Die überfüllten Leerstellen

Christian Zillner

Von

Ich lernte Chris­t­ian Zill­ner im Früh­jahr 2018 ken­nen. Er mod­erierte eine Tagung über den rück­läu­fi­gen Verkauf von Büch­ern und damit zusam­men­hän­gend die Krise des Lesens, und er tat dies sach­lich unaufgeregt. Bei ander­er Gele­gen­heit hätte ich ihm als weit­sichti­gen Chefredak­teur für Cor­po­rate Pub­lish­ing begeg­nen kön­nen, oder als Her­aus­ge­ber divers­er Zeitschriften, oder als einen Kom­mu­nika­tion­s­man­ag­er, der eine Wer­beagen­tur leit­et, und wiederum ander­er­seits als kri­tis­chen Jour­nal­is­ten, der heißblütig an das Ethos der vierten Macht im Staat appel­liert. Hätte unser erstes Zusam­men­tr­e­f­fen in einem kün­st­lerischen Umfeld stattge­fun­den, wäre mir der Essay­ist gegenüberge­s­tanden, der er auch ist, oder der Lyrik­er, oder aber der Epik­er, der mit Spiegelfeld die auf elf Bände aus­gelegte Geschichte eines öster­re­ichis­chen Adels­geschlechts in Vers­maß erzählt und etwas wie ein öster­re­ichis­ches Nationale­pos von 907 bis 2002 nachze­ich­net.

All diese Facetten sein­er Per­sön­lichkeit lernte ich auch nach und nach ken­nen. Schließlich wurde mir klar, dass er vor allem ein Kün­stler ist, ein Maler, und dann doch wieder ein­er, der „alles“ vorantreibt, weit­er­malt wie er weit­er­schreibt, weit­er­ma­cht, ein Entwick­ler von virtuellen Kun­st­fig­uren ist, und eben­so Per­former, Erbauer von Instal­la­tio­nen. Als er mich in sein Ate­lier in der Wiener Josef­s­tadt ein­lud und mir dort seine zumeist großflächi­gen Gemälde zeigte, fühlte ich mich dann doch aus dem Konzept gebracht. Diese Bilder sind von ein­er Wucht und von etwas Urtüm­lichem, das ich nicht erwartet hat­te. Von diesen Bildern geht ein Eigen­wille beina­he wie von Art-Brut-Bildern aus, der mir ger­adezu ins Gesicht schlug. Wie eine Gis­cht, eine Welle, vor dem man zuerst die Augen aufreißt, ehe man sie eben­so abrupt zusam­menkneift, sich vor ihr reflexar­tig weg­duckt, um ihr dann, sobald sie einem gle­ich­sam den Rück­en zuwen­det, tief beein­druckt einen Blick hin­ter­herzuw­er­fen. Diese Gemälde lösen ein gelehrtes Staunen aus. Denn voraus­set­zungs­los wie Art-Brut-Bilder sind sie beileibe nicht, sie sind wed­er von der Kun­st­geschichte unbeein­druckt noch sind sie fix­iert auf das Eigene, das Höch­st­per­sön­liche, son­dern bewe­gen sich in einem Ref­eren­zraum der Kun­st.

Meine Sym­pa­thie für Kün­stler, die sich nicht auf eine bes­timmte Diszi­plin, ein Handw­erk, eine Tech­nik oder eine Begabung fes­tle­gen wollen, gilt ihrem Ver­such, vorbes­timmte Gren­zen zu über­schre­it­en und Unvere­in­bares miteinan­der zu ver­söh­nen. Sie sind oft über­bor­dend pro­duk­tiv, fast man­isch kreativ, und ihr Ansatz ist im Grunde zum Scheit­ern verurteilt. Ihre Kun­st entste­ht aus einem Über­maß, sie ste­hen unter einem Über­druck, vor dem sie sich Erle­ichterung zu schaf­fen ver­suchen. Dass immer ein Rest bleibt, der nicht auflös­bar ist, ist ihr kreatives Pro­gramm und treibt sie von einem Exper­i­ment zum anderen. Ja sie existieren in einem fort­dauern­den Exper­i­ment. In ihnen rin­gen auf drastis­che Weise Erken­nt­nis­drang und Gestal­tungswillen miteinan­der. Rast­los auf der Suche nach Wahrheit­en, wagen sie sich zugle­ich an die Philoso­phie und bilden ein enzyk­lopädis­ches Gedächt­nis aus. Sie schreiben – wie Chris­t­ian Zill­ner – Gedichte, malen Gemälde, entwer­fen Skulp­turen, fotografieren oder was immer, ihnen scheint wahrlich nichts heilig. Sie sind gestal­ter­isch, inter­ve­nieren auf eine provozierende Weise. Manche bauen sich ein gesamtkunst­werk­lich­es Uni­ver­sum, in dem sie der Motor sind und als Selb­st ver­schwinden.

Am wenig­stens an ihnen inter­essiert mich ihre Dop­pel­be­gabung. Man kön­nte meinen, sie han­deln unge­bremst. Dabei wollen sie sich schlicht nicht entschei­den und agieren doch sehr entsch­ieden. Sie gren­zen sich insofern von den Mono­lithen der Kunst­welt ab, als dass sie der Idee des eige­nen Stils, der unver­wech­sel­baren Hand­schrift, ja über­haupt dem Werk­be­griff wenig abgewin­nen kön­nen. Sie sind Häretik­er, und eben auch Mys­tik­er, und ich glaube, sie sind selb­st von all dem, was sie schaf­fen, vor den Kopf gestoßen.

Das alles trifft auf Chris­t­ian Zill­ner zu. Er durch­misst das Leben, dessen soziale und kreative Felder, im Wis­sen, dass es stets um die Frage geht, ob man zu den Siegern oder den Ver­lier­ern gehören möchte, und er nur in der Kun­st sagen kann: „Ich möchte (mich) ver­lieren“. Er beze­ich­net sich als Maler, Schreiber und Mag­a­zineur und gren­zt damit mit zwinkern­dem Auge sein schi­er unbe­gren­ztes Han­deln ein. Im Vorarl­ber­gis­chen, dem Sprachraum, aus dem er stammt, bedeutet näm­lich der Mag­a­zineur einen Lager­hal­lenar­beit­er, und als solchen ver­ste­ht er sich. Was erzählen also seine Gemälde über ihn, den Mag­a­zineur, der ständig Regale ein­räumt, wie er sie eben­so aus­räumt? Der Ord­nung schafft in der Lager­halle, der Welt, um let­z­tendlich den Raum, den er leert, über­fracht­en zu kön­nen? Über jeman­den, der nahelegt, man müsste gle­ichzeit­ig von allem sprechen, oder wenig­stens von all dem anderen, was er tut.

In ein­er im Jän­ner 2019 fer­tig gewor­de­nen Bild­serie mit dem Titel Four Self­ies with Young Codgers (100 x 100 cm, Acryl/canvas) fängt Zill­ner vier Gemüt­szustände ein. Jedes der vier trägt gewisse Gesicht­szüge des Kün­stlers, auch jenes der Angst, das einen dunkel­häuti­gen Mann zeigt. Die Selb­st­porträts heben sich insofern von den meis­ten Zill­ner-Gemälden ab, als dass sie beina­he fotografisch anmuten. Es han­delt sich um Schnapp­schüsse, und ganz offenkundig reagiert Zill­ner auf das Phänomen des fotografis­chen Selb­st­bild­niss­es, das heute Aber­mil­lio­nen von Men­schen mit ihren Smart­phones aufnehmen, über soziale Medi­en ver­schick­en und öffentlich machen. Die vier Self­ies zeigen zugle­ich einen Prozess des Sich-Preis­gebens und ein­er Anver­wand­lung, wirken unmit­tel­bar und haben doch etwas Alle­gorisches. Schon der Titel deutet an, dass sie insze­niert sind. Sie zeigen je ein frontales Män­ner­gesicht, und auf allen vier Bildern einen Kauz. Der codger fällt jew­eils aus dem Bild. Wed­er seine Dimen­sion noch wie er posi­tion­iert ist, wirken real­is­tisch. Vielle­icht ist der codger eben­so ein Tier wie ein Kodier­er. Ein Küken, in einem noch nicht ger­ade har­monis­chen Ver­hält­nis zur Welt.

Ich fragte Chris­t­ian Zill­ner, was diese Selb­st­porträts aus­löste. Es sei ein Film über junge Käuze gewe­sen, sagt er, er habe deren ungestüme Bewe­gun­gen faszinierend gefun­den, ihre Zerzaus­theit und Unbe­holfen­heit. Oft sind es Tiere, die ihn zum Malen brin­gen. Ihre Tragik und ihre Komik. Die Käuze also gaben die Bildgestal­tung vor und fungieren am Ende als Ein­drin­glinge, sie fall­en aber auch tröstlich aus dem Bild, denn nur das Gesicht des Men­schen trägt das Unmen­schliche in seinem Antlitz.

Was an Zill­ners Bildern auf­fällt, ist eben dieser erwäh­nte Drang zur Insze­nierung. Es geht beina­he immer um unterge­hende Wel­ten, aus deren Scher­ben, Trüm­mern und Über­resten neue Wel­ten entste­hen. Ein fast barock­es Insze­nieren von Endlichkeit und jen­er Energie, die ihn, den Kün­stler, dazu ermächtigt, sich aus dem Sich-Auflösenden neu zu erfind­en. Zill­ners Bilder star­ren den Betra­chter in die Augen, insofern fordern sie von ihm ein Beken­nt­nis. Sie ruhen nicht in sich selb­st, sie fordern den Betra­chter her­aus. Sie bezeu­gen nicht ein Beken­nt­nis des Kün­stlers, sie verun­sich­ern vielmehr jeden, der sich ihnen nähert.

Geboren 1959 in Dorn­birn, lebt Chris­t­ian Zill­ner seit vie­len Jahrzehn­ten in Wien. Er hat etwas The­olo­gie studiert und ist Dok­tor der Philoso­phie. Sowie viel­er sein­er Bilder von starken Land­schaften getra­gen sind, halte ich diese Land­schaften doch viel eher für mythis­che For­ma­tio­nen als für realen Gegen­den nachemp­fun­dene Natur. Auch in diesem Punkt spiegelt sich das Ambiva­lente, das Zill­ners Leben durchzieht. Es geht stets um ein aufwendi­ges Dra­ma der Wel­tentste­hung. Um ein The­ater des wahrschein­lich Unaussprech­baren. Nicht zufäl­lig sind es denn auch die großen Erzäh­lun­gen wie etwa die der Arche Noah oder des Turm­baus zu Babel, an denen er sich in seinen Bildern abar­beit­et.

Es kön­nte ein Berg sein, der im Hin­ter­grund in den bedrohlich bedeck­ten Him­mel ragt, ein sym­metrisch dreieck­iger Felsen, vor dem sich eine Wei­de­land­schaft aus­bre­it­et, vielle­icht ein Moor. Es kön­nte sich im Vorder­grund, in der Fluchtlin­ie des Berges, um ein Schild oder die Skulp­tur eines Blattes han­deln, das in den Boden ger­ammt wurde. Und wiederum davor um eine Mauer, halb aus Stein, halb aus in den Boden geschla­ge­nen Ästen. Dahin­ter kön­nte sich ein Fried­hof befind­en, längst im Ver­fall, bald schon gän­zlich vom Erd­bo­den ver­schluckt.

Das Gegen­ständliche in Zill­ners Gemälde ver­führt dazu, alles, was man sieht, frag­men­tiert wahrzunehmen. Um es dann, bei näher­er Betra­ch­tung und indem man es aus ver­schiede­nen Ent­fer­nun­gen zu ver­ste­hen ver­sucht, als ein bild­haftes Ganzes zu begreifen. Es han­delt sich – vorne der Bug, hin­ten das Heck – nicht um einen Berg und auch nicht um eine Skulp­tur, son­dern um ein Schiff aus Holz, das auf Grund gelaufen ist und in die Land­schaft überge­ht. Oder vielmehr eine Land­schaft schafft. Das Gemälde, Die Arche Noah (200 x 150 cm, Acryl/canvas), nimmt also ein bib­lis­ches The­ma auf und entzieht der Idee ein­er geretteten Welt jegliche Grund­lage. Es han­delt aber nicht nur vom Ver­fall, den es anzeigt, son­dern erzählt von ein­er Ver­schiebung der Per­spek­tive, die im Auge des Betra­chters eine wiederum andere – seine ihm eigene – Geschichte entste­hen lässt.

Das Bild erzählt von ein­er mod­er­nen Melan­cholie. Eine Vari­ante kön­nte Die Arche Noah taucht vor Venedig auf (300 x 200 cm, Acryl/canvas) heißen, und wir kön­nten uns an ein­er archais­chen Mole wiederfind­en und über die Welt und das Unstill­bare philoso­phieren.

Dabei fällt auf, dass dieses zweite Gemälde der Arche Noah wie auch beina­he alle anderen unge­lenk kom­poniert ist, dies aber keine Frage von tech­nis­chem Ver­mö­gen ist. Dass irgen­det­was an diesem Bild schief anmutet, hat offen­bar mit einem Zweifel des Kün­stlers zu tun. Es ist gekon­nt gemalt, und doch irgend­wie „falsch“. Irgen­det­was wider­set­zt sich der klas­sis­chen Kom­po­si­tion eines Gemäldes, hier­mit einem bes­timmten Nar­ra­tiv, das mit der Zen­tralper­spek­tive ver­bun­den ist. Umso länger ich es betra­chte, desto deut­lich­er fällt mir auf, dass dieses Gemälde aus Kulis­sen beste­ht, die ineinan­dergeschoben sind. Aus Frak­tal­en, die ein so abstrak­tes wie – ähn­lich dig­i­tal­en Bildern – Assozi­a­tio­nen weck­endes Als-ob-Uni­ver­sum bilden.

Ich frage Chris­t­ian Zill­ner, inwiefern die Per­spek­tive in diesen Gemälden the­ma­tisiert wird. Zill­ner meint, insofern er sich die Frage stelle, ob etwa Velasquez heute noch so malen kön­nte wie zu sein­er Zeit. Ob das Meis­ter­liche noch aus­sagekräftig wäre, und fügt hinzu, er ver­mute, irgen­det­was würde Velasquez davon abhal­ten. Und so malt Zill­ner wie ein Abstrak­ter und bringt dabei alles ins Fig­u­rale, und nähert man sich dem Bild und sieht ins Detail, löst sich alles in Striche auf.

Ein Aspekt, der mir auf­fällt, ist die Wut, die aus diesen Bildern spricht, das Nicht-Hin­nehmen des Ver­falls, den Zill­ner in seinen postapoka­lyp­tis­chen Visio­nen zeich­net, und der doch eigentlich aus ein­er Wut (oder ist es Zorn?) auf die großen Deu­tungsmuster unser­er Kul­tur entste­ht. Chris­t­ian Zill­ner ist ein denk­ender Kün­stler, und als solch­er ein wüten­der (zorniger?) Denker. Das etwas Grobe in seinen For­mulierun­gen kon­terkari­ert sein Auftreten, das eines großgewach­se­nen Mannes, der san­ft wirkt und vor­sichtig in seinen Bewe­gun­gen, beim Sprechen tänzelt, von ein­er bemerkenswerten Zurück­hal­tung.

An die Wand seines Ate­liers ste­ht mit Farbe und Bleis­tift geschrieben: Selige Erde, heiliges Land. Daneben ein Vers aus Exo­dus (5,3): Wo du stehst, ist heiliger Boden. Er erzählt, sich nicht daran zu erin­nern, warum diese Sätze auf sein­er Wand lan­de­ten, und eben­so nicht zu wis­sen, wie die Motive sein­er Bilder zus­tande kom­men, lediglich nur, dass die Gedanken wie auch die Bilder in einem umständlichen und lang­wieri­gen Prozess entste­hen. Auch das ist Teil dieser Denkwut, die ihn ausze­ich­net, eine Ver­fass­theit sein­er Psy­che, eine Hal­tung und eben­so ein Ver­fahren, mit dem er zu ihn selb­st über­raschen­den Ergeb­nis­sen gelangt.

In seinem Essay „Kun­st. Ver­rat an der Natur“ weist Zill­ner auf die Propo­si­tio­nen in der Philoso­phie hin, die vor jed­er sprach­lichen Aus­sage liegen. Diesen Propo­si­tio­nen, schreibt er, entsprechen die Vor­bilder der Maler, aber sie lassen sich nicht nach der Natur abbilden, da jene immer schon eine von Kul­tur geprägte ist, und immer schon kün­stlich sein musste, um ertra­gen wer­den zu kön­nen. Anders ist sie nicht wahrnehm­bar. Und da nun jed­er Form von Kun­st nicht die Natur, son­dern ein Konzept davon zugrunde liegt, sieht er den Kün­stler als die Urform des Befreiers von der Natur, und damit ver­weist für ihn Kun­st auf eine „über­natür­liche“, also geistige Exis­tenz des Men­schen.

Es geht ihm im Grunde um eine Einübung ins Ster­ben. Um eine Befreiung von etwas, wovon man nicht befre­it wer­den kann. Das macht ihn wütend (zornig?) und eben­so scharf­sin­nig. Er ver­ste­ht den Kün­stler als den Ver­räter an der Natur, der sin­nend und zweifel­nd Dis­tanz schaf­fen kann zum Endlichen allen Tuns. Es geht also um die Würde des Geistes.

Zill­ners Turm­bau zu Babel beste­ht aus zwei Tafeln (jew­eils 200 x 150 cm, Acryl/canvas). Während Pieter Bruegels Gemälde den alttes­ta­men­tarischen Turm­bau aus der Per­spek­tive eines Betra­chters am Fuß des Bauw­erks darstellt, also von unten, über­aus mächtig, zeigt Zill­ner das Bauw­erk aus der Vogelper­spek­tive, vielle­icht aus einem Flugzeug, von weit oben jeden­falls. Bruegels Bild zeigt das Scheit­ern des Ver­suchs, einen Turm zu bauen, dessen Spitze bis an den Him­mel reiche. Es ist an vie­len Details zu erken­nen, dass der Men­sch scheit­ern wird, und das Bild wurde auch nie anders gele­sen. Es stellt die Vergänglichkeit alles Irdis­chen dar, ja die Verge­blichkeit allen men­schlichen Strebens, es Gott als Schöpfer gle­ichzu­tun.

In Zill­ners Gemälde hat sich diese Frage erübrigt. Vielmehr beherrscht die Frage nach der Per­spek­tive die ganze Erzäh­lung. Der Blick aus dem All macht die Frage nach dem Men­schlichen sinn­los. Der Turm neigt sich nicht zum Ein­sturz, er hat nur nie die Aus­sicht, sich annäh­ernd zu seinem Betra­chter hin­auf zu erheben. Aber auch dem Betra­chter wird nichts Got­tähn­lich­es zuge­s­tanden. Er mag ein Berg­steiger, ein Pilot, gar ein Astro­naut sein, aber er blickt auf Land­schaften, die nicht real sind, son­dern vielmehr ein Spiegel sein­er inneren Zweifel, ob denn das, was er sieht, über­haupt existiert.

In seinem Essay „Mit Picas­so auf Anfang“ meint Chris­t­ian Zill­ner, Picas­so habe eine Darstel­lungsweise entwick­elt, die keine Men­schen mehr zeigt, wie wir sie uns gern vorstellen möcht­en, son­dern Fig­uren wie Franken­steins Mon­ster. Geschöpfe, die aus ver­schiede­nen Teilen zusam­menge­set­zt sind und durch einen von außen kom­menden Impuls zum Leben erweckt wer­den. „Picas­so zeigt uns, was es nicht (mehr?) gibt: Men­schen“, schreibt Zill­ner.

Mir scheint, Zill­ner führt diesen Gedanken auf eine radikale Weise weit­er, indem er im Zeital­ter der Com­put­er nat­u­ral­is­tis­che Bilder wie Land­schaften mit Excel-Funk­tio­nen malt. Wie entste­ht das, was wie Berge und Täler aussieht in seinem „Turm­bau zu Babel“? Der Turm sieht aus wie ein Ameisen­haufen. So Men­schen vorkom­men, wirken sie wie ein zusam­mengewür­feltes Etwas. Das Tier­hafte wiederum spielt in all dem, was wie Gesteins- und Erd­for­ma­tio­nen aussieht, eine entschei­dende Rolle. Sieht man genauer hin, erken­nt man in einem Bergrück­en ein Schn­abelti­er, oder in einem Felsen, der sich auftürmt, einen Bären. Das Bild ändert sich je nach­dem, wo man sich aufhält, und von wo man es betra­chtet.

Im Grunde spricht aus dem Bild eine eben­so große Wut auf jede Deu­tung­shoheit wie eine Sehn­sucht, endlich Boden unter die Füße zu bekom­men. Dass Chris­t­ian Zill­ner sich an mythis­chen The­men (auf)reibt, fußt auf ein­er meta­ph­ysis­chen Ent­täuschung. Es will nicht gelin­gen, an den Anfang zurück­zuge­lan­gen, und daher drück­en sich heute die Philosophen der Gegen­wart buch­stäblich vor der ersten und let­zten Frage. „Was ich an den bedeu­ten­den Philosophen der Gegen­wart so liebe“, heißt ein klein­er Text von Zill­ner, in dem er beklagt, die Philosophen der Gegen­wart kämen bei jedem Prob­lem, das sie auf­greifen, „nach einiger bril­lanter Analyse auf Niet­zsches Grund, dass die Wahrheit unerträglich ist.“ Und weit­er: „Wer den bril­lanten Philosophen bei ihrer Malar­beit (!) fasziniert zuge­se­hen hat, kann zum Schluss nicht anders als etwas ent­täuscht auf die Fußstapfen in der Farbe zu star­ren. Ja, so kommt man her­aus, aber eigentlich nur, indem man seine eigene Leis­tung mit Füßen tritt“.

Es kön­nten Gren­zge­gen­den sein, Über­gangs­land­schaften, die einem in Zill­ners Gemälden begeg­nen. Nicht sel­ten gibt es Wasser­flächen, sie sind am ehesten als real zu nen­nen, es kön­nten Seen, Bäche, Flüsse oder das Meer sein. Und doch sind sie eben­so unpro­por­tion­iert, oder die Per­spek­tiv­en sind ver­schoben. Es herrscht ein Kampf der Per­spek­tiv­en. Sowie sich manch­mal tierische For­men in den Land­schafts­for­men ver­ber­gen, treten ein anderes Mal in diesen amor­phen Gegen­den Tiere wie in ein­er Manege auf.

Eine Ziege tritt aus dem Bild, kommt aus der Kulisse, um sich den Betra­chter anzuse­hen, Unti­tled (200 x 150 cm, Acryl/canvas). Die Tiere sind immer fre­undlich, ja fröh­lich, während Men­schen grim­mig, in sich wütend und böse wirken. Eine Frau, oder ist es ein mythis­ches Zwit­ter­we­sen, ste­ht im Wass­er und schaut in das Bildin­nere, sie ist entwed­er überdi­men­sion­iert geze­ich­net oder sie ste­ht im Vorder­grund, und der im Hin­ter­grund geze­ich­nete Hafen, eine Stadt und ein Zypressen­hain sind wie Ver­satzstücke in das Bild geschoben, die Pro­por­tio­nen stim­men jeden­falls nicht.

Ich fühlte mich, da ich in Zill­ners Ate­lier ein Bild nach dem anderen betra­chtete, über­wältigt und fragte mich, ob es an all dem, was ich sehe, etwas Ursäch­lich­es gibt. Am Anfang eines Bildes ste­ht, erzählt Zill­ner, eine Idee, und dann malt er drauf los, wild, kom­poniert Far­ben. Die Fig­uren entste­hen erst im Über­malen, sie sind das Resul­tat eines Palimpses­ts. Und die Idee, wie in der Serie „Breugheln“ (Früh­ling, 200 x 150 cm, Acryl/canvas), reibt sich immer an einem for­mulierten Blick auf die Welt, auf eine Welt­sicht, die der Kün­stler zugle­ich begreifen und nicht hin­nehmen will.

Da ist zum Beispiel die Serie „Feld­her­ren­land­schaften“, in denen Zill­ner den Blick auf Land­schaften zeigt, wie sie Feld­her­ren vor der Schlacht haben. Temudschin/Dshingis Khan (150 x 150 cm, Acryl/canvas) heißt das Bild ein­er strate­gis­chen Analyse, ein­er vol­len­de­ten Nutzbar­ma­chung von Natur, von Kriegskun­st, ein­er arti­fiziellen Ver­nich­tung, eines genialis­chen Feldzugs.

Wie fügt sich das, um an den Anfang mein­er Über­legun­gen über Chris­t­ian Zill­ner zurück­zukehren, in dieses Bild des vielfälti­gen Agierens, das ich zu zeich­nen ver­suchte, ein? Ich ver­mute, Zill­ner han­delt nicht nur vielfältig und kon­textuell, son­dern schiebt und ver­schiebt (wie in den Gemälden) laufend Hand­lungsebe­nen. Sein Denken ist klar und doch sehr ver­wun­den, es mäan­dert und ist doch dort, wo es sich ger­ade aufhält, (ein)fordernd. Es hat etwas Schroffes, wenn er mit dem Unver­mö­gen abrech­net, alles zu wis­sen und damit einen Vor­rang zu pos­tulieren (ob jenen der Natur­wis­senschaft über die Philoso­phie, oder jen­er über die Lit­er­atur). In einem Essay nen­nt er das Dicht­en ein Nicht­en, das aus ein­er Sehn­sucht entste­he, nichts ste­hen zu lassen, um etwas ganz anderem Raum zu schaf­fen. Auf ver­schiede­nen Tableaus spielt Zill­ner auf ein­er Klaviatur von erstaunlichem Umfang, und er hat – er sagt es von der Lyrik – aber wom­öglich eben­so in sein­er gesamten Kun­st im Sinn, die Welt zu zer­stören, ohne jeman­dem ein Haar zu krüm­men.

Solch­es Denken hält sich Utopi­en vom Leib und glaubt doch an die heilende Wirkung der Kun­st. Sie heilt nicht von etwas, sie ist selb­st Heilung im Heil­losen, tröstlich, da sie auf die geistige Exis­tenz des Men­schen ver­weist, und zugle­ich man­i­fest, im Materiellen ver­ankert. Hebt sie die Zeit auf, frage ich nach. Jemand, der unun­ter­brochen Kun­st machen kön­nte, würde nie Zeit empfind­en. Antwortet Chris­t­ian Zill­ner. Das meine Jean-Bap­tiste Camille Corot wohl, wenn er sagt: „Ich hoffe, man kann auch im Him­mel malen.“ Einen größeren Trost könne man nicht aussprechen. „Der Him­mel ist uns lang nicht genug. Selb­st dort brauchen wir die Kun­st“.