ohr. Was ist eine glück­liche Fam­i­lie? Was ist nor­mal, über­legt Andrea, was richtig, was falsch? Die Geschwis­ter sind erwach­sen. Die Geschwis­ter stre­it­en. Um alles. Anna ist tot. Alles schlecht? Die Mut­ter will es nicht hören. Was hat es denn für einen Sinn, fragt die Mut­ter, man muss sich doch nicht in alles hine­in­steigern, sagt sie. Wahrschein­lich hat sie Recht, denkt Andrea.

Andrea räumt die Gläs­er noch in die kleine Küche. Während sie spült, bleibt ihr Blick an einem Foto hän­gen, das ober­halb des Spül­beck­ens hängt. Es zeigt ein steinaltes Ehep­aar, am Bankerl vor einem steinal­ten Haus. Die Frau liegt quer über den Schoß des alten Mannes und schläft, er lächelt vor sich hin. Gottge­lassen? Ein Bild der Liebe. Anna ist zu intel­li­gent für die Liebe, sagte der Vater immer wieder. Was für ein Satz.

Die gute Nachricht

Deine Schwest­er erwartet ein Kind, sagt der Vater. Andrea freut sich, sie liebt die Abwech­slung. Er nicht, offen­bar. Anna ist erst 17. Du kannst den Ack­er nicht ern­ten, bevor du ihn gesät hast, sagt der Vater. Sie tut so, als ver­stünde sie, was er sagt, und nickt artig.

Das Wohnz­im­mer ist groß. Der Flügel, das Sofa, zwei Fau­teuils, ein klein­er Tisch. Ein klein­er Blu­men­topf auf einem Sil­berteller. Die Kom­mode gegenüber. Alte Tep­piche, alte Bilder. Ein Sekretär, ein Kas­ten, das Holz glänzt. Viele Büch­er liegen herum, die Tageszeitung, eine chi­ne­sis­che Vase im Eck. Die Woh­nung in der Stadt. Josef­s­tadt. Endlich.

Dass man sich so das Leben ver­baue, sagt der Vater jet­zt, und dass es nicht ange­he, in so jun­gen Jahren so herum zu fliegen. Man sieht ja, was dabei her­auskommt. Herum­fliegen, das ist es also.

Die Vit­rine hat eine hauchdünne Glastüre, mundge­blasen, hat der Vater gesagt. Wie kann man wohl aus dem Mund Glas blasen? Andrea wün­scht sich, dass ihr das auch passiert. Wenn sie auf ihrer Flöte spielt. Töne aus Glas, die müssen wun­der­bar klin­gen.

Die kleinen Dinge hin­ter der Glastüre wer­den nie her­ausgenom­men. Teller, Schüs­selchen, Aschen­bech­er, Kaf­fee­tassen, Vasen, ein Spargel aus Porzel­lan, der ist komisch. Andrea fragt sich, ob sich Porzel­lan einges­per­rt fühlen kann. Jedes Stück hat seinen Platz.

Auf Andrea muss man jet­zt beson­ders auf­passen, sagt der Vater zum großen Brud­er. Der Vater macht sich Sor­gen Andrea ist doch geris­sen und geschick­ter, sagt der Brud­er, die wird schon bess­er auf­passen. Andrea ver­ste­ht kein Wort. Sie spielt am lieb­sten auf ihrer Flöte und möchte, dass es alle hören.

Es gibt keinen Fernse­her. Fernse­hap­pa­rat.
Es ist wichtig, das Wort ganz auszus­prechen. Noch wichtiger ist, dass man keinen hat. Und die Fam­i­lie ist wichtig. Beim Nachtmahl sollen alle da sein. Und nicht herum­fliegen. Die Fam­i­lie sitzt dann um den Tisch vere­int. Neben der Mut­ter ste­ht ein Teewa­gen, der ist nicht heikel. Dort ste­hen nur die Töpfe, die Mut­ter teilt die Suppe aus. Es ist immer schön aufgedeckt.

Hör auf mit dem Gedu­dle, sagt der Brud­er zu Andrea, das ist nicht auszuhal­ten. Was ist denn auszuhal­ten? Dass die Mut­ter nicht mit Anna spricht? Anna ist ihre Schwest­er, sie erwartet ein Kind, hat der Vater gesagt. Ich habe es mir schon gedacht, sagt die Mut­ter und weint.

Das Kinder­badez­im­mer, das Eltern­badez­im­mer. Wo wird das Kind gebadet wer­den? Anna ste­ht unter der Dusche, ein biss­chen sieht man schon. Der Bauch sieht aus wie aufge­bläht. Freust du dich? fragt Andrea. Andrea ist noch ein Kind, und sie freut sich auf das neue Kind.

Ist Anna noch ein Kind? Im Herb­st wird sie eines haben. Vorher wird Anna noch Matu­ra machen. Andrea sieht das Wass­er an Annas Bauch abrin­nen, außen ein Bauch, innen ein Kind. Andrea fragt sich, ob es das Wass­er spürt.

Anna ist eine glänzende Schü­lerin. Anna beste­ht die Matu­ra mit Ausze­ich­nung. Anna macht immer das Richtige. Andrea, die ist eine Zige­uner­in, sagt der Vater, auf die muss man jet­zt beson­ders auf­passen. Andrea darf nicht mehr bei ihrer Fre­undin über­nacht­en.

Annas Bauch wächst, die Mut­ter geht Klei­der mit ihr kaufen. Sie sind so schön. Andrea wäre gern Anna.

Der Kleine wird  im Schoße der Fam­i­lie aufge­zo­gen. Gut dass man schon in der großen Stadt­woh­nung ist. Wenn der Vater, der jet­zt Groß­vater ist, am Abend nach­hause kommt, muss das Spielzeug weg­geräumt sein. Der Vater des Kleinen ist noch in der Schule. Er kommt täglich auf Besuch. Nie über Nacht. Das ist nicht erlaubt.

Nie­mand weiß, wie es Anna geht. Das ist keine Frage. Anna ist jet­zt eine Mut­ter. Zwei Monate nach der Matu­ra. Gut dass man schon in der Stadt­woh­nung ist. Die ist nicht weit von der Uni. Anna ist jet­zt eine Stu­dentin. Sie ist fleißig und ver­säumt keine Zeit. Anna hat es geschafft. Und sie hat ja auch eine Mut­ter. Die unter­stützt sie. Anna hat alles, was notwendig ist. Ist eine Jugend notwendig? Nicht alle Fra­gen kön­nen gestellt wer­den.

 

Die Probe

Andrea ist erschöpft. Der Kopf ist voll, zu voll, die vie­len Bilder, die Musik. So laut, so bunt, so lebendig. Wie kann man es weg bekom­men, das Innere. Sie möchte es jet­zt ein­fach auss­chal­ten, so wie den großen Lichtschal­ter hier, den König über Licht und Schat­ten, bevor sie geht.

Anna ist zu intel­li­gent für die Liebe. Immer wieder geht Andrea der Satz des Vaters durch den Kopf. Vater war der erste Mann in Annas Leben. Ein intel­li­gen­ter Mann, natür­lich. Vielle­icht bezog er es ja nur auf sich. Auch in Andreas Leben der Erste. Sie teil­ten eben alles. Auch die Liebe. Von Anfang an.

Die Liebe

Der Vater liebt den Hund. Der Vater schlägt den Hund. Der Hund liegt im Vorz­im­mer. Der Hund liebt die Mut­ter. Die Mut­ter has­st den Hund. Der Hund beisst alle. Nur die Mut­ter nicht.

Der König

Vater ist schlank, eher schlak­sig.
Dick ist nie­mand in der Fam­i­lie. Vater fährt gern Rad, er fährt gern Ski, er ist auch ein Berg­steiger. Das hat ihm erst Mut­ter gezeigt, sie ken­nt jeden Berg. Berge sind gut. Vater hat eine Hobel­bank. In sein­er Werk­statt. Hin­term Haus. Dort ist er immer. Wenn er nicht in der Klinik ist. Hin­term Haus, man hört die Kreis­säge und riecht die Säge­späne. Vater restau­ri­ert gern alte Möbel, er ist sehr geschickt. Und man ist froh, wenn er in der Werk­statt ist.

Vater erzählt oft Witze. Sehr lang. Nur nicht unter­brechen. Am Schluss sind sie aber schon lustig. Man muss sehr lachen. Der Vater nen­nt Andrea dann mein Täubchen und fragt sie, was denn eigentlich der Witz war. Das ist dann mehr eine Prü­fung, und der Witz ist nicht mehr lustig. Anna wird nie nach dem Witz gefragt.

Vater sagt, als Kinder haben sie nur ein Paar Schuhe gehabt, alle gemein­sam. Ist das ein Witz? Mut­ter sagt, ganz stimmt es nicht. Aber es waren schlechte Zeit­en. Über den Krieg wird nie gere­det. Nur über die Schuhe. Vater war 16, als er im Krieg in Jugoslaw­ien war. Ob er wohl eigene Schuhe hat­te?

Am Son­ntag nach der Messe geht Vater „Juden schauen“. Andrea weiß nicht, was man da genau macht. Aber sie freut sich, dass Vater ein paar Stun­den weg ist. Er geht ins Park­ho­tel Kaf­fee trinken und hört ihnen beim Reden zu. Den Juden also. Er hört so gern ihre Sprache und erzählt so gern jüdis­che Witze. Er nen­nt das Jid­deln. Das tut er auch mit seinen jüdis­chen Patien­ten. Die find­en, dass er es sehr gut kann.

 

Die Probe

Obwohl es schon spät ist, und ein langer Tag hin­ter ihr liegt, hat Andrea plöt­zlich Lust zu putzen. Sie möchte sich bewe­gen. Ord­nung schaf­fen. Hier kann es tat­säch­lich nicht schaden. Vielle­icht überträgt es sich auf sie, das Saubere, Frische. Mit uner­warteter Energie begin­nt sie, nach Besen, Fet­zen und Kübel zu suchen. Sie möchte jet­zt Wass­er auf ihrer Haut spüren, lauwarmes, und den stechen­den Geruch von Putzmit­tel riechen.  Und kehren. Ein­fach kehren, Türe auf und mit fes­tem Griff den Boden spüren, raus, raus mit dem Dreck. Immer im Rhyth­mus bleiben, kraftvoll und regelmäßig. Das Klavier glänzt ohne Staub­schicht, wie neu gekauft sieht es jet­zt aus.

Vater der Leib­haftige. Andrea hat das Jaulen des Brud­ers im Ohr, im Rhyth­mus der Schläge auf den Hin­tern. Die Wut der Mut­ter im Bauch. Die Verzwei­flung der Schwest­er im Hals. Den Hass des Brud­ers vor Augen. Die Ver­let­zung der Würde in den Knien. Die Ohn­macht des Vaters auf der Haut. Die Sprachlosigkeit der Mut­ter im Herzen. Eine Ganzkör­p­er Erin­nerung, ein ganzes Leben lang. Steiger dich doch nicht hinein. Andrea will sich nicht hine­in­steigern. In anderen Fam­i­lien ist auch nicht alles gut.

Müde bin ich
geh zur Ruh
schließe meine Äuglein zu
Vater lass die Augen dein
Über meinem Bette sein

 

Ameri­ka

Wenn ich ein Vöglein wär
Und auch zwei Flügel hätt
flög ich zu dir

Anna geht nach Ameri­ka. Das Leben ist noch jung, alle haben ihre Pläne. Jet­zt ist sie weg, sagt Andreas klein­er Sohn am Flughafen, und winkt Anna trau­rig nach. Anna wird Kor­re­spon­dentin für die Zeitung, in der sie arbeit­et. Sie ist so erfol­gre­ich. Am Flughafen ste­ht die ganze Fam­i­lie, alle weinen. Davor haben alle noch Witze gemacht und Sekt getrunk­en. Aber jet­zt ist es soweit. So weit. Andrea und Anna ent­fer­nen sich voneinan­der. Jet­zt.

Andrea bleibt zurück. Es ist wie ein Schock. Eine Trauer­feier, ohne Übertrei­bung. Wenn Anna ster­ben wird, wird es das gle­iche Gefühl sein. Das wird erst in vie­len Jahren sein, kein­er weiß etwas davon. Vielle­icht ist der Abschied deshalb so schw­er, weil er ein Vor­bote ist. Eine Übung für später. Anna hin­ter­lässt eine große Leere.

Anna schreibt aus Ameri­ka. Lustige Geschicht­en, Berichte und Briefe. Besuche wer­den aus­gemacht, mails aus­ge­tauscht. So schlimm ist es nicht, Andrea ist in Wien sehr beschäftigt, sie schließt ihr Studi­um ab. Sie arbeit­et. Sie hat zwei kleine Kinder. Sie wird sich bald tren­nen vom Vater ihrer Kinder. Das weiß sie auch noch nicht. Aber sie spürt es schon.

Andreas Fre­undin ruft an und sagt, in Ameri­ka ist etwas passiert. Ein Anschlag. Alle machen sich Sor­gen, nie­mand weiß, was los ist. Anna meldet sich, sie ist mit­ten­drin. Diese Geschichte ist nicht lustig, und die ganze Welt schaut zu. Und Anna berichtet darüber. Sie ist so weit weg. Andrea benei­det Anna jet­zt nicht.

Das Leben ohne Anna gehört jet­zt zum Leben. Andrea ist mit­ten­drin. Das Leben geht weit­er. Ohne Anna. Andrea ist die Schwest­er von Anna. Andrea ist nicht allein. Nie. Jed­er fragt sie nach Anna. Will Anna ken­nen. Ihr nahe sein. Andrea möchte gern allein sein. Es ist schw­er zu erk­lären.

Anna kommt an, egal wo sie ankommt. Selb­st wenn sie weg ist, ist sie in aller Munde. Sie hat etwas Leicht­es. Sie hat Unter­hal­tungswert. Sie sprüht. Sieht nie­mand, wie schw­er sie es hat? Alle bewun­dern sie. Anna muss doch geliebt wer­den, nicht bewun­dert. Das weiß Andrea. Aber Anna ist zu intel­li­gent für die Liebe. So einen wie den Vater gibt es nicht. Gott sei Dank. Der so ist. Wie man es nie und nim­mer will. Und doch ver­misst. Bess­er keinen. Anna find­et die Liebe nicht.

 

Die Probe

Andrea liegt eingewick­elt in ein­er Decke am Sofa, sie ist tod­müde und hellwach zugle­ich. Sie kann sich nicht aufraf­fen zu gehen. Aufhören, unter­brechen, loslassen. Abschiede sind grausam, Fes­thal­ten unge­sund. Was war, ist für immer gewe­sen, aber es ist nicht gewe­sen, son­dern da. Es geht nicht weg.

Andrea schließt die Augen und ver­sucht, ihren Gedanken zu entkom­men. Den Fra­gen ohne Antworten. In der Musik ist alles zu find­en. Sind es Antworten? Jesus weiß die rechte Stunde, dich mit Hil­fe zu erfreuen. Soll sie darauf ver­trauen? Gottge­lassen? Sie kann sich glück­lich schätzen, dass sie die Musik hat. Auf sie kann man sich ver­lassen.

Die rechte Zeit zwis­chen Dur und Moll. Das hat sie der Mut­ter zu ver­danken. Die Liebe zur Musik. Mut­ter­liebe. Anna war immer eifer­süchtig auf Andreas Musikalität. Arme Anna, sie war doch so hochbe­gabt. Alles kann man nicht haben. Hat Andrea das bessere Los gezo­gen?

Was glaub­st du wer du bist
Wer bin ich.
Was wird kom­men.
Wer wird kom­men
Wann soll ich kom­men.
Wann hört das auf
Das Feuer pras­selt.

 

Anna weint

Anna ist so komisch. Schläft. Wacht auf. Raucht. Schläft. Und macht keine Witze mehr. Ihr Kühlschrank ist leer. Andrea besucht sie in Berlin. Anna ist nicht mehr in Ameri­ka, jet­zt ist sie in Berlin Kor­re­spon­dentin. Berlin ist cool. Aber Anna ist nicht mehr so cool. Wie vor ein paar Jahren. In Ameri­ka hat­te sie noch einen Mann, Andreas jet­zi­gen Mann. Er war zur Stelle, wenn sie etwas brauchte. In Berlin ist es schwierig, wenn man nicht mehr so cool ist.

Alle anderen, in Wien, haben Fam­i­lie und Kinder. Anna hat einen Beruf. Einen Tollen. Und einen Sohn, der ist erwach­sen. Sie ist allein. Sucht Anschluss. Sie kann es, immer noch. Ankom­men, egal wo sie ankommt. Es kostet Kraft. Und sie wird schneller müde. In Berlin muss man wach bleiben. Berlin ist eine junge Stadt. Bei­de Schwest­ern zuhause machen glück­liche Fam­i­lien. Fam­i­lie ist wichtig  Einen Mann haben auch.

Anna kommt nach Wien auf Besuch. Hält das Baby der Schwest­er im Arm. Und weint. Sie hätte auch noch gern eines. Glaubt sie. Was glaubt sie denn, denkt Andrea. So lustig ist das auch wieder nicht mit Kindern. Anna wollte hoch hin­aus. Hat es allen gezeigt. Anna ist erfol­gsver­wöh­nt. Man gewöh­nt sich an alles. Und alles ändert sich. Anna auch.

Plöt­zlich wird sie wieder lustig. Gott sei Dank. Sie ist jet­zt wieder zurück in Wien. Berlin ist weit weg. Anna ist zu lustig. Find­et Andrea. Irgen­det­was stimmt nicht. Der andere Brud­er, mit dem Andrea noch redet, find­et, dass Andrea übertreibt. Er muss es wis­sen, er ist ja Arzt. Andrea weiß es aber auch. Etwas stimmt nicht. Anna spin­nt. Es ist nicht mehr lustig. Sie kauft Biki­nis, min­destens zehn. Sie hat einen neuen Job. Sie find­et jet­zt alles toll. Mut­ter bemerkt es auch.

Andrea ver­liert den Boden. Kann man etwas ver­lieren, was man noch nie hat­te? Den Job ver­liert sie auch. Die Freude. Wer ist sie jet­zt. Es ist schw­er sie zu ertra­gen. Jed­er will die alte Anna zurück. Wer war die alte Anna? Und was braucht die Neue? Man kann sich nicht mehr mit ihr schmück­en. Eher genieren. Wenn sie zu lustig ist. Sie ist nicht mehr toll. Aber arbeit­s­los ist sie jet­zt. Mut­ter schaut auf sie. Anna schläft wieder. Raucht. Schläft. Nichts ist mehr lustig. Alle sind rat­los Es ist so schw­er das Richtige zu tun.

 

Die Probe

Wohin mit dem Schlecht­en, fragt sich Andrea. Ihr ist kalt, selb­st unter der Decke. Schwamm drüber. Wie sehr Andrea den lieben Frieden ver­achtet, der über das Schlechte hin­weg huscht, statt es zu berühren, sich mit ihm zu verbinden. Hin­greift. Muss man im Dreck wühlen, um zum Guten zu gelan­gen? Vielle­icht. Vielle­icht nicht. Anna wollte es jeden­falls nicht tun und bevorzuge den lieben Frieden. Was soll das sein, fragt sich Andrea. Das Gegen­teil von einem bösen Frieden?

Irgend­wann war er weg, dieser liebe Liebe. Und wurde zum Gegen­teil sein­er selb­st. Mit Liebe hat­te das nichts zu tun. Drehte sich ins Böse, ins Grauen­hafte, arme Anna, dage­gen kon­nte sie nichts mehr machen. Sie musste am eige­nen Leib erfahren, dass es ernst wurde. Und wie ernst. Das Leben duldete keine Aus­flüchte, und schon gar keine Notlü­gen. Anna hat­te keine Kraft mehr. Diese Fam­i­lie kon­nte sie nicht ret­ten. Und sich selb­st auch nicht.

Andrea denkt an den Anruf Annas, ich habe Leberkrebs. Aus, Ende. Das Schlechte ließ sich nicht mehr abhal­ten, kein gutes Wort war zu find­en. Mut­ter weinte am Tele­fon, als Andrea sie gle­ich darauf anrief, und legte schnell wieder auf. Was sollte man da noch sagen. Andrea denkt an den Som­mer, der auf diese Nachricht im Früh­jahr fol­gte. Anna wollte noch so viel erleben wie möglich. Dass sie bald ster­ben würde, wusste sie.

 

Frauenge­sang

Anna, Andrea und Mut­ter sitzen auf der Ter­rasse. Es ist Som­mer. Die Mut­ter hat Kaf­fee gekocht. Andrea hat ein Lied mit­ge­bracht. Mar­i­ca Rosiza. Es han­delt von einem grü­nen Röschen. Sie möchte es mit Anna und Mut­ter sin­gen. Anna macht keine Witze mehr beim Sin­gen, wie früher. Sie möchte es nur ler­nen. Ern­sthaft. Mut­ter, Anna und Andrea sin­gen, jede eine Stimme. Dreis­tim­mig. Anna lernt schnell. Sie hat nicht mehr viel Zeit. Das Lied zu dritt klingt wun­der­schön. Zum Weinen schön. Warum muss ich ster­ben, sagt Anna mit­ten im Lied. Und weint.

Anna kommt Andrea im Juli in ihrem Häuschen am Land besuchen. Anna hat Geburt­stag. Das Korn ist gold, die Sonne scheint. Der Lieblingsplatz ist oben am Feld, sie nen­nen ihn Korn­gold. Oder Erich. Nach dem Groß­vater? Oder Wolferl, das ver­ste­ht nie­mand. Egal. Anna ist sehr schwach, aber sie will unbe­d­ingt nach Korn­gold hin­auf. Es gibt keine Stufen, man muss krax­eln. Anna schafft das. Schw­er. Sie hebt das Glas, kein Sekt schmeckt mehr. Anna saugt etwas anderes auf.

Anna und Andrea fahren nach Kroa­t­ien. Es ist warm und die Abend­sonne glitzert. Sie sitzen auf den Felsen und blick­en übers Meer. Anna erzählt von ihrer Angst. Sie hat große Angst vor dem Ster­ben. Und sie erzählt von ihrem Ziel. Sie möchte den 50er noch erleben. Sie ist ger­ade 49 gewor­den. In Korn­gold. Andrea weiß nicht, was sie sagen soll. Jedes Wort klingt falsch. Warum haben sie nicht gel­ernt, mit Umar­mungen zu trösten? Anna ist ganz allein in ihrem kranken Kör­p­er. Und Andrea ist ganz allein in ihrem gesun­den.

Mut­ter ist bei Anna im Spi­tal. Es ist Annas let­zter Abend. Bei­de wis­sen es. Irgend­wie. Es ist noch lang vor dem 50er. Auch vor Wei­h­nacht­en ist es. Wei­h­nacht­en zu erleben, war das nähere Ziel von Anna gewe­sen. Sie wird es nicht erre­ichen. Mut­ter ist eine ruhige Per­son. Nicht über­trieben. Anna sagt ihr, dass sie Angst hat vor dem Ster­ben. Wie wird es sein? Ich glaube du brauchst dich nicht fürcht­en, sagt Mut­ter. Mehr nicht. Mut­ter sagt nie etwas Falsches. Anna ist ganz sich­er beruhigt. Das beruhigt auch Andrea. Als Anna am näch­sten Tag stirbt, hat Andrea keine Angst mehr vor der Berührung. Anna stirbt gebor­gen und Hand in Hand. Umgeben von allen. Im Guten, wie son­st.

Jesus weiß die rechte Stunde, dich mit Hil­fe zu erfreu’n. Wenn die trübe Zeit ver­schwun­den, ste­ht sein ganzes Herz dir offen.

Die Probe

Hat Anna etwas von Andrea mitgenom­men, als sie starb? Kon­nte sie das? Durfte sie? Andrea fühlt sich wie aus­gewei­det. Erst seit Anna weg ist? Sie denkt an das Märchen von Rotkäp­pchen, die schw­eren Steine im Bauch des Wolfs. Nichts ein­mal Steine hat sie drin, nur nichts. Die Träume, in denen Anna erscheint, sind trügerisch und schön, alles wieder aufge­füllt, beim Aufwachen ist es weg. Leer. Ver­loren. Aber vielle­icht wollte Anna es ihr ja jet­zt zurück brin­gen, über­legt Andrea. Das was fehlt. Das Lebendi­ge, das Erlebte, das Gemein­same, das Eigene, das was war. Was für immer gewe­sen sein soll. Es gehört zu Andrea und ihrem Leben. Ihrer Gegen­wart. Ihrer Zukun­ft. Anna hat nicht alles mitgenom­men.

Der Blick zurück hat ein Bild gemalt, Andrea sieht es nun vor sich. Riesig, mit geschnitztem Rah­men, vom Vater ver­gold­et. Es ist eine Art Guck­kas­ten, und die Fig­uren und Motive sind beweglich, lassen sich ver­stellen, hin und her schieben. Ver­schiedene Szenen und Naturein­drücke sind zu sehen, ein buntes Treiben. Viele Schicht­en, viele Far­ben. For­men. Höhen und Tiefen, Abgründe, Schlucht­en. Plätze, Gegen­den, Gebäude, Men­schen, die sie ken­nt, mit­ten­drin. Die ganze Fam­i­lie. Alle. Sie kann alle und alles her­aus­nehmen. Von allen Seit­en betra­cht­en. Und alles verän­dern.

Stoff und Stim­mung ohne Ende. Und der Boden? Den kann man nun mal nicht aus­machen unter all der Üppigkeit, der motivis­chen Über­lagerung aus Wach­sen­dem und Wuch­ern­dem, den Sümpfen und Meeren, Teichen und Wasser­fällen,  Blu­men­wiesen, Korn­feldern oder weit­en Schnee­land­schaften. Blühen­des, Gefrorenes, Moosiges, Geröll­halden und Alm­rausch, was darunter liegt, bleibt hier ver­bor­gen. Fehlt er wirk­lich, der Boden? Das wollte sie also, Anna. Ihr das große Bild schmack­haft machen. Das Bild mit dem Boden zum Sel­ber­suchen.

Typ­isch Anna, denkt Andrea, sie hat leicht reden. Ihr Ist es ja wohl nicht gelun­gen, sie ist darin ver­sunken und ver­loren gegan­gen. Ein­fach ver­schwun­den. Hat den Him­mel vorge­zo­gen, war er leichter zu find­en? Aber das Bild gefällt Andrea. Irgend­wie. Es ist so lebendig. Reich an Inspi­ra­tion. Voller Kraft. Was ihr nicht gefällt, kommt weg. Vielle­icht auch wieder zurück. Man wird sehen. Nichts bleibt ste­hen. Es ist ja ihr Bild. Sie wird es mit­nehmen und bei sich lassen. Aufhän­gen. Anna hat es nun zurück gebracht.

Jet­zt kann sie gehen, es ist die rechte Stunde, beschließt Andrea. Bevor sie den Lichtschal­ter ausknipst, merkt sie, dass es draußen schon hell wird. Sie blickt sich im Ate­lier um und spürt die neue Tageszeit in allen Winkeln. Andere Far­ben. Die Zuver­sicht, die Frische des Mor­gens. Jed­er Tag ein Neuan­fang, heute beson­ders. Im Garten ist es mucksmäuschen­still, noch kein Vogel zu hören. Der alte Stein­bo­den strahlt küh­le Ruhe aus. Die Heuri­gen­bank liegt noch im Schlaf.

Das Geräusch des Schlüs­sels kracht in die Stille hinein. Andrea genießt die schnelle Bewe­gung, als sie ihn umdreht. Die Kraft, die sie hinein­legt, das laute, plöt­zliche Klack­en. Den Hall. Den Impuls. Schlüs­sel und Schlüs­sel­loch sind Paare sper­riger Geheimnisse, oder sind es schlüpfrige Geheimnisse? So vieles liegt in ihrer Macht, sie kön­nen Räume eröff­nen und beschützen. Sie sind die Wächter über Außen und Innen, die Haus­meis­ter des Geschehens. Der met­al­lene Garten­za­un, die let­zte Gren­ze zum Außen, vib­ri­ert, als Andrea nun auch sein Schloss absper­rt. Fast elek­trisch, als wäre er in Aufruhr ver­set­zt, zu so früher Stunde geweckt zu wer­den.

Die Straßen­later­ne ist noch an, ihr Licht begeg­net schwach dem des anbrechen­den Tages. Ein zarter Mor­gen­gruß. Ich bin jet­zt endlich am Weg nach­hause. Zuhause. Das Zuhause. Mein Zuhause. Werde ich es auch ver­stellen in dem großen Bild? Verän­dern, ver­schieben, bewe­gen? Erken­nen? Ich weiß jet­zt, wonach ich suche. Und noch etwas weiß ich.
Andrea heißt Eva und wird immer willkom­men sein. Bei mir.