Hochwasser

Von

Als Kind spielte ich oft im Bach, der durch das ober­steirische Dorf mäan­derte, in dem ich aufwuchs. Der Bach war an vie­len Stellen seicht. Mit meinen Fre­un­den baute ich kleine Wehren und Schleusen und errichtete auf einem mit Schilf bewach­se­nen Inselchen einen Tipi, um mit ein­er ver­fein­de­ten Bande die Frieden­spfeife – qual­mende Stro­hhalme –zu rauchen. Es gab keine Kanal­i­sa­tion, und so waren in den 1960er Jahre Warzen, Krätzen, Auss­chläge und Würmer nichts Außergewöhn­lich­es für mich.

An der Donau aber, wo meine Groß­mut­ter lebte, gab es den Typhus. Meine Mut­ter sagte mir oft, in der Donau komme der Typhus vor, ich weiß nicht, als Dro­hung oder um sich selb­st zu beruhi­gen, wenn ich mir einen Band­wurm einge­han­delt hat­te. Ich war jeden­falls nicht wie die Kinder ihrer Wachauer Schwest­er vom gefürchteten enter­ischen Fieber bedro­ht. Für meine Cousins galt das Baden im Fluss nicht nur wegen der Tiefe, Wirbel und Strudel der Donau als gefährlich, son­dern eben auch wegen dieser lebens­bedro­hen­den Krankheit. Ich fürchtete mich also vor der Donau, aber ich fand sie auch aufre­gend, auch wegen des Typhus. Der Klang seines Namens zog mich an. Der Donau-Typhus stand für das Außergewöhn­liche, ja Phan­tastis­che ein­er fer­nen Gegend.

Über­haupt war dieser Fluss im nördlichen Flach­land in allem größer, imposan­ter und eben auch bedrohlich­er als unser Bach. Deswe­gen benei­dete ich meine Cousins. In den Som­mer­fe­rien, wenn ich zu mein­er Tante in die Wachau fuhr, angelte ich mit ihnen in der Donau, mit selb­st gebastel­ten Hak­en. Die Fis­che grill­ten wir dann am Ufer über offen­em Feuer. Die Grillen zirpten, und da es dunkel wurde, spiegelte sich der Mond auf dem gekräusel­ten Wass­er. Und auch die Gelsen gehörten zu diesem unübertr­e­ff­baren Flair.

Es gab für mich kein fre­undlicheres Geräusch als jenes der Donau, das ich in lauen Som­mernächt­en im Haus mein­er Tante ver­nahm. Und keinen stärk­eren Lock­ruf als das etwas bedrohliche Rauschen, eine Art Rollen, das sich näherte, ohren­betäubend, mich ver­schlang und sich doch über mich hin­weg bewegte und wieder ent­fer­nte. Wachte ich aus meinem Traum auf, wurde mir klar, ein Lastschiff hat­te sich soeben die Donau stro­maufwärts geplagt. Ich stand auf, beugte mich aus dem Fen­ster und sah noch die roten und grü­nen Lichter, die bald wieder ver­schwan­den.

Das Leben an einem so aben­teuer­lichen Fluss schien mir weit mehr meinem Naturell zu entsprechen als das meine an einem kleinen Bach in einem ober­steirischen Dorf. Daher begann ich, von diesem Fluss im nördlichen Öster­re­ich zu träu­men. Saß ich allein im Gras oder auf dem Ast eines Baumes, stellte ich mir vor, wie unser Bach in die Liesing, hier­auf in die Mur, mit jen­er durch die Stadt Graz bis nach Slowe­nien, dann an der ungarischen Gren­ze in die Drau, und wiederum mit dieser weit­er nach Kroa­t­ien und schließlich in der Nähe der Stadt Osi­jek in die Donau floss. Wie also mein ober­steirisch­er Bach durch den nördlichen Balkan in die Donau, mit jen­er – von der Stadt Osi­jek an mit dem Wass­er aus der Wachau ver­bün­det - durch halb Südost-Europa am Ende rin­nen und am Ende in das Schwarze Meer mün­den würde. Ich kon­nte mich einen ganzen Nach­mit­tag lang in meinen Gedanken einem Wassertropfen aus unserem Bach fol­gen und vere­int mit einem aus der Wachauer Donau an der Mün­dung des Flusses ins Schwarze Meer enden sehen.

In den Flüssen wohnte die Sehn­sucht nach der Ferne. Mit den Flüssen kamen die Geschicht­en und gelangten mit ihnen in die ent­fer­n­testen Gegen­den. Was ich später ein­mal als eine his­torische Tat­sache beze­ich­nen würde, bezog sich in mein­er kindlichen Phan­tasie nicht auf Men­schen, die auf Flössen und Schif­f­en einem Wasser­weg fol­gten; es bezog sich auf den Fluss selb­st, seine Sub­stanz. Für mich erzählten nicht die Sänger und Epik­er, son­dern das Rauschen des Wassers tat es. Ja wenn ich am Bach saß, dachte ich an die Geräusche der Donau, wie ich sie von den Besuchen in der Wachau in Erin­nerung hat­te, und hörte mit diesen Geräuschen die Erzäh­lun­gen aus frem­den Län­dern. Indem ich mir vorstellte, wie mein Bach in die Donau mün­dete, lebte ich auf bes­timmte Weise genau­so wie meine Ver­wandten in der Wachau am läng­sten europäis­chen Fluss. An einem Fluss, um den sich alle große Geschicht­en dreht­en, die ich von Erwach­se­nen hörte, all die Sagen um Krieg und Frieden und den steti­gen Wan­del der Welt.

* * *

Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal von einem Hochwäss­er an der Donau hörte. Meine Mut­ter schrieb regelmäßig Briefe an meine Groß­mut­ter, um ihr zu bericht­en, was bei uns in der Ober­steier­mark vorg­ing, und wenn dann der Briefträger Post von mein­er Groß­mut­ter zustellte, las sie uns am Mit­tagstisch die jüng­sten Ereignisse in der Wachau vor. Darin kamen auch die Sor­gen wegen eines befürchteten Hochwassers vor. Ich war ja ein­mal mit Stiefeln über den über­fluteten Mark­t­platz unseres ober­steirischen Dor­fes gewa­tet, nach sint­flu­tar­ti­gen Regen­fällen, die der Bach nicht fassen hat­te kön­nen. Die Hochwäss­er in der Wachau aber waren ein fun­da­men­tales Ereig­nis. Dro­hte ein Hochwass­er in der Wachau, tele­fonierte meine Mut­ter mit ihrer Schwest­er, und wir wussten wir, was ger­ade in der Wachau geschah. Wir nah­men Anteil, wenn der gewaltige Fluss anwuchs, von Tag zu Tag mehr, und stell­ten uns vor, wie er bald aus dem Fluss­bett treten und schließlich bis zu den Häusern ansteigen würde.

Die Donauhochwäss­er macht­en mich mys­ter­iös, als eine Erzäh­lung, der ich selb­st aufmerk­sam zuhörte, und die ich dann den Nach­barn weit­er­erzählte. Meine Fre­unde kon­nten sich das alles nicht vorstellen. Die Erzäh­lung bewegte, ja erschüt­terte mich und schenk­te mir zugle­ich den Nim­bus des Unbekan­nten. Es han­delte sich jew­eils um zwei bis drei Wochen, in denen meine Mut­ter täglich mit ihrer Schwest­er tele­fonierte, meis­tens im Mai oder Juni, wenn die Schneeschmelze die Donau anschwellen, und schwere Regen­fällen sie aus dem Fluss­bett treten ließ.

Nicht immer kam es zur Katas­tro­phe, und dessen Aus­maß hat­te jew­eils einen bes­timmten Namen. Das Jährliche über­schwemmte die Straße, das Fün­fjährige den Keller, das Zehn­jährige drang in die eben­erdi­ge Räume ein. Beim Hun­dertjähri­gen han­delte es sich um eine mythis­che Größe, ein leg­endäres Ereig­nis, ehrfurcht­ser­re­gend, für die Annalen bes­timmt. In Melk war auf ein­er Hauswand die Tabelle mit den Wasser­stän­den von Jahrhun­derthochwässern gemalt. Ich ver­suchte mir auszu­denken, wie die Donau im Jahr 1501 oder 1768 oder 1899 die Stadt unter dem Benedik­tin­er­s­tift ver­schlun­gen und auf wun­der­liche Weise doch wieder freigegeben hätte. Zulet­zt hat­te sich 1954 ein Jahrhun­derthochwass­er ereignet; meine Tante erzählte, wie Wass­er in die Wohn- und Schlafräume ihres Haus­es gedrun­gen war, ein Ereig­nis, das auch meine Cousins nur aus Erzäh­lun­gen kan­nten, und das meine Groß­mut­ter, meine Tante und die anderen Erwach­se­nen zu ein­er Art Sagen­fig­uren machte.

Für mich bestand das Wesen des Hochwassers in Wasser­standsmeldun­gen und Wet­ter­vorher­sagen. Eben­so in den diversen Schätzun­gen, wie hoch die Donau ansteigen, und den Kom­mentaren, ob und welch­es Haus über­schwemmt wer­den würde. Meine Mut­ter erzählte uns, wie sich Nach­barn in die Haare geri­eten; weil der eine davon überzeugt war, dass sich die Donau wieder ver­fließen, der andere, dass sie aus den Ufern treten würde, daher der eine die Möbeln zu räu­men begann, und der andere ihn dafür ver­höh­nte. In diesen Tagen der Bedro­hung ent­bran­nte ein Wettstre­it, ein beson­der­er Eifer, auch eine unge­meine Besser­wis­serei, die in der Wachau um sich griff, und die ich von mein­er Mut­ter detail­re­ich geschildert bekam.

Trat dann die Donau tat­säch­lich aus den Ufern, und über­schwemmte sie tat­säch­lich das Haus mein­er Tante, brachen die Tele­fonate ab. Wir wussten, nun standen die Strom- und Tele­fon­leitun­gen unter Wass­er. Von nun an tappten wir im Dunkeln und bangten mit den Ver­wandten in der Wachau. Erst wenn die Donau wieder in ihr Fluss­bett zurück­gekehrt war, rief meine Tante erneut an und erzählte von den Krankheit­en durch die san­itäre Not, den Schä­den an Haus und Mobil­iar, und schließlich von den Aufräu­mungsar­beit­en und der Erschöp­fung, die sich bre­it­gemacht hat­te.

Was ich über die Hochwäss­er der Donau hörte, erschien mir so furchter­re­gend wie meinen Cousins unsere ober­steirischen Erzäh­lun­gen über die Schneemassen, die in manchen Win­tern Law­inen­abgänge bis in unser Dorf aus­lösten. Wann immer wir zusam­men kamen, rede­ten wir über die Bedro­hun­gen, die uns im einen Fall bewältig­bar und im anderen über­mächtig erschienen. Ja während meine Ver­wandten aus der Wachau mit den Hochwässern der Donau zurechtka­men und die Law­inen­abgänge entset­zlich fan­den, kamen wir mit den Schneemassen zurecht und fürchteten uns vor den Hochwässern.

Mehrere unser­er Ver­wandten lebten in Graz und in Wien. An kein­er­lei Naturkatas­tro­phen gewöh­nt, hat­ten sie von uns allen die größte Angst. Ihre Phan­tasie war durch und durch katas­trophal, ihre Angst wurde mit jedem Law­inen­ab­gang und jedem Hochwass­er, von dem sie hörten, nur noch größer. Sie hat­ten mon­ströse Vorstel­lun­gen von Wasser­massen, die alles ver­schlangen. So es ein­mal vorkam, dass sie sich in der Wachau aufhiel­ten, wenn die Donau bedrohlich zu steigen begann, pack­ten sie ihre Kof­fer und reis­ten ab. Ihre Angst vor dem Wass­er war so groß, dass sie den Gedanken, mein­er Tante und ihrer Fam­i­lie zu helfen, absurd fan­den. Meine Tante erwartete auch gar nicht, dass jemand aus Wien oder Graz tatkräftig zupack­en würde, wenn es darum ging, Hab und Gut aus den eben­erdi­gen Räu­men in die oberen Stock­w­erke und den Dachbo­den zu schaf­fen. Sie wink­ten ihnen fre­undlich hin­ter­her und ver­sicherten ihnen, sich nach dem Hochwass­er wieder bei ihnen zu melden.

So kam also ein Hochwass­er ein­er mythis­chen Zeit gle­ich, ein­er Zeitspanne, in der die Zeit still­stand, und in der die Fam­i­lie mein­er Tante wie unter Ver­schluss etwas Unsag­bares erlebte. Die Ver­wandten in Wien und Graz kon­nten sich gar nicht erk­lären, warum man in ein­er solchen Gegen­den lebte. Ja dass man es tat, galt ihnen als Beweis, dass ein Donau-Anwohn­er nicht nur in sein­er Lebensweise, son­dern in seinem ganzen Ver­standes- und Gefühlsleben anders als sie war. Sie hat­ten ihre Angst vor den Hochwässern und Law­inen­abgän­gen völ­lig verin­ner­licht, während wir Ober­steir­er und Wachauer uns zwar vor der jew­eils anderen Gefahr fürchteten, den Ablauf ein­er Katas­tro­phe aber ziem­lich gelassen hin­nah­men. Danach ver­gaßen wir zwar nicht, was geschehen war und was jed­erzeit wieder geschehen kön­nte, ja mit Sicher­heit wieder geschehen würde, lebten aber trotz­dem recht unbeschw­ert mit den Gefahren, die zum Ort gehörten, an dem wir lebten.

* * *

Als Jugendlich­er kam ich zweimal jährlich an die Donau, ein­mal mit meinen Eltern, im Spätherb­st oder zu Ostern, und ein­mal im Som­mer, den ich bei mein­er Tante ver­brachte. Ich fuhr mit meinem großen Brud­er in die Wachau, mit dem Zug, durch das Pal­tental und das Gesäuse und endlich in das flachere Voralpen­land hin­aus, vor­bei am Son­ntags­berg, der mir bedeutete, dass es nicht mehr lange dauerte, und endlich von Ybbs und Krumm­nuss­baum an ent­lang der Donau. In Melk eil­ten wir mit schw­eren Kof­fern vom Bahn­hof durch die Stadt hin­unter zur Anlegestelle und bestiegen dann endlich das Schiff der Donau­dampf­schiff­fahrts­ge­sellschaft, das uns bis zum Dorf brachte, wo meine Groß­mut­ter und die Fam­i­lie mein­er Tante lebten. Mir war der Blick von einem Berggipfel ins Tal ver­traut, er mochte imposan­ter sein als jen­er vom Schiff aus ans Ufer. Und doch fühlte ich hier auf dem Schiff eine Regung, die nur die Donau in mir aus­löste. Im Augen­blick des Able­gens, des Sich-Ent­fer­nens vom Ufer ent­stand ein tri­umphales Gefühl des Abschied­nehmens, genau dann, wenn das Schaufel­rad das Wass­er aufzuwühlen begann, und der Dampfer sich zur Flussmitte hin bewegte, das Horn ertönte, und sich die Land­schaft der Wachau an mir vor­bei bewegte. Die Land­schaft wank­te, während Wass­er bis zur Rel­ing, an der ich mich fes­thielt, her­auf spritzte. Ja eine bizarre Pati­na legte sich über die Hügel und Wälder und Obsthaine. Die Welt geri­et aus den Fugen, und es fühlte sich für mich an, als überkäme die Ufer ein Schwindel, ja als fiele die Land­schaft in Ohn­macht. Ich schaute zu den Häusern, und ich ver­lor den Boden unter den Füßen.

* * *

Ich kann nicht genau sagen, wie viele Hochwäss­er an der Donau ich inzwis­chen selb­st erlebt habe. Ich bin halb ein Law­inen­men­sch geblieben, halb ein Hochwasser­men­sch gewor­den. Das Haus in der Wachau, in dem ich seit zwanzig Jahren lebe, nicht weit weg von dem mein­er Tante, ste­ht unmit­tel­bar am Fluss. Ich kenne das Auf­pack­en der Möbel auf Kan­thölz­ern, das Wegschaf­fen der trag­baren Gegen­stände, das Aushän­gen der Fen­ster und Türen. Die große Aufgeregth­eit, die Sor­gen wegen der Schä­den, die Angst vor der Gewalt und Zer­störung, die Alp­träume, in denen die Welt auf apoka­lyp­tis­che Weise unterge­ht. Ich kenne die Hil­fs­bere­itschaft der Feuer­wehrfrauen und -män­ner, die die Straßen absper­ren, Sand­säcke her­bei schaf­fen, Möbel schlep­pen, Men­schen beruhi­gen, im Feuer­wehrhaus ein Hil­f­szen­trum ein­richt­en, Essen, Trinken und San­itäres austeilen; Men­schen und Hil­f­s­güter mit Booten hin- und her­führen, deren Haus keinen freien Zufahrtsweg mehr hat, und sich - wenn nötig - mit der Zille in Gefahren­zo­nen vor­wa­gen, wenn ein Unbelehrbar­er, der sich nicht evakuieren ließ, in Not gerät; und schließlich, wenn das Wass­er wieder zurück­ge­ht, den Schlamm aus dem Haus und der Ein­fahrt schaufeln, die Straßen und Böschun­gen reini­gen, beim Rück­räu­men helfen; und die ganze Zeit über den Opfern das Gefühl geben, nicht im Stich gelassen zu sein, wenn die Not am größten ist, sie trösten und ihnen zure­den, dass es nach über­standen­er Nacht wieder Tag wird.

Inzwis­chen bin ich selb­st Feuer­wehrmann; im Hochwasser­fall wie viele andere zugle­ich Opfer und Helfer, der zur Lagebe­sprechung ins Feuer­wehrhaus ein­rückt, das eigene Haus räumt und dann in den anderen Häusern hil­ft. Ich kenne die über­lagerten Gefüh­le, jene der Ohn­macht und jene der Ver­ant­wor­tung, kenne die Schlaflosigkeit des einen und die Erschöp­fung des anderen. Mir ist klar, wie sich die Hochwäss­er an der Donau verän­dert haben; dass sie heute zu jed­er Jahreszeit auftreten, oft schon nach weni­gen Tagen Regen; wie sie also heute blitzschnell entste­hen, aber auch rasch wieder abfließen, wie die Fließgeschwindigkeit der Donau schneller, die Gewalt des Wassers größer gewor­den sind. Ich glaube zu ver­ste­hen, wie die Rasanz der neuen Hochwäss­er mit dem Kli­mawan­del wie auch mit den Ver­bau­un­gen an der Donau zu tun hat; mit dem Wet­ter eben­so wie mit dem Zube­tonieren von Au- und Wiesen­flächen und wahrschein­lich auch den Hochwasser­schutzbaut­en, die errichtet wer­den.

* * *

Meine Donau ist heute keine kindliche Phan­tasie mehr, und ist es doch geblieben, mein Raum der Ferne. Wann immer ich am Fen­ster meines Haus­es unweit der Ruine Agg­stein sitze und auf das Wass­er schaue, füh­le ich mich mit der Welt ver­bun­den, sog­ar im tief­sten Win­ter, wenn alles men­schen­leer und ver­lassen wirkt in der Wachau. Mit den Schif­f­en, die aus dem Nebel auf­tauchen, an meinem Fen­ster vor­bei fahren und wieder im Nebel ver­schwinden, schweben meine Gedanken zu belebten Plätzen. Es kön­nte Wien sein oder Budapest, Bel­grad oder Ruse. Es kön­nten auch Plätze der Tiere sein wie die Auen von Hain­burg oder das Delta in Rumänien. Die Geschicht­en, die mir durch den Kopf gehen, sind nicht mehr so konkret wie in der Kind­heit. So am Fen­ster sitzend, entste­ht etwas in mir, das mich beruhigt. In Gedanken den Schif­f­en fol­gend, die wieder in den Nebel abtauchen, erschließt sich mir die Welt der Möglichkeit­en, die dieser Fluss verkör­pert. Es han­delt sich um einen bes­timmten Aggre­gatzu­s­tand, in dem ich voll­ständig beruhigt bin. Ja, die Donau ist für mich ein Möglichkeit­sraum.

* * *

Ich hat­te mir einge­bildet, dass ein Jahrhun­derthochwass­er nur ein­mal im Leben eines Men­schen passieren kann, es sei denn, er würde älter als hun­dert Jahre. Es wäre also nicht ein­mal gesagt, dass im Leben eines Men­schen, der an der Donau lebt, ein Jahrhun­dert­wass­er auftreten muss, vielmehr han­dle es dabei um ein Ereig­nis, das den Annalen gemäß etwas Unwahrschein­lich­es war, also in meinem Leben keine Rolle spie­len würde.

Inzwis­chen habe ich zwei Jahrhun­derthochwäss­er an der Donau erlebt, im August 2002 und im Juni 2013. Das erste Mal kam es über­fall­sar­tig. Nie­mand hat­te damit gerech­net, und die opti­mistis­chen Prog­nosen, die in diesen Tagen gegeben wur­den, bewahrheit­eten sich nicht. Man würde später von ein­er Flut sprechen, die aus Bay­ern zu uns in die Wachau kam, und die nie­mand aufkom­men sah. Daher hat­te kaum jemand rechtzeit­ig sein Haus geräumt, und wenn auch neben der Feuer­wehr auch das Bun­desheer aus­rück­te, waren die gewalti­gen Schä­den nicht mehr zu ver­hin­dern; Ben­zin floss in großen Men­gen aus, und auf den Öllachen schwamm das Hab und Gut aus den Häusern, zwis­chen Baum­stäm­men aus den Auen, die das Wass­er eben­so mit sich geris­sen hat­te.

Nicht nur die Häuser an der Donau, son­dern das halbe Dorf stand unter Wass­er. Meine Fam­i­lie war in Sicher­heit gebracht. Weit in das Hin­ter­land stand das Wass­er, im Rück­stau ein ruhiger See; die Feuer­wehrzillen bewegten sich an den Fen­stern der oberen Stock­w­erke ent­lang. Die Fahrt war riskant, da unter der graubraunen Wasser­ober­fläche Sträuch­er, Verkehrstafeln und Brück­en­gelän­der sein mussten. Draußen an der Donau war das Wass­er reißend, unpassier­bar, eine unglaubliche Naturge­walt, die in die Häuser drang, durch die offe­nen Fen­ster und Türen. Es reg­nete und es war nasskalt, und ein Ges­tank von Schlamm und Heizöl lag in der Luft.

* * *

Ein­mal stieg ich abends mit ein­er Stirn­lampe von der Berg­seite ins Haus ein, um nachzuse­hen, wie hoch das Wass­er im Haus stand. In den etwas tiefer gele­ge­nen Häusern war es bere­its in das obere Stock­w­erk gedrun­gen. Noch zehn Zen­time­ter, und alles, was wir nach oben geschafft hat­ten, alles was uns gehörte, würde von den Fluten ver­schlun­gen.

Ich kam von hin­ten ins Haus; hock­te an der im Hang, etwas höher gele­ge­nen Rück­seite, auf der ober­sten Stufe der Treppe. Das untere Stock­w­erk war bere­its unter Wass­er, bis zur Decke, in der Donau ver­schwun­den. Im schlam­mi­gen Wass­er, in dieser kalten Kloake, vergiftet, verseucht, das einen ohren­betäuben­den Lärm machte. Ich hock­te auf der ober­sten Stufe, in mein­er Feuer­wehrhose und den Stiefeln, und da ich das Wass­er in Gedanken bere­its in die Wohn­räume ein­drin­gen sah, kamen mir Trä­nen. Ich weinte. Dann fiel mir ein Ast auf, der vor mir im Wass­er schaukelte. Auf dem Ast saß eine Maus, zit­ternd, vor Panik starr. Ich hob sie auf, brachte sie hin­ter das Haus und klet­terte über den Hang zurück zur Anlegestelle, wo die Feuer­wehrzille auf mich wartete.

Eine Woche später saß ich wieder auf der Stein­bank vor dem Haus, auf der ich so oft in der Sonne gesessen, nun vor einem riesi­gen Loch, das unser Garten gewe­sen war. Die Strö­mung hat­te den Rasen die Erde mit sich geris­sen. Es stank nach Schlamm, und vor den Häusern lagerten Möbel, Maschi­nen, ganze Küchen, Fen­ster und Türen, alles, was das Wass­er zer­stört hat­te. Mit schw­erem Gerät scherten und schoben Feuer­wehr und Bun­desheer den Schlamm in die Donau zurück, und Frei­willige aus ganz Öster­re­ich verteil­ten Wass­er und Zahn­bürsten, Waschmit­tel und Gutscheine, die sie gesam­melt hat­ten.

Die Sonne schien. Es war August, ein heißer Tag, schwül; blick­te ich zum anderen Ufer hinüber, war da wieder der Charme ein­er Land­schaft am Fluss. Drei unser­er Nach­barn hat­ten sich dazu entschlossen, ihre Häuser aufzugeben und woan­ders hinzuziehen. Ich dachte mir, dass sie die Angst, die sie nun von der Donau wegtrieb, mit sich nehmen wür­den; wo immer sie lebten, wären sie ängstlich. Ich wollte Frieden schließen mit der Natur, die so viel Respekt ein­forderte: ger­ade so zer­störerisch gewe­sen war, und nun wieder friedlich. Das Haus liegt am Ufer der Donau, die mich eben die Tugend der Gelassen­heit lehrte. Es ging darum, im Fluss des Lebens zu verbleiben, wed­er helden­haft noch ängstlich. Ich schaute auf das Wass­er und wusste, dass ich bleiben würde.