Zornige Zwischenrufe in Zeiten des Z

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„Wer hat euch denn erlaubt, bess­er zu leben als wir.“
Ein Graf­fi­to an ein­er Wand in Butscha, das die rus­sis­chen Trup­pen dort hin­ter­lassen haben. Bis Anfang Mai wur­den nördlich von Kiew die Leichen von etwa 1200 ermorde­ten Zivilistin­nen und Zivilis­ten gefun­den.

„Sie sind doch noch so jung – richtige Kinder; sie albern ja nur herum!“
Eine Frau aus Nowokus­net­sk (Sibirien) über die rus­sis­chen Sol­dat­en in der Ukraine.

1.) Müt­terchen Rus­s­land lebt im Inter­net

Offen­bar gibt es sie doch: Men­schen in der Ukraine, die in den rus­sis­chen Erober­ern Befreier sehen. Aus nachvol­lziehbaren Grün­den sind das nur sehr wenige, und wenn sie ihre Hal­tung zur Schau stellen, schwin­gen sie die falschen Fah­nen. Bekan­nt ist vor allem die Geschichte jen­er alten Frau aus einem Dorf im Don­bass, die in den ersten Tagen des Krieges eine sow­jetis­che Fahne schwin­gend aus ihrem Haus kam und freudig ein­er Gruppe von Sol­dat­en ent­ge­geng­ing, die sie für Russen hielt. Die Sol­dat­en waren jedoch Ukrain­er. Ein­er von ihnen war es offen­bar auch, der die nach­fol­gende Szene gefilmt und das bald berühmt gewor­dene Video pro­duziert hat.

Die Sol­dat­en gehen auf die alte Frau zu, ohne das Missver­ständ­nis aufzuk­lären. Sie reichen ihr eine Tüte mit Lebens­mit­teln und nehmen ihr die rote Fahne mit Ham­mer und Sichel aus der Hand. „Ihr braucht die Lebens­mit­tel sich­er mehr als ich“, sagt die Frau. „Aber nein, nehmen Sie, nehmen Sie bitte!“, insistieren die Sol­dat­en und grin­sen. Ein­er von ihnen wirft die Fahne auf den Boden und tram­pelt darauf herum. „Ruhm der Ukraine!“, rufen die Sol­dat­en. „Ruhm den Helden!“ Die alte Frau schüt­telt den Kopf und gibt den Sol­dat­en die Lebens­mit­tel zurück. „Für diese Fahne hat mein Vater gegen die Faschis­ten gekämpft, für euch, für mich, für uns alle! Und ihr tram­pelt darauf herum. Ich brauche eure Lebens­mit­tel nicht“, verkün­det sie stolz und geht.

In Rus­s­land wird die alte Frau aus dem Don­bass inzwis­chen als Heldin gefeiert. In Putin-treuen, nation­al­is­tis­chen Kreisen wer­den ihr Denkmäler aufgestellt, Lieder für sie kom­poniert, Gedichte über sie geschrieben. Was mit ihr nach dem geschilderten Vor­fall passiert ist, weiß man allerd­ings nicht. Zudem ist es dur­chaus nahe liegend, dass es sich bei dem Video um ein Fake han­delt, weil es sich zu offen­sichtlich und zu schön in das Nar­ra­tiv des Putin-Regimes von ein­er „mil­itärischen Son­der­op­er­a­tion“ gegen die Nazis, die als Fort­set­zung des Großen Vater­ländis­chen Krieges gese­hen wer­den kann, ein­fügt. Doch let­ztlich spielt es eine unter­ge­ord­nete Rolle, ob das Ganze ein Fake ist oder ein reales Ereig­nis darstellt. Entschei­dend ist, dass die Men­schen, die die Geschichte glauben wollen, sie in jedem Fall glauben, und das sind viele. Es ist auch keines­falls aus­geschlossen, dass sich der Vor­fall tat­säch­lich ereignet hat oder ereignen hätte kön­nen. Zweifel­los gibt es in der Ukraine Sow­jet­nos­tal­gik­er mit stark­er Affinität zu Rus­s­land. Sie haben sog­ar eigene poli­tis­che Parteien, sind aber nur eine kleine Min­der­heit, die seit Putins Annex­ion der Krim und dem Beginn des Krieges im Don­bass 2014 immer schwäch­er wird. Heute ist die Bevölkerung der über­wiegend rus­sis­chsprachi­gen Gebi­ete rund um Mar­i­upol, Meli­topol, Cher­son oder Odessa fast ohne Aus­nahme pro-ukrainisch eingestellt. In Putins autoritärem, zunehmend faschis­tis­chem Imperi­um oder seinen volk­sre­pub­likanis­chen Mar­i­onet­ten­staat­en möchte in der Ukraine kaum jemand leben. Beze­ich­nen­der­weise war es die sow­jetis­che Fahne und nicht die rus­sis­che Trikolore, mit der die alte Frau den Sol­dat­en ent­ge­geng­ing. Dass sie dafür in Rus­s­land zur Heldin stil­isiert wird, ist genau­so aber­witzig und hybrid wie die ganze Pro­pa­gan­da und Ide­olo­gie hin­ter diesem Krieg. In sein­er mar­tialis­chen Rede zu Kriegs­be­ginn hat­te Putin nicht nur eine „Denaz­i­fizierung“ der Ukraine angekündigt, son­dern auch eine endgültige Säu­berung dieses Lan­des vom kom­mu­nis­tis­chen Erbe. Putin wird zwar von vie­len als Sow­jet­nos­tal­gik­er gese­hen, was er zweifel­los auch ist, er will aber keineswegs den kom­mu­nis­tis­chen Staat wieder­her­stellen. Wer der Sow­je­tu­nion nicht nach­trauere, habe kein Herz, verkün­dete er vor einiger Zeit. Wer sie sich zurück­wün­sche oder wieder­her­stellen wolle, habe jedoch keinen Ver­stand. Diese Aus­sage ist nicht ganz ohne Wider­sprüche, die darin enthal­tene Ambivalenz ist jedoch dur­chaus typ­isch für das Putin-Regime. Es hat keine klare Ide­olo­gie, son­dern nur Facetten der­sel­ben, die oft­mals in Wider­spruch zueinan­der ste­hen, ja man kön­nte es als – ana­log zum Begriff „post­mod­ern“ – als „postide­ol­o­gisch“ beze­ich­nen. Putin trauert der Sow­je­tu­nion und der ein­sti­gen Größe, Macht und Bedeu­tung dieses Imperi­ums nach, aber er has­st Lenin und bewun­dert stattdessen den „weißen“, also kon­ter­rev­o­lu­tionären Gen­er­al Anton Denikin (1872-1947), der im Bürg­erkrieg gegen die Bolschewiken gekämpft hat­te, als „großen Russen“.

Putins Reich ist impe­ri­al­is­tisch, es ist chau­vin­is­tisch, aber nicht offen ras­sis­tisch. Man spricht zwar von der „rus­sis­chen Erde“, der „rus­sis­chen Sendung“, den beson­deren Eigen­schaften des „rus­sis­chen Men­schen“ und davon, dass europäis­ch­er Lib­er­al­is­mus und die europäis­che Vorstel­lung von Demokratie nicht zu Rus­s­land passen, doch ist die Rus­sis­che Föder­a­tion ein Vielvölk­er­staat, was nicht geleugnet wird. Im Gegen­teil. Die autonomen Repub­liken haben eine weitre­ichende Autonomie (soweit das in ein­er Dik­tatur über­haupt zuläs­sig ist). Die inte­gra­tive Funk­tion des Staates wird betont. Ange­hörige von Min­der­heit­en kön­nen dur­chaus große Kar­ri­eren machen, so wie zum Beispiel Vertei­di­gungsmin­is­ter Schoigu – ein Tuwine. Einen sys­tem­a­tis­chen, staatlichen Anti­semitismus wie in der Sow­jet­zeit gibt es eben­falls nicht mehr, und sog­ar der Islamis­mus wird in Rus­s­land toleriert, solange er an der Periph­erie bleibt und von Per­so­n­en propagiert und umge­set­zt wird, die loy­al zum herrschen­den Regime sind. Dass gle­ichzeit­ig Ukrain­ern die Iden­tität abge­sprochen wird, dass sie als „Nazis“ dif­famiert und „entukrain­isiert“ wer­den sollen, dass ständig von der Größe des rus­sis­chen Wesens gefaselt wird und Außen­min­is­ter Lawrow öffentlich behauptet, die größten Anti­semiten seien selb­st Juden gewe­sen, ja Hitler selb­st jüdis­che Wurzeln gehabt habe, ste­ht dazu im Wider­spruch, was für die Anhänger des Regimes aber nicht weit­er schlimm ist. Die Bevölkerung im post­sow­jetis­chen Raum hat seit mehreren Gen­er­a­tio­nen gel­ernt, mit Wider­sprüchen zu leben. Diese stören nicht, solange der Wohlfühlfak­tor hoch ist. Und dieser ist für die typ­is­chen Kon­sumenten staatlich­er Fernseh- und Inter­netkanäle immer hoch. Dort näm­lich wird jed­er noch so arm­seli­gen und gescheit­erten Alko­ho­lik­erex­is­tenz (und der­er gibt es viele) im tief­sten Hin­ter­land des Riesen­re­ich­es ver­mit­telt, als Bestandteil des größten Lan­des der Welt, welch­es den Rest der­sel­ben in atom­are Asche ver­wan­deln kann, etwas Beson­deres zu sein. Sog­ar in der Aus­nüchterungszelle des Polizeire­viers ein­er sibirischen Arbeit­er­sied­lung, deren einzige Fab­rik längst zur Ruine ver­fall­en und die Wohn­blöcke nicht ein­mal mehr die Beze­ich­nung „Dreck­slöch­er“ ver­di­enen, fühlt der regelmäßige Medi­enkon­sument seine innere und äußere Größe. Das Delir­i­um tremens ist die eine Sache, der Stolz darauf, Russe zu sein, eine andere. Man ist ein Nie­mand und weiß es auch, ins­ge­heim has­st man die Obrigkeit, die Oli­garchen, die Bürokratie, eigentlich alle „da oben“, das eigene beschissene Leben, das von Anfang bar jeglich­er Per­spek­tiv­en war, und doch ist man natür­lich „für Putin“, hat ihn gewählt und wird es immer wieder tun.

Was bleibt einem da noch übrig, als die über­he­blichen Mis­tk­er­le über den Haufen zu schießen, alles zu rauben, und sei es nur eine Bratp­fanne oder ein altes Dreirad für Kinder, und den Rest niederzubren­nen. Schließlich hat man ja auch Gefüh­le …

Die „mutige, ehren­werte Greisin“ aus der Ostukraine ist die Verkör­pe­rung und der Katalysator all dieser wider­sprüch­lichen Gefüh­le. Sie ist „Müt­terchen Rus­s­land“, die Siegerin, das nationale Gewis­sen und die ewige Mah­nung, die rührselige Nos­tal­gie und Erin­nerung an eine bessere Zeit, die es niemals gegeben hat­te, vor allem aber an das Einzige, was man his­torisch in den let­zten hun­dert Jahren zweifels­frei vor­weisen und worauf man wirk­lich stolz sein kann: Den Sieg im „Großen Vater­ländis­chen Krieg“! Genau diesen Krieg, viel mehr noch als den eigentlichen Krieg gegen die Ukraine oder die NATO, spielt man heute, im Jahre 2022 nach. Das sei man den eige­nen Großel­tern und Urgroßel­tern schuldig, heißt es, und träumt ins­ge­heim davon, ein­mal im Leben keine mar­ginale Exis­tenz, son­dern ein Held und ein Sieger zu sein in einem gerecht­en Kampf für eine bessere Welt! Dafür lohnt es sich, ein Brud­er­volk zu Nazis zu erk­lären, ein paar Städte auszu­radieren und Zehn­tausende Men­schen zu ermor­den. Beson­ders dann, wenn das Brud­er­volk es wagt, frech aufzubegehren, Frei­heit nicht nur einzu­fordern, son­dern hin und wieder sog­ar frei zu leben und einen beschei­de­nen Wohl­stand zur Schau zu stellen, den man selb­st als stolz­er Russe im größten und wun­der­barsten Land der Welt nicht hat. Was bleibt einem da noch übrig, als die über­he­blichen Mis­tk­er­le über den Haufen zu schießen, alles zu rauben, und sei es nur eine Bratp­fanne oder ein altes Dreirad für Kinder, und den Rest niederzubren­nen. Schließlich hat man ja auch Gefüh­le …

Schon im Schul­hof hat­te man Krieg gespielt – Sow­jets gegen Nazis, Gut gegen Böse, Sieger gegen Ver­lier­er. Nun spielt man weit­er, statt mit Schnee­bällen allerd­ings mit Hand­granat­en und Raketen. Hierin sind sich alle einig, hier entste­ht eine Verbindung von ganz oben bis ganz unten. Der Präsi­dent und der San­dler sind sich einig und haben let­ztlich densel­ben Wun­sch: die Nazis noch ein­mal besiegen, das Imperi­um wieder­her­stellen, den West­en und die NATO zu demüti­gen, mehr zu sein als man ist. Also ist es nahe liegend, dass all das, was wir heute erleben, irgend­wann passieren musste.

Die mil­itärische Führung beschw­ert sich, dass das Regime den Krieg in der Ukraine nicht hart und kon­se­quent genug führt. Wenn schon „Zweit­er Weltkrieg 2.0“, der in einen Drit­ten Weltkrieg überge­hen kön­nte, dann richtig! Es scheint, als ob Putin diesen Forderun­gen nachgeben und die Eskala­tion­sspi­rale weit­er drehen möchte. Im staatlichen Fernse­hen spie­len während­dessen selb­ster­nan­nte Experten diverse Vari­anten eines Atom­krieges durch, so als han­dle es sich um mögliche Strate­gien und Tak­tiken für ein Fußball-WM-End­spiel.

Fak­tum ist jeden­falls, dass Putin und seine eng­sten Getreuen Sow­jet­men­schen sind, und dies in einem Aus­maß, ein­er seel­is­chen Durch­dringung und der daraus fol­gen­den seel­is­chen und geisti­gen Zer­set­zung, wie es keine Führungss­chicht vor ihnen gewe­sen war, und das nicht ein­mal in der Sow­jet­zeit selb­st. Die Führungss­chicht­en früher­er Zeit­en, und zwar alle von der Zeit nach Stal­in bis zu Jelzin und sein­er Entourage, hat­ten meist sowohl den Schock des Zweit­en Weltkrieges selb­st erlebt als auch noch enge Kon­tak­te zu Fam­i­lien­ange­höri­gen gehabt, die vor der Sow­jet­zeit oder in deren kul­turell rel­a­tiv offe­nen, ide­ol­o­gis­chen Auf­bruch­szeit der 1920er Jahre sozial­isiert gewe­sen waren. Die daraus resul­tieren­den inneren Erschüt­terun­gen und bewusst erlebten Ambivalen­zen hat­ten die psy­chol­o­gis­che Wirkung, dass die Großen und Mächti­gen jen­er Zeit im Zweifels­fall durchgerüt­telt und gebremst wur­den, wenn sie ein­mal drauf und dran waren, die ganze Welt mit einem Fußball zu ver­wech­seln. Chr­uschtschow gab 1962 nach und begann keinen Atom­krieg; sein Nach­fol­ger Putin hat jet­zt schon höher gepok­ert, als es sich Chr­uschtschow jemals hätte träu­men lassen.

Putin und seine Gefol­gsleute hinge­gen sind Kinder der 1950er bis 1980er Jahre, geprägt in ein­er Zeit des Nieder­gangs, des moralis­chen Ver­falls, des Zynis­mus und der per­ma­nen­ten Heuchelei. Sog­ar wenn sie Grund­sätze, gesellschaftliche Pläne und Ziele haben, ist ihr Glaube an das Gute im Men­schen nur schwach aus­geprägt. Ver­trauen ist sowieso ein Fremd­wort. Wenn man ständig lügt und betrügt, das­selbe aber – einem bes­timmten Muster fol­gend – die gesellschaftlich akzep­tierte Spiel­regel ist, kann man sich in ein­er solchen Welt ganz gut ein­richt­en. Putin liebt die Sow­je­tu­nion, ver­achtet aber den Kom­mu­nis­mus. (Doch, doch, das geht, hat aber seinen Preis!) Der rus­sis­che Schrift­steller, Dis­si­dent und Logik­er Alexan­der Sinow­jew (1922-2006) beschrieb schon im Jahre 1982 in seinem berühmten Buch Homo Sovi­eti­cus diesen Men­schen­schlag sehr ein­dringlich. „Sei mit nie­man­dem befre­un­det“, heißt es dort. „Dein bester Fre­und kön­nte dich ver­rat­en. Liebe nicht! Je rein­er deine Liebe, desto größer die Ent­täuschung. Ver­traue nie­man­dem! Je mehr du jeman­dem ver­traust, umso zynis­ch­er wirst du bel­o­gen. Lerne zu ver­lieren! Je mehr du ver­lierst, umso leichter gehst du in den Tod. Denk nicht an deine Nachkom­men! Deinen Nachkom­men ist dein Schick­sal egal. Sog­ar unsere besten Absicht­en wer­den die Nachkom­men als Zwang ausle­gen und unsere besten Errun­gen­schaften für dumm und tal­ent­los hal­ten. Aber, wenn du erkennst, dass der Tod gerecht ist, sei bere­it, mit Fan­faren­klän­gen unterzuge­hen. Sag es auf Rus­sisch: ‚Wenn schon unterge­hen, dann mit Musik.‘ Und kämpfe trotz­dem um dein Leben, bitte nicht, bet­tle nicht, kämpfe.“

Den Kampf haben die heuti­gen Machthaber in Rus­s­land längst zu einem pseudore­ligiösen Dog­ma erhoben, wobei sie natür­lich in erster Lin­ie andere für sich ster­ben lassen. Und die Musik? Die spielt in ein­er Laut­stärke auf wie nie zuvor – bar jeglich­er Har­monie, all­ge­gen­wär­tig.

2.) Zick­eza­cke

Der let­zte Buch­stabe des lateinis­chen Alpha­bets weckt bei Men­schen in unserem Kul­turkreis unzäh­lige Assozi­a­tio­nen, allerd­ings sel­ten pos­i­tive. „Z“ – das ist zwar die zir­pende Grille, aber auch die zis­chende Schlange, das Sum­men der Fliege, der unan­genehme, bedrohliche, schnei­dende Laut, der die Ohren sausen und das Blut stock­en lässt. Es ist das Heulen der deutschen Tief­flieger im Zweit­en Weltkrieg und das Zis­chen der Kugel, die an einem vor­bei­fliegt. „Z“ ist das empörte „Ts, ts, ts“ beim Kopf­schüt­teln, das Let­zte, das Ende aller Dinge, die Sack­gasse. Es ist ein halbes Hak­enkreuz, eine Schlange mit Hang zu klaren geometrischen For­men und ein gle­icher­maßen bedrohlich­es „Zack!“. „Z“ ste­ht für „Zom­bies“, für „Zusam­men­bruch“ und „Zer­störung“, für ein gegröltes, bier­schwan­geres „Zick­eza­cke!“ oder das rus­sis­che „Zyz!“, was man unge­fähr mit „Kusch!“ über­set­zen kann. Im Rus­sis­chen wird es allerd­ings wie ein stimmhaftes „S“ aus­ge­sprochen – der Anfangs­buch­stabe des Wortes „Za“, was „für“ oder „dafür“ heißt und natür­lich nicht mit dem lateinis­chen „Z“, son­dern dem Rus­sis­chen „З“ geschrieben wird. „Za Rod­inu! Za Rossi­ju! Za Puti­na!“ Für die Heimat! Für Rus­s­land! Für Putin! Das ist im heuti­gen Rus­s­land an vie­len Wän­den, auf Plakat­en und Bild­schir­men zu lesen – geschrieben mit einem „Z“, statt eines zyril­lis­chen „З“. Kinder­gartenkinder stellen sich im Hof auf und bilden dabei ein Z aus vie­len kleinen Kör­pern. Das ist wider­wär­tig und erbärm­lich zugle­ich.

Die ukrainis­chen Medi­en ver­gle­ichen Putin gerne mit Hitler. Sie schreiben seinen Namen durchge­hend mit Klein­buch­staben – putin – und beze­ich­nen Russen als „Raschis­ten“ – eine Verknüp­fung des englis­chen Aus­drucks „Rus­sia“ und des Wortes „Faschis­ten“. Was den Nazis die Juden waren, seien den „Raschis­ten“ heute die Ukrain­er, heißt es. Der Ver­gle­ich zwis­chen dem heuti­gen Rus­s­land und Nazi-Deutsch­land ist – trotz aller Unter­schiede – nicht ganz falsch, ein Unter­schied allerd­ings ist fun­da­men­tal und zeigt, dass man his­torische Ereignisse, die achtzig Jahre auseinan­der liegen, let­ztlich doch niemals stim­mig miteinan­der ver­gle­ichen kann. Die Men­schen von heute haben einen viel besseren Zugang zu Infor­ma­tion als vor achtzig Jahren, und eine intellek­tuelle, gar nicht so kleine Min­der­heit – die Zivilge­sellschaft – ver­ste­ht es nicht nur, das Inter­net gezielt zu nutzen, son­dern besitzt auch eine klare human­is­tis­che Hal­tung, die es früher in dieser Form noch nicht oder nur bei sehr weni­gen gegeben hat­te. Viele Men­schen besitzen außer­dem so viel Selb­stre­flex­ion und Empathie, dass sie über das Vorge­hen des Putin-Regimes in der Ukraine der­art entset­zt und angeekelt sind, wie es im Deutsch­land des Jahres 1939 wohl kaum jemand gewe­sen war. Für diese Men­schen spielt es eine wesentliche Rolle, dass sie die Geschichte des Zweit­en Weltkrieges ken­nen und diese ger­ade deshalb nicht wieder­holen wollen. Was für die einen Ans­porn zu ver­meintlichem Helden­tum darstellt, ist für andere das genaue Gegen­teil.

Let­ztlich hat Putin mit diesem Krieg auf der ganzen Lin­ie ohne­hin das Gegen­teil von dem bewirkt, was er eigentlich intendiert hat­te. Er hat nicht nur inten­siv zu ein­er Stärkung der ukrainis­chen Iden­tität beige­tra­gen, diesem Land ein neues Nar­ra­tiv und ein Heldenepos „geschenkt“ und somit bewirkt, dass sich nun fast alle Men­schen des Ostens und des Südens als Ukrain­er fühlen, was vor zehn Jahren gewiss noch nicht der Fall war. Seine Poli­tik hat auch im eige­nen Land zu ein­er Ernüchterung geführt, die Spreu vom Weizen getren­nt, sodass die Men­schen nun Farbe beken­nen müssen, und die – zugegeben­er­maßen zahlen­mäßig rel­a­tiv kleine – Oppo­si­tion radikalisiert, gestärkt sowie in ihrer Ablehnung des Regimes zu einem mono­lithis­chen Block vere­int hat. Das macht ein wenig Hoff­nung für die Zukun­ft in diesen trau­ri­gen Zeit­en. Die Oppo­si­tion ist in der Min­der­heit, doch inzwis­chen wider­ständig genug, um nicht ein­fach durch Ein­schüchterung, Ver­bote oder physis­che Ver­nich­tung aus der Welt geschafft zu wer­den. So pas­siv, unin­formiert und duld­sam wie zu Stal­ins Zeit­en ist das Volk nicht mehr; eine Min­der­heit, die in der Masse größer ist als nur ein kleines Häufchen, ist inter­na­tion­al ver­net­zt, weltof­fen und bere­it, aufzubegehren, wenn die Umstände es zulassen. Außer­dem merkt man deut­lich, dass die Machthaber Angst vor dem eige­nen Volk haben, weswe­gen die Repres­sio­nen im Ver­gle­ich zu den mar­tialis­chen Ankündi­gun­gen, Ver­boten und Dro­hun­gen in den meis­ten Fällen rel­a­tiv milde bleiben. Noch gehen die rus­sis­che Polizei und Geheim­di­en­ste nicht wie die Gestapo oder der NKWD vor – Aus­nah­men bestäti­gen die Regel. Wer gegen den Krieg demon­stri­ert, kommt für einige Tage ins Gefäng­nis, aber (noch) nicht für fün­fzehn Jahre in ein Straflager. Man lässt einzelne unlieb­same Geg­n­er ermor­den, aber (noch?) exeku­tiert man echte und ver­meintliche Feinde nicht massen­weise in irgendwelchen Kellern. Das tut man „nur“ in den beset­zten Gebi­eten der Ukraine. Es gibt sog­ar Nis­chen für Satire und kri­tis­che Berichter­stat­tung – vor allem im Inter­net, wo Sper­ren und Block­ierun­gen rel­a­tiv leicht umgan­gen wer­den kön­nen. Nein, frei atmen kann man in diesem Land nicht mehr, aber man erstickt noch nicht ganz, auch wenn einem ob der Nieder­tra­cht, des Elends und des Wahnsinns, von dem man umgeben wird, ständig schwindlig wird.

3.) 9. Mai 2022: „Tag des Sieges“

Eines ist sich­er: Putin wird diesen Krieg ver­lieren. Sog­ar wenn seine Armee mil­itärische Erfolge errin­gen sollte, wer­den die Fol­gen für Rus­s­land und das Regime der­art hor­rend sein, dass es früher oder später daran zer­brechen wird. Während ich dies schreibe, wird allerd­ings großspurig und betont selb­st­sich­er der „Tag des Sieges“ über Nazi-Deutsch­land vor 77 Jahren gefeiert. In den let­zten Wochen kur­sierten zahlre­iche Gerüchte darüber, was Putin wohl an diesem Tag verkün­den oder tun werde. Nichts davon ist einge­treten. Wed­er wurde offiziell der Krieg erk­lärt noch die Gen­eral­mo­bil­machung verkün­det. Das jedoch hat in ein­er Dik­tatur wie jen­er in Rus­s­land eine viel gerin­gere Bedeu­tung, als man meinen kön­nte. Der Krieg ist ohne­hin seit zweiein­halb Monat­en im Gange, und Wehrpflichtige müssen gele­gentlich jet­zt schon in den Kampf ziehen, wenn auch nicht offiziell. Der ukrainis­che Präsi­dent Selen­skyj prophezeit während­dessen einen Sieg der Ukraine. Was bleibt ihm anderes übrig? Die Ukraine kann in diesem Krieg nur siegen oder unterge­hen.

Beze­ich­nen­der­weise wurde der 9. Mai in der Sow­je­tu­nion erst im Jahre 1965 als Feiertag einge­führt. Das Trau­ma eines Krieges bewältigt man nicht durch Jubel­stim­mung und Mil­itär­pa­raden. Ob es nach diesem Krieg noch Sieges­pa­raden geben wird oder nur mehr Gedenk­tage, weil Kriege let­ztlich alle zu Ver­lier­ern machen? Es ist zu befürcht­en, dass die Men­schen niemals klüger wer­den.