Mein Glück ist ein Grenzfall

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Jede achte Frau hat Brustkrebs, oder ist es sog­ar jede siebente? Ist das ansteck­end? Selb­stver­schuldet? Oder ein­fach Pech. Warum ich? Was auch immer die Wahrheit dahin­ter sein mag, wenn es eine von uns trifft, dann gibt es Fra­gen über Fra­gen, eine Flut von Gedanken und Erfahrun­gen. Ein Ein­blick.

Der Blick über die Stadt ist atem­ber­aubend. Das Lächeln der Mor­gen­sonne huscht wie ein fre­undlich­er Zauber­stab über Häuser und Bäume. Die vie­len Kirch­turm­spitzen ragen inmit­ten bunter Däch­er her­aus und zeigen, wo der Herr wohnt. Hoch oben, ganz in mein­er Nähe also. Die Wiener Haus­berge umran­den das wohlige Bild, sog­ar der Schnee­berg präsen­tiert sich glitzernd in der Ferne. Darauf warte ich seit Tagen, Schnee­berg­blick.

Ich stelle mir vor, ich bin auf Urlaub, vergesse den Grund, warum ich hier bin. Nichts Großes. Man kann es leicht vergessen. Der Radi­ologe sagt, ein Mut­ter­mal schnei­det man auch her­aus, wenn es bösar­tig ist. Dann ist es weg. Die Brust ist nicht weg, nur ein Stück. Ist das bess­er als weg? Wenn ich hinein schaue, von oben, in mein Hemd, ist das, was weg ist, da. Die Delle unter dem Pflaster, ich kann sie nur erah­nen, ein trau­riges Zeichen mein­er Ver­stüm­melung. Übertreib nicht. Es ist ein Glück.

Mein Glück ist ein Gren­z­fall, ein Rausch wäre mir lieber, denke ich, während ich mein trau­riges Brüstchen von oben betra­chte. Die Brust­warze ist merk­würdig in Aufruhr ger­at­en, hebt sich fast spitzbübisch ab vom Rest der Haut. Wom­öglich hat er sie auch angeschnit­ten, über­lege ich, ver­set­zt, ver­legt, sie und ihren Hof. Wie eine Land­schafts­gestal­tung, ich bin bei allem Unglück fasziniert davon.

Warten auf die OP. Ich schaue zu, aber eigentlich bin ich Teil der Szene. Das Warten vor den OP-Räu­men, wie auf dem Ver­schub­bahn­hof. Die Bet­ten wer­den hinein- und her­aus­geschoben, uner­müdlich läuft das Werk. Dazwis­chen ein klein­er Tisch, dort sitzen die Bet­ten­schieber, fröh­lich vere­int, fast wie beim Karten­spie­len. Jedes Mal, wenn ein­er von ihnen zurück­kommt von sein­er Fuhre, gibt’s ein Red Bull aus dem Spar-Säckchen, das auf dem Tisch ste­ht. „Alles Gute“, hört man den höflichen Schieber vorher noch sagen, wenn er das jew­eilige Bett auf dem Warteplatz fix­iert hat. Dann ist die Runde wieder vere­int. Brud­er, was geht.

Die Ware in den Bet­ten ist lebendig, aber das ver­gisst man leicht. Ich möchte mich abheben, ich bin fit, ich bin nicht krank! Unversehrt, noch. Die let­zten Minuten. Ich schaue nur zu, ich gehöre da nicht her. Doch. Jet­zt kommt jemand zu mir. Begrüßt mich. Ich bin kein herum­ste­hen­des Etwas mehr, mit Maske im Gesicht. Ich werde ange­sprochen, wie schön. Der grüne Mann beugt sich über mich. „Dr. Wohlge­mut“, stellt er sich vor, „ich bin Ihr Anäs­the­sist.“ Ich kön­nte jaulen vor Freude, was für ein Name. Wie ein Lot­tosechser kommt es mir vor, ich habe gewon­nen, ich bin die Auser­wählte, er holt mich hier raus. Alles wird gut. Wohlge­mut.

Ab diesem Moment bin ich Haupt­per­son. Alle reden auf mich ein, doch kein klein­er Fall? Leben und Tod, gle­ich neben der Ver­ladestelle, es ist viel span­nen­der hier, ich spüre die Konzen­tra­tion, die Klarheit der Sit­u­a­tion. Das mag ich. Als ich aufwache, ist nichts gut. Wo ist mein Arzt? Eine Schwest­er küm­mert sich um mich. Mir rin­nen die Trä­nen übers Gesicht. So pein­lich. „Was haben Sie denn?“ Ich kann nicht antworten, nur heulen. Oder ist es weinen. Warum ist der Arzt nicht da. Er operiert schon wieder. „Wird er noch zu mir kom­men?“, frage ich verzweifelt. „Vielle­icht, ich kann es Ihnen nicht ver­sprechen.“ So viele Ein­griffe, tagein, tagaus, Rou­tine und All­t­ag. Ich bin ein Nichts im Schlund dieses Riesenkom­plex­es.

Als ich ins Zim­mer gebracht werde, entspanne ich mich, es ist fast wie Nach­hausekom­men. So schnell wird man also heimisch. Mein Chirurg kommt zu mir. Ein Glück. Die Oper­a­tion ist gut ver­laufen. Er strahlt, „alles bestens, wir haben auf jeden Fall die richtige Brust operiert“. Ich finde es lustig, obwohl mir immer noch zum Heulen ist. Im Neben­z­im­mer liegen haar­lose Frauen, denen geht es viel schlechter. Glück im Unglück, nicht mein Wun­schglück. Ich höre die Glock­en läuten, kann mir aus­suchen, von welchem Kirch­turm, es sind so viele über Wien.

Bös oder artig? Es kann noch kom­men. Das Bösere. Von dem man momen­tan nicht aus­ge­ht. Weil es gut aussieht. Warten wir ab. „Aber Sie müssen sich schon damit auseinan­der­set­zen. Son­st haut es sie dann um.“ Also was jet­zt? Werde ich dann auch die Haare ver­lieren? Würde ich? „Ja.“ Ich hab eh so viele, geht es mir durch den Kopf.

Meine Tochter besucht mich. „Du bist eine Bettschön­heit“, sagt sie. Was hat sie sich vorgestellt? Eine Mut­ter als zer­störtes Weh, die Arme, sie war sich­er sehr nervös. Sie bringt mir Blümchen.Selbst gepflückt, von der Donauin­sel. Das hat sie von mir, über­all was Hüb­sches abpflück­en, und ich habe es von mein­er Mut­ter. Man hat so viel von wem, von wem hast du das wohl, woher habe ich ihn? Den Krebs. Hör doch auf. Ich freue mich unglaublich, sie zu sehen. Sie ist ein Teil von mir, ein unz­er­störter. Das Leben ist in mein Zim­mer gekom­men, es ver­strömt sich liebevoll.

Drei Wochen ist es her. Der Arzt, zu dem ich direkt im Anschluss an die Mam­mo­grafie geschickt wurde, war ernst. „Ich kenne Ihre Schwest­er“, sagte ich fröh­lich, als er sich mir vorstellte. „Na, dann wird das ja jet­zt noch unan­genehmer“, antwortete er und begann schweigend, an mein­er Brust zu schallen. Ich wusste nicht, ob er mir jet­zt lei­d­tun sollte, wegen der Unan­nehm­lichkeit. Wollte ihn aufheit­ern. Oder doch mich? Erwäh­nte die harm­losen Miniverkalkun­gen, die ich vor Jahren in der Brust hat­te, um das Schweigen zu brechen. Nichts zu machen. Er blieb ernst. „Die bere­it­en mir keine Sor­gen“, erwiderte er, „mir macht da ganz etwas anderes Sor­gen.“ Wieder Schweigen. Und Schallen.

Endlich Worte. „Wollen Sie sich anziehen?“ Ja, eigentlich schon. Doch eine eige­nar­tige Sit­u­a­tion. Der Göt­tliche im Man­tel und ihm gegenüber die wild­fremde bar­busige Krea­tur, die demütig darauf wartet, eine ver­nich­t­ende Botschaft zu emp­fan­gen. Ger­adezu sinnlich, ging es mir durch den Kopf, spie­len wir Arzt und Pati­entin, nur hat­te ich wed­er Led­er noch High Heels, und er keine Peitsche. Was er sagte, schlug allerd­ings zu. Stern­för­mig, typ­isch, hochsus­pekt, Größe, Knoten, anzunehmen …  Vom Anziehen sprach er nicht mehr, war wohl mehr rhetorisch gemeint gewe­sen. Ich set­zte mich auf und lauschte sein­er monot­o­nen Stimme, bis der Schluss-Satz endlich aussprach, was der Arzt trotz oder wegen allen Schweigeschalls längst gesagt hat­te: „Wir müssen davon aus­ge­hen, dass Sie Brustkrebs haben.“

Erhol­ung im Paradies. Ich bin doch ein Glück­skind. „Wie immer“, sagt meine Mut­ter. „Das kannst auch nur du“, sagt meine Schwägerin, „aus so ein­er Sit­u­a­tion so etwas Schönes her­aus­holen.“ Dabei wurde ich her­aus­ge­holt, zur Erhol­ung, nach der Oper­a­tion. Von mein­er Fre­undin in ihr Haus, fahr doch, es ste­ht leer. Es ist nicht ein­fach ein Haus, es ist das Paradies.

Alles blüht, und der Früh­som­mer schickt aus jed­er Rich­tung seine Gerüche aus Gras und Wärme. Pfin­gstrosen, Laven­del und Schmetter­linge. Sog­ar Maikäfer fliegen hier, dabei ist es Juni. In Wien wird geschwitzt und gear­beit­et. Danke, lieber Glück­skrebs, meine Fre­unde benei­den mich bere­its um meine Sit­u­a­tion. Fast.

Am Mon­tag ist Befundbe­sprechung, noch sechs Tage. Nur bestrahlen oder doch Chemo, der kleine Unter­schied, der es aus­macht. Jet­zt kannst du ein biss­chen abschal­ten. Kann ich. Kann ich? Ich lese ein Buch, das emp­fiehlt, sich vom Ver­stand zu tren­nen, die Gedanken nur zu beobacht­en. Im Tren­nen bin ich schlecht. Auch im Loslassen, es inspiri­ert mich nicht, ähn­lich wie pos­i­tiv Denken. Oder kann ich es nur nicht? Ich habe mich ger­ade von einem Stück Brust getren­nt, immer­hin.

Nur mehr zwei Tage. Ich bin zurück in Wien. Füh­le mich erholt wie nie, lege ordentlich los zu Hause. Ich will wieder funk­tion­ieren, die wunde Brust ist immer weniger zu spüren, die Angst, dass eine Naht reißt, so gut wie wegge­blasen. Nur in der Nacht weiß ich oft nicht, wie ich liegen soll, aber das ist eine Kleinigkeit. Ich kann alles, bis auf duschen. Alle sind nett und liebevoll zu mir, selb­st meine pubertären Töchter gehen mit den Hun­den hin­aus, ohne es im Vor­feld tausend Mal zu disku­tieren. Sekundär­er Krankheits­gewinn, den Begriff habe ich ger­ade gel­ernt.

Mon­tag rückt näher. Vor der let­zten Befundbe­sprechung habe ich eine Nacht durchgekotzt und kon­nte vor Schüt­tel­frost nicht mehr warm wer­den. Die Psy­che ist arg, führt sich auf wie eine Irre. Das war zehn Tage nach der Mam­mo­grafie, die erste Mel­dung über das, was die Biop­sie zeigen würde, damals noch vor mir. Alles war enthal­ten an Möglichkeit­en. Ein Poten­zial der Angst, ich habe kein Tal­ent für so was.

Jet­zt ist doch alles schon viel bess­er. Obwohl bösar­tig. Keine Metas­tasen. Der kleine Schock, als der Radi­ologe etwas auf der Leber sah, hat sich schnell im Ultra­schall aufgek­lärt. „Ein schön­er, klein­er Blutschwamm“, beruhigte er mich fröh­lich. Ja, wirk­lich schön. Vor allem, dass der Radi­ologe mein Fre­und ist, son­st hätte ich mit dieser Angst und ein­er Über­weisung wieder ein paar Tage leben müssen, nicht nur zehn Minuten. Schritt für Schritt, ich habe schon viele hin­ter mir. So viel Schreck­en ist nicht einge­treten, die Abgründe nur sehr nahe. Gott sei Dank. Aber das Leben ver­läuft nicht ger­adlin­ig. Mon­tag ist über­mor­gen, das ist das Einzige, was sich­er ist.

Ich über­lege, was ich anziehe. Man will doch hüb­sch ausse­hen. Will man? Ja, schon. So egal, sage ich mir, und über­lege doch weit­er. Das gefürchtete Gespräch kos­metisch her­aus­fordern, ver­pack­en, ihm Attrak­tiv­ität ver­passen, will ich das? Vielle­icht sagt er dann etwas anderes, wenn ich schön bin. In drei Stun­den ist der Ter­min. Endlich. Es geht mir schon zu sehr auf die Ner­ven, dieses Hin und Her der inneren Stim­men. Hell, dunkel. Und der äußeren. Wirst sehen, da wird nix mehr sein. Bei mein­er Mut­ter war das auch so. Meine Fre­undin hat­te das auch. Das ist dann erledigt. Dieses „Das“ ist es, das mich angreift.

Die Wieder­hol­ung ein­er ahnungslosen Zusam­men­fas­sung, bei dir, bei mir, bei ihr – wer kann denn „das“ schon auf den Punkt brin­gen? Ist man bei jed­er Krankheit so sen­si­bel? Immer noch frage ich mich, ob das eine Krankheit ist. Eine Muta­tion, eine Zel­lver­wirrung. Ein wilder Tanz, der zu wild gewor­den ist? Selb­st der Arzt beschreibt nur einen Teil, „das“ ist jedes Mal anders, „das“ ist immer das Eigene, nur jed­er gibt sein Eigenes dazu.

Warum dauert das so lange mit den Befun­den, das ist doch komisch, die linke Seite ist immer was Seel­is­ches, ich hab ein gutes Gefühl bei dir, du musst auf dich schauen, glaub fest daran, hör auf dich, lass dich ver­wöh­nen, alles wird gut, ich bete für dich, mach Yoga. Ich weiß, wie schwierig das ist. Das Richtige zu sagen. Das wird mir langsam zu viel.

Und endlich ist es gesagt. Keine Chemo. Der dro­hende Schat­ten der let­zten vier Wochen schla­gar­tig ein­er strahlen­den Sonne gewichen, die mich durch­dringt. Ich bin wieder auf der richti­gen Seite. Mit Haaren. „Bin ich nicht ein Kün­stler?“, freut sich mein Arzt, als er mir Pflaster und Nähte ent­fer­nt und die nack­te Wahrheit endlich sicht­bar wird. Es ist wirk­lich nicht so schlimm, die Delle fast nicht zu sehen, und eine feine zarte Naht umran­det einen Teil des Warzen­hofs. Wie schön er gear­beit­et hat.

Hat er sich extra bemüht, über­lege ich, vielle­icht bin ich ihm sym­pa­thisch? Welch’ große Macht in seinen Hän­den, und was ich mir schon wieder alles ein­bilde. Ich will hören, wie er es sieht, das Ganze. Diese Episode, diesen Ein­griff. Als Möchte­gernkrebs? Als Lap­palie? Soll ich es als erledigt betra­cht­en oder begin­nen nachzu­denken? Etwa verän­dern in meinem Leben. Warum entste­ht so etwas, habe ich etwas begün­stigt? Ja, ger­ade ihn, den Chirur­gen, den Schnip­sler, der so zufrieden ist mit seinem Werk, will ich fra­gen.

Und ich erwarte eine qua­dratis­che Antwort, gut geschnit­ten und vernäht. Weg ist weg. Aber diesen Gefall­en tut er mir nicht, er lässt sich Zeit und denkt nach. „Wir wis­sen let­ztlich zu wenig darüber“, sagt er dann. „Warum so etwas entste­ht. Eine Zeit lang wer­den Sie sich­er noch damit beschäftigt sein, und das ist auch gut so. Auch wenn wir alles erwis­cht haben.“

Strahlen­ther­a­pie und fünf Jahre Tablet­ten. Ich bin so weit, das als Glück zu betra­cht­en, als Zeichen der Göt­ter, die mir gnädig waren. Die Demüt­sübung ist also gelun­gen, ich habe ver­standen. Das Glück im Unglück ist mein Wun­schglück gewor­den. Wie lange wird die Schock­wirkung wohl anhal­ten, die mich so gutar­tig dämpft und zügelt? Das Bild der in sich Ruhen­den, die ich nicht bin, geht mir nicht aus dem Kopf. Wie kön­nte sie ausse­hen, damit sie mir gefällt?

Beim Schulschlusstr­e­f­fen ein­er mein­er Töchter sitze ich neben ein­er Frau, die ich nicht kenne. Es ist mein erster sozialer Aus­gang seit der Oper­a­tion. Nach­dem ich behar­rlich keinen Impuls für ein Gespräch set­ze, stellt die andere Sitz­nach­barin ihr eine Frage. „Was machst du beru­flich?“ Die Antwort haut mich um. „Ich gebe ein wis­senschaftlich­es Mag­a­zin für Betrof­fene her­aus, Brustkrebs, ich bin ja selb­st Betrof­fene.“ Na bum. Schaue sie nun an, eine bild­schöne Frau, voll­busig und strahlend, gesund und munter, wie gibt’s denn so was. Und ich neben ihr, uner­wartet, unhöflich, unlustig, mit einem Schlag ist alles anders.

Ich über­lege nicht lange. „Ich komme ger­ade aus dem Spi­tal“, sage ich, sagt es sich aus mir. Ich hat­te nicht vor, hier darüber zu sprechen. Ihr Brustkrebs war ein echter, ein richtiger, ein wahnsin­niger. Ein­er mit Metas­tasen und ohne Per­spek­tive. Warum sie noch hier sitzt, und in welch­er Frische auch noch, das kann sie mir nicht erk­lären. Aber sie erzählt mir von sich, manch­es kommt mir bekan­nt vor.

Edy­ta ist da, Fre­itag. Danach ist unsere Woh­nung zum Wohlfühlen. Für eine Stunde, vielle­icht zwei. Nie­mand kann die schöne Ord­nung hal­ten. Ich geniere mich, jeden Fre­itag. Ein beschei­den­er Beitrag. Aber ich tratsche mit ihr, das schafft Verbindung, wenig­stens. Sie ist immer fre­undlich. Immer. Ich kenne keinen fre­undlicheren Men­schen. Sie fragt mich, wie es mir geht. Wer hat ihr davon erzählt?

Egal, sie erzählt von ihrer Mut­ter und ihrer Groß­mut­ter, bei­de hat­ten Brustkrebs. Ich hebe spon­tan mein T-Shirt hoch und zeige ihr die Brust, sie scheint ja vom Fach zu sein. Sie bricht in Begeis­terung aus. „Nein, ich bin schock­ieren!“, ruft sie. „So schön, was glaub­st du, in Polen, wie die Frauen auss­chauen, große Nar­ben, nie kön­nen Auss­chnitt tra­gen. Hier die Ärzte sind viel bess­er, wie schön du bist!“ Dann umarmt sie mich und gibt mir ein Bus­si auf die Wange. Danke, lieber Glück­skrebs.

Schon wieder wird mir klar, wie priv­i­legiert ich bin. Wir sind. In Ameri­ka wür­den wir Sie noch am sel­ben Tag nach Hause schick­en, mit allen Schläuchen, die an Ihnen hän­gen, hat mir ein Arzt im Spi­tal vor der Oper­a­tion gesagt. War das zur Beruhi­gung gemeint? Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie männliche Medi­zin weib­liche Sit­u­a­tio­nen fest im Griff hat. Oder bin ich schock­ieren? Dass meine Brust­narbe etwas Wun­der­bares ist, war mir bis jet­zt nicht bewusst. Wie schön das ist.

Ver­heilte Nar­ben. Es kehrt All­t­ag ein. Ver­heilte Nar­ben und ein nor­males Leben. Bis August, wenn die Bestrahlun­gen los­ge­hen. Ich surfe immer noch auf der Woge des Mit­ge­fühls durchs Leben, bekomme liebevolle Nachricht­en, nie­mand ver­gisst auf mich. Ich lese, dass ver­heiratete Frauen bess­er geheilt wer­den von Brustkrebs als Allein­erzieherin­nen. Das gilt wohl für jede Krankheit, denke ich, geteiltes Leid ist halbes Leid. Oder? Und frage mich schon wieder, ob ich geheilt bin. Weg ist weg. Spüre ich da eine Art Wehmut? Trauere ich ihm etwa nach, dem Knoten, dem Stück Brust, der Aufre­gung, dem Aus­nah­mezu­s­tand?

Danke, lieber Glück­skrebs. Schon wieder wird mir klar, wie priv­i­legiert ich bin. Die wilde Jagd ist vor­bei. Wo bin ich jet­zt? Im sieben­ten Him­mel oder im Nie­mand­s­land. Ich weiß nichts mit mir anz­u­fan­gen. Schwanke zwis­chen übereifriger Neuer­weck­ung und inner­lich­er Selb­stzerpflück­ung. Wohin mit der geball­ten Ladung dieser Erfahrung. Ich bekomme eine SMS. Die Frau, die sie mir geschickt hat, kenne ich fast nicht. Sie hat gehört, dass ich auch Brustkrebs habe. Wie sie. Wie alle, seit­dem ich ihn habe. Eine Liste an Ratschlä­gen und Links pras­selt auf mich ein. Beratungsstellen, Selb­ster­fahrungs­grup­pen. „Liebevoll Nein sagen“,

Son­nen­cre­men, Coach-Adressen. „Ich bin ein glück­lich­er Men­sch“, schreibt sie, „und habe immer bewusst gelebt. Warum ich?“ Am Ende kommt noch ein Foto des Beipack­textes „unseres“ Medika­ments. Min­destens 20 Neben­wirkun­gen, an denen sie lei­det, mit gelbem Mark­er unter­strichen. So also geht das? Dort also ste­hen wir, wir, die Brust­gruppe. Hil­fe. Das Erlebte muss wohin, auch bei den anderen. Du bist nicht allein. Eine Buchempfehlung, eben­falls in meinem Handy.

Die unbestellte Palette an Möglichkeit­en, mich meinem neuen Schick­sal zu wid­men, haut mich um, es ist also ganz nor­mal, stelle ich fest, dass ich an dieser Sache noch kiefle. Aber ich sehe das alles offen­bar viel zu schwach, nehme zu wenig in Angriff. Go on! Zitat ihres Coachs, wäre ich je selb­st darauf gekom­men? Das nenn ich Beschäf­ti­gung, ja Iden­ti­fika­tion, mit ein­er Krankheit, nur nicht ablassen. Teilen. Seid umschlun­gen, Mil­lio­nen. Ich bin erschla­gen. „Es wird uns unser ganzes Leben begleit­en“, schreibt sie. Echt? Meine Wehmut ver­steckt sich schla­gar­tig. Und ich mich mit ihr.

Etwas ist wie aufgeris­sen, als wäre eine Schicht weg, die mich bis jet­zt umhüllt und geschützt hat. Völ­lig unge­filtert dringt das Außen in mich ein, zugle­ich tauchen von innen Sätze, Gedanken und Bilder auf, greifen mich an, stellen mir Fra­gen. Von nichts kommt nichts, tönt es in mir. Welch­es Nichts habe ich ver­ab­säumt, um meine Gesund­heit zu schützen? Ich bin ver­wirrt und inten­siviert. Sen­si­bil­isiert. Nichts ruht in mir.

Wie gut das zusam­men­passt, denke ich, was für ein Klis­chee, Brustkrebs und midlife, ich bin 53. Du bist nicht allein. Kommt ja wie gerufen und gibt Hoff­nung auf Erneuerung. Leben, Frucht­barkeit, Frau­sein. Sym­bole der Brust, set­zen wir uns doch ein­mal mit allem auseinan­der und schauen, wo wir ste­hen. Wir, die Brust­gruppe. Also, wo ste­he ich? Ich weiß nicht recht. Bei uns selb­st, heißt es. Da fängt alles an. Wann war das, wo ist es begrün­det? Das, wo ich jet­zt ste­he, lebe und wirke. Das „bei mir“, das es aus­macht.

Das Gute, das Böse, wann und wo schei­den sich die Geis­ter? Wenn ich anfange, die Anfänge zu suchen, kann ich gle­ich wieder aufhören, wonach soll ich suchen? Es ist doch alles ver­bun­den, ver­schmolzen, naht­los miteinan­der verwach­sen. Nicht ganz naht­los. Blind­darm und Brust, zwei Nähte habe ich immer­hin.

Mein Doku­men­ta­tion­sarchiv. Zwei Ein­schnitte, an mir, sicht­bar und an ein Datum gebun­den. Eine kleine Narbe im Knie fällt mir auch noch ein, ich betra­chte sie und erin­nere mich sogle­ich an jedes Detail des Unfalls vor 40 Jahren. Zeit und Haut aneinan­der geschweißt, sie erzählen von meinem Leben, wenn ich es will, sind Zeu­gen. Sog­ar Zeug­in­nen, wie passend. Ein Teil meines Lebens, ich teile ihn ger­ade. Mit mir. Und plöt­zlich habe ich es vor mir, wonach ich gesucht habe. Ein kleines Wort, das mir richtig erscheint. Für das, was es ist. Er ist. Dieser kleine Böse, dieser Anar­chist, dieser Brustkrebs. Ein­schnitt. So blutig wie klar. Ein gutes Wort. Ein­schnitt. Er wird mich leit­en und erin­nern. Und ich werde erst erken­nen, wie er sich mir zeigen wird, mein Ein­schnitt, sicht­bar, an mir. Was wird er mir wohl erzählen, dieser kleine Ein­schnitt, wenn ich ihn betra­chte, über ihn taste oder ihn mit Pflegeöl salbe? Oder ist er ein Großer, mein Klein­er? Wer weiß.