Jede achte Frau hat Brustkrebs, oder ist es sogar jede siebente? Ist das ansteckend? Selbstverschuldet? Oder einfach Pech. Warum ich? Was auch immer die Wahrheit dahinter sein mag, wenn es eine von uns trifft, dann gibt es Fragen über Fragen, eine Flut von Gedanken und Erfahrungen. Ein Einblick.
Der Blick über die Stadt ist atemberaubend. Das Lächeln der Morgensonne huscht wie ein freundlicher Zauberstab über Häuser und Bäume. Die vielen Kirchturmspitzen ragen inmitten bunter Dächer heraus und zeigen, wo der Herr wohnt. Hoch oben, ganz in meiner Nähe also. Die Wiener Hausberge umranden das wohlige Bild, sogar der Schneeberg präsentiert sich glitzernd in der Ferne. Darauf warte ich seit Tagen, Schneebergblick.
Ich stelle mir vor, ich bin auf Urlaub, vergesse den Grund, warum ich hier bin. Nichts Großes. Man kann es leicht vergessen. Der Radiologe sagt, ein Muttermal schneidet man auch heraus, wenn es bösartig ist. Dann ist es weg. Die Brust ist nicht weg, nur ein Stück. Ist das besser als weg? Wenn ich hinein schaue, von oben, in mein Hemd, ist das, was weg ist, da. Die Delle unter dem Pflaster, ich kann sie nur erahnen, ein trauriges Zeichen meiner Verstümmelung. Übertreib nicht. Es ist ein Glück.
Mein Glück ist ein Grenzfall, ein Rausch wäre mir lieber, denke ich, während ich mein trauriges Brüstchen von oben betrachte. Die Brustwarze ist merkwürdig in Aufruhr geraten, hebt sich fast spitzbübisch ab vom Rest der Haut. Womöglich hat er sie auch angeschnitten, überlege ich, versetzt, verlegt, sie und ihren Hof. Wie eine Landschaftsgestaltung, ich bin bei allem Unglück fasziniert davon.
Warten auf die OP. Ich schaue zu, aber eigentlich bin ich Teil der Szene. Das Warten vor den OP-Räumen, wie auf dem Verschubbahnhof. Die Betten werden hinein- und herausgeschoben, unermüdlich läuft das Werk. Dazwischen ein kleiner Tisch, dort sitzen die Bettenschieber, fröhlich vereint, fast wie beim Kartenspielen. Jedes Mal, wenn einer von ihnen zurückkommt von seiner Fuhre, gibt’s ein Red Bull aus dem Spar-Säckchen, das auf dem Tisch steht. „Alles Gute“, hört man den höflichen Schieber vorher noch sagen, wenn er das jeweilige Bett auf dem Warteplatz fixiert hat. Dann ist die Runde wieder vereint. Bruder, was geht.
Die Ware in den Betten ist lebendig, aber das vergisst man leicht. Ich möchte mich abheben, ich bin fit, ich bin nicht krank! Unversehrt, noch. Die letzten Minuten. Ich schaue nur zu, ich gehöre da nicht her. Doch. Jetzt kommt jemand zu mir. Begrüßt mich. Ich bin kein herumstehendes Etwas mehr, mit Maske im Gesicht. Ich werde angesprochen, wie schön. Der grüne Mann beugt sich über mich. „Dr. Wohlgemut“, stellt er sich vor, „ich bin Ihr Anästhesist.“ Ich könnte jaulen vor Freude, was für ein Name. Wie ein Lottosechser kommt es mir vor, ich habe gewonnen, ich bin die Auserwählte, er holt mich hier raus. Alles wird gut. Wohlgemut.
Ab diesem Moment bin ich Hauptperson. Alle reden auf mich ein, doch kein kleiner Fall? Leben und Tod, gleich neben der Verladestelle, es ist viel spannender hier, ich spüre die Konzentration, die Klarheit der Situation. Das mag ich. Als ich aufwache, ist nichts gut. Wo ist mein Arzt? Eine Schwester kümmert sich um mich. Mir rinnen die Tränen übers Gesicht. So peinlich. „Was haben Sie denn?“ Ich kann nicht antworten, nur heulen. Oder ist es weinen. Warum ist der Arzt nicht da. Er operiert schon wieder. „Wird er noch zu mir kommen?“, frage ich verzweifelt. „Vielleicht, ich kann es Ihnen nicht versprechen.“ So viele Eingriffe, tagein, tagaus, Routine und Alltag. Ich bin ein Nichts im Schlund dieses Riesenkomplexes.
Als ich ins Zimmer gebracht werde, entspanne ich mich, es ist fast wie Nachhausekommen. So schnell wird man also heimisch. Mein Chirurg kommt zu mir. Ein Glück. Die Operation ist gut verlaufen. Er strahlt, „alles bestens, wir haben auf jeden Fall die richtige Brust operiert“. Ich finde es lustig, obwohl mir immer noch zum Heulen ist. Im Nebenzimmer liegen haarlose Frauen, denen geht es viel schlechter. Glück im Unglück, nicht mein Wunschglück. Ich höre die Glocken läuten, kann mir aussuchen, von welchem Kirchturm, es sind so viele über Wien.
Bös oder artig? Es kann noch kommen. Das Bösere. Von dem man momentan nicht ausgeht. Weil es gut aussieht. Warten wir ab. „Aber Sie müssen sich schon damit auseinandersetzen. Sonst haut es sie dann um.“ Also was jetzt? Werde ich dann auch die Haare verlieren? Würde ich? „Ja.“ Ich hab eh so viele, geht es mir durch den Kopf.
Meine Tochter besucht mich. „Du bist eine Bettschönheit“, sagt sie. Was hat sie sich vorgestellt? Eine Mutter als zerstörtes Weh, die Arme, sie war sicher sehr nervös. Sie bringt mir Blümchen.Selbst gepflückt, von der Donauinsel. Das hat sie von mir, überall was Hübsches abpflücken, und ich habe es von meiner Mutter. Man hat so viel von wem, von wem hast du das wohl, woher habe ich ihn? Den Krebs. Hör doch auf. Ich freue mich unglaublich, sie zu sehen. Sie ist ein Teil von mir, ein unzerstörter. Das Leben ist in mein Zimmer gekommen, es verströmt sich liebevoll.
Drei Wochen ist es her. Der Arzt, zu dem ich direkt im Anschluss an die Mammografie geschickt wurde, war ernst. „Ich kenne Ihre Schwester“, sagte ich fröhlich, als er sich mir vorstellte. „Na, dann wird das ja jetzt noch unangenehmer“, antwortete er und begann schweigend, an meiner Brust zu schallen. Ich wusste nicht, ob er mir jetzt leidtun sollte, wegen der Unannehmlichkeit. Wollte ihn aufheitern. Oder doch mich? Erwähnte die harmlosen Miniverkalkungen, die ich vor Jahren in der Brust hatte, um das Schweigen zu brechen. Nichts zu machen. Er blieb ernst. „Die bereiten mir keine Sorgen“, erwiderte er, „mir macht da ganz etwas anderes Sorgen.“ Wieder Schweigen. Und Schallen.
Endlich Worte. „Wollen Sie sich anziehen?“ Ja, eigentlich schon. Doch eine eigenartige Situation. Der Göttliche im Mantel und ihm gegenüber die wildfremde barbusige Kreatur, die demütig darauf wartet, eine vernichtende Botschaft zu empfangen. Geradezu sinnlich, ging es mir durch den Kopf, spielen wir Arzt und Patientin, nur hatte ich weder Leder noch High Heels, und er keine Peitsche. Was er sagte, schlug allerdings zu. Sternförmig, typisch, hochsuspekt, Größe, Knoten, anzunehmen … Vom Anziehen sprach er nicht mehr, war wohl mehr rhetorisch gemeint gewesen. Ich setzte mich auf und lauschte seiner monotonen Stimme, bis der Schluss-Satz endlich aussprach, was der Arzt trotz oder wegen allen Schweigeschalls längst gesagt hatte: „Wir müssen davon ausgehen, dass Sie Brustkrebs haben.“
Erholung im Paradies. Ich bin doch ein Glückskind. „Wie immer“, sagt meine Mutter. „Das kannst auch nur du“, sagt meine Schwägerin, „aus so einer Situation so etwas Schönes herausholen.“ Dabei wurde ich herausgeholt, zur Erholung, nach der Operation. Von meiner Freundin in ihr Haus, fahr doch, es steht leer. Es ist nicht einfach ein Haus, es ist das Paradies.
Alles blüht, und der Frühsommer schickt aus jeder Richtung seine Gerüche aus Gras und Wärme. Pfingstrosen, Lavendel und Schmetterlinge. Sogar Maikäfer fliegen hier, dabei ist es Juni. In Wien wird geschwitzt und gearbeitet. Danke, lieber Glückskrebs, meine Freunde beneiden mich bereits um meine Situation. Fast.
Am Montag ist Befundbesprechung, noch sechs Tage. Nur bestrahlen oder doch Chemo, der kleine Unterschied, der es ausmacht. Jetzt kannst du ein bisschen abschalten. Kann ich. Kann ich? Ich lese ein Buch, das empfiehlt, sich vom Verstand zu trennen, die Gedanken nur zu beobachten. Im Trennen bin ich schlecht. Auch im Loslassen, es inspiriert mich nicht, ähnlich wie positiv Denken. Oder kann ich es nur nicht? Ich habe mich gerade von einem Stück Brust getrennt, immerhin.
Nur mehr zwei Tage. Ich bin zurück in Wien. Fühle mich erholt wie nie, lege ordentlich los zu Hause. Ich will wieder funktionieren, die wunde Brust ist immer weniger zu spüren, die Angst, dass eine Naht reißt, so gut wie weggeblasen. Nur in der Nacht weiß ich oft nicht, wie ich liegen soll, aber das ist eine Kleinigkeit. Ich kann alles, bis auf duschen. Alle sind nett und liebevoll zu mir, selbst meine pubertären Töchter gehen mit den Hunden hinaus, ohne es im Vorfeld tausend Mal zu diskutieren. Sekundärer Krankheitsgewinn, den Begriff habe ich gerade gelernt.
Montag rückt näher. Vor der letzten Befundbesprechung habe ich eine Nacht durchgekotzt und konnte vor Schüttelfrost nicht mehr warm werden. Die Psyche ist arg, führt sich auf wie eine Irre. Das war zehn Tage nach der Mammografie, die erste Meldung über das, was die Biopsie zeigen würde, damals noch vor mir. Alles war enthalten an Möglichkeiten. Ein Potenzial der Angst, ich habe kein Talent für so was.
Jetzt ist doch alles schon viel besser. Obwohl bösartig. Keine Metastasen. Der kleine Schock, als der Radiologe etwas auf der Leber sah, hat sich schnell im Ultraschall aufgeklärt. „Ein schöner, kleiner Blutschwamm“, beruhigte er mich fröhlich. Ja, wirklich schön. Vor allem, dass der Radiologe mein Freund ist, sonst hätte ich mit dieser Angst und einer Überweisung wieder ein paar Tage leben müssen, nicht nur zehn Minuten. Schritt für Schritt, ich habe schon viele hinter mir. So viel Schrecken ist nicht eingetreten, die Abgründe nur sehr nahe. Gott sei Dank. Aber das Leben verläuft nicht geradlinig. Montag ist übermorgen, das ist das Einzige, was sicher ist.
Ich überlege, was ich anziehe. Man will doch hübsch aussehen. Will man? Ja, schon. So egal, sage ich mir, und überlege doch weiter. Das gefürchtete Gespräch kosmetisch herausfordern, verpacken, ihm Attraktivität verpassen, will ich das? Vielleicht sagt er dann etwas anderes, wenn ich schön bin. In drei Stunden ist der Termin. Endlich. Es geht mir schon zu sehr auf die Nerven, dieses Hin und Her der inneren Stimmen. Hell, dunkel. Und der äußeren. Wirst sehen, da wird nix mehr sein. Bei meiner Mutter war das auch so. Meine Freundin hatte das auch. Das ist dann erledigt. Dieses „Das“ ist es, das mich angreift.
Die Wiederholung einer ahnungslosen Zusammenfassung, bei dir, bei mir, bei ihr – wer kann denn „das“ schon auf den Punkt bringen? Ist man bei jeder Krankheit so sensibel? Immer noch frage ich mich, ob das eine Krankheit ist. Eine Mutation, eine Zellverwirrung. Ein wilder Tanz, der zu wild geworden ist? Selbst der Arzt beschreibt nur einen Teil, „das“ ist jedes Mal anders, „das“ ist immer das Eigene, nur jeder gibt sein Eigenes dazu.
Warum dauert das so lange mit den Befunden, das ist doch komisch, die linke Seite ist immer was Seelisches, ich hab ein gutes Gefühl bei dir, du musst auf dich schauen, glaub fest daran, hör auf dich, lass dich verwöhnen, alles wird gut, ich bete für dich, mach Yoga. Ich weiß, wie schwierig das ist. Das Richtige zu sagen. Das wird mir langsam zu viel.
Und endlich ist es gesagt. Keine Chemo. Der drohende Schatten der letzten vier Wochen schlagartig einer strahlenden Sonne gewichen, die mich durchdringt. Ich bin wieder auf der richtigen Seite. Mit Haaren. „Bin ich nicht ein Künstler?“, freut sich mein Arzt, als er mir Pflaster und Nähte entfernt und die nackte Wahrheit endlich sichtbar wird. Es ist wirklich nicht so schlimm, die Delle fast nicht zu sehen, und eine feine zarte Naht umrandet einen Teil des Warzenhofs. Wie schön er gearbeitet hat.
Hat er sich extra bemüht, überlege ich, vielleicht bin ich ihm sympathisch? Welch’ große Macht in seinen Händen, und was ich mir schon wieder alles einbilde. Ich will hören, wie er es sieht, das Ganze. Diese Episode, diesen Eingriff. Als Möchtegernkrebs? Als Lappalie? Soll ich es als erledigt betrachten oder beginnen nachzudenken? Etwa verändern in meinem Leben. Warum entsteht so etwas, habe ich etwas begünstigt? Ja, gerade ihn, den Chirurgen, den Schnipsler, der so zufrieden ist mit seinem Werk, will ich fragen.
Und ich erwarte eine quadratische Antwort, gut geschnitten und vernäht. Weg ist weg. Aber diesen Gefallen tut er mir nicht, er lässt sich Zeit und denkt nach. „Wir wissen letztlich zu wenig darüber“, sagt er dann. „Warum so etwas entsteht. Eine Zeit lang werden Sie sicher noch damit beschäftigt sein, und das ist auch gut so. Auch wenn wir alles erwischt haben.“
Strahlentherapie und fünf Jahre Tabletten. Ich bin so weit, das als Glück zu betrachten, als Zeichen der Götter, die mir gnädig waren. Die Demütsübung ist also gelungen, ich habe verstanden. Das Glück im Unglück ist mein Wunschglück geworden. Wie lange wird die Schockwirkung wohl anhalten, die mich so gutartig dämpft und zügelt? Das Bild der in sich Ruhenden, die ich nicht bin, geht mir nicht aus dem Kopf. Wie könnte sie aussehen, damit sie mir gefällt?
Beim Schulschlusstreffen einer meiner Töchter sitze ich neben einer Frau, die ich nicht kenne. Es ist mein erster sozialer Ausgang seit der Operation. Nachdem ich beharrlich keinen Impuls für ein Gespräch setze, stellt die andere Sitznachbarin ihr eine Frage. „Was machst du beruflich?“ Die Antwort haut mich um. „Ich gebe ein wissenschaftliches Magazin für Betroffene heraus, Brustkrebs, ich bin ja selbst Betroffene.“ Na bum. Schaue sie nun an, eine bildschöne Frau, vollbusig und strahlend, gesund und munter, wie gibt’s denn so was. Und ich neben ihr, unerwartet, unhöflich, unlustig, mit einem Schlag ist alles anders.
Ich überlege nicht lange. „Ich komme gerade aus dem Spital“, sage ich, sagt es sich aus mir. Ich hatte nicht vor, hier darüber zu sprechen. Ihr Brustkrebs war ein echter, ein richtiger, ein wahnsinniger. Einer mit Metastasen und ohne Perspektive. Warum sie noch hier sitzt, und in welcher Frische auch noch, das kann sie mir nicht erklären. Aber sie erzählt mir von sich, manches kommt mir bekannt vor.
Edyta ist da, Freitag. Danach ist unsere Wohnung zum Wohlfühlen. Für eine Stunde, vielleicht zwei. Niemand kann die schöne Ordnung halten. Ich geniere mich, jeden Freitag. Ein bescheidener Beitrag. Aber ich tratsche mit ihr, das schafft Verbindung, wenigstens. Sie ist immer freundlich. Immer. Ich kenne keinen freundlicheren Menschen. Sie fragt mich, wie es mir geht. Wer hat ihr davon erzählt?
Egal, sie erzählt von ihrer Mutter und ihrer Großmutter, beide hatten Brustkrebs. Ich hebe spontan mein T-Shirt hoch und zeige ihr die Brust, sie scheint ja vom Fach zu sein. Sie bricht in Begeisterung aus. „Nein, ich bin schockieren!“, ruft sie. „So schön, was glaubst du, in Polen, wie die Frauen ausschauen, große Narben, nie können Ausschnitt tragen. Hier die Ärzte sind viel besser, wie schön du bist!“ Dann umarmt sie mich und gibt mir ein Bussi auf die Wange. Danke, lieber Glückskrebs.
Schon wieder wird mir klar, wie privilegiert ich bin. Wir sind. In Amerika würden wir Sie noch am selben Tag nach Hause schicken, mit allen Schläuchen, die an Ihnen hängen, hat mir ein Arzt im Spital vor der Operation gesagt. War das zur Beruhigung gemeint? Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie männliche Medizin weibliche Situationen fest im Griff hat. Oder bin ich schockieren? Dass meine Brustnarbe etwas Wunderbares ist, war mir bis jetzt nicht bewusst. Wie schön das ist.
Verheilte Narben. Es kehrt Alltag ein. Verheilte Narben und ein normales Leben. Bis August, wenn die Bestrahlungen losgehen. Ich surfe immer noch auf der Woge des Mitgefühls durchs Leben, bekomme liebevolle Nachrichten, niemand vergisst auf mich. Ich lese, dass verheiratete Frauen besser geheilt werden von Brustkrebs als Alleinerzieherinnen. Das gilt wohl für jede Krankheit, denke ich, geteiltes Leid ist halbes Leid. Oder? Und frage mich schon wieder, ob ich geheilt bin. Weg ist weg. Spüre ich da eine Art Wehmut? Trauere ich ihm etwa nach, dem Knoten, dem Stück Brust, der Aufregung, dem Ausnahmezustand?
Danke, lieber Glückskrebs. Schon wieder wird mir klar, wie privilegiert ich bin. Die wilde Jagd ist vorbei. Wo bin ich jetzt? Im siebenten Himmel oder im Niemandsland. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Schwanke zwischen übereifriger Neuerweckung und innerlicher Selbstzerpflückung. Wohin mit der geballten Ladung dieser Erfahrung. Ich bekomme eine SMS. Die Frau, die sie mir geschickt hat, kenne ich fast nicht. Sie hat gehört, dass ich auch Brustkrebs habe. Wie sie. Wie alle, seitdem ich ihn habe. Eine Liste an Ratschlägen und Links prasselt auf mich ein. Beratungsstellen, Selbsterfahrungsgruppen. „Liebevoll Nein sagen“,
Sonnencremen, Coach-Adressen. „Ich bin ein glücklicher Mensch“, schreibt sie, „und habe immer bewusst gelebt. Warum ich?“ Am Ende kommt noch ein Foto des Beipacktextes „unseres“ Medikaments. Mindestens 20 Nebenwirkungen, an denen sie leidet, mit gelbem Marker unterstrichen. So also geht das? Dort also stehen wir, wir, die Brustgruppe. Hilfe. Das Erlebte muss wohin, auch bei den anderen. Du bist nicht allein. Eine Buchempfehlung, ebenfalls in meinem Handy.
Die unbestellte Palette an Möglichkeiten, mich meinem neuen Schicksal zu widmen, haut mich um, es ist also ganz normal, stelle ich fest, dass ich an dieser Sache noch kiefle. Aber ich sehe das alles offenbar viel zu schwach, nehme zu wenig in Angriff. Go on! Zitat ihres Coachs, wäre ich je selbst darauf gekommen? Das nenn ich Beschäftigung, ja Identifikation, mit einer Krankheit, nur nicht ablassen. Teilen. Seid umschlungen, Millionen. Ich bin erschlagen. „Es wird uns unser ganzes Leben begleiten“, schreibt sie. Echt? Meine Wehmut versteckt sich schlagartig. Und ich mich mit ihr.
Etwas ist wie aufgerissen, als wäre eine Schicht weg, die mich bis jetzt umhüllt und geschützt hat. Völlig ungefiltert dringt das Außen in mich ein, zugleich tauchen von innen Sätze, Gedanken und Bilder auf, greifen mich an, stellen mir Fragen. Von nichts kommt nichts, tönt es in mir. Welches Nichts habe ich verabsäumt, um meine Gesundheit zu schützen? Ich bin verwirrt und intensiviert. Sensibilisiert. Nichts ruht in mir.
Wie gut das zusammenpasst, denke ich, was für ein Klischee, Brustkrebs und midlife, ich bin 53. Du bist nicht allein. Kommt ja wie gerufen und gibt Hoffnung auf Erneuerung. Leben, Fruchtbarkeit, Frausein. Symbole der Brust, setzen wir uns doch einmal mit allem auseinander und schauen, wo wir stehen. Wir, die Brustgruppe. Also, wo stehe ich? Ich weiß nicht recht. Bei uns selbst, heißt es. Da fängt alles an. Wann war das, wo ist es begründet? Das, wo ich jetzt stehe, lebe und wirke. Das „bei mir“, das es ausmacht.
Das Gute, das Böse, wann und wo scheiden sich die Geister? Wenn ich anfange, die Anfänge zu suchen, kann ich gleich wieder aufhören, wonach soll ich suchen? Es ist doch alles verbunden, verschmolzen, nahtlos miteinander verwachsen. Nicht ganz nahtlos. Blinddarm und Brust, zwei Nähte habe ich immerhin.
Mein Dokumentationsarchiv. Zwei Einschnitte, an mir, sichtbar und an ein Datum gebunden. Eine kleine Narbe im Knie fällt mir auch noch ein, ich betrachte sie und erinnere mich sogleich an jedes Detail des Unfalls vor 40 Jahren. Zeit und Haut aneinander geschweißt, sie erzählen von meinem Leben, wenn ich es will, sind Zeugen. Sogar Zeuginnen, wie passend. Ein Teil meines Lebens, ich teile ihn gerade. Mit mir. Und plötzlich habe ich es vor mir, wonach ich gesucht habe. Ein kleines Wort, das mir richtig erscheint. Für das, was es ist. Er ist. Dieser kleine Böse, dieser Anarchist, dieser Brustkrebs. Einschnitt. So blutig wie klar. Ein gutes Wort. Einschnitt. Er wird mich leiten und erinnern. Und ich werde erst erkennen, wie er sich mir zeigen wird, mein Einschnitt, sichtbar, an mir. Was wird er mir wohl erzählen, dieser kleine Einschnitt, wenn ich ihn betrachte, über ihn taste oder ihn mit Pflegeöl salbe? Oder ist er ein Großer, mein Kleiner? Wer weiß.