Das Nadelöhr der Anarchisten oder Die gestohlene Zeit

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Am Anfang ste­ht gle­ich ein schiefes Bild. Und doch bin ich es nicht los­ge­wor­den. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reich­er in das Reich Gottes gelangt. Doch eher gelangt ein Reich­er in das Reich Gottes als drei Anar­chis­ten ins Wit­tels­bach­er Palais. Das Nadelöhr, es ste­ht hier auch für das geringe Aus­maß der Zeit, in der das Wun­der wirk­mächtig wer­den durfte, näm­lich ger­ade ein­mal sechs Tage. Vom 7. bis zum 13. April 1919. Ein kleines Loch in der Zeit also, durch das die drei staat­stra­gen­den Anar­chis­ten hin­durchgin­gen, mit diversen unortho­dox­en Gefol­gsleuten in ihrem Wind­schat­ten. Eini­gen dieser Men­schen bin ich hier auf ihren mäan­dern­den Wegen gefol­gt, nicht immer im gle­ichen Tem­po und nicht immer die gle­iche Strecke lang; mehr einem per­sön­lichen Mag­net­ismus gehorchend, ein­er sub­jek­tiv emp­fun­de­nen Anziehungskraft der Charak­tere – und ohne Anspruch auf Gerechtigkeit, was ihre his­torische Bedeu­tung bet­rifft.

II

„Hier kommt Lan­dauer“, soll er fortwährend gerufen haben, der Volks­beauf­tragte für Volk­saufk­lärung, „wenn er durch den Palast stolzierte.“ Der Paz­i­fist, Hölder­lin­lieb­haber, Walt-Whit­man-Verehrer Gus­tav Lan­dauer, fast zwei Meter groß, hager, schmales Gesicht mit weiß­drahtigem Bart, die Haare wie Farngewächse vom Kopf abste­hend – wie gut kann man ihn sich so hochge­mut schre­i­t­end vorstellen, wenn man ein­mal Bilder von ihm gese­hen, Zeilen von ihm gele­sen hat. Doch die Quelle ist nicht ganz zuver­läs­sig: der­jenige, der Lan­dauer so beschreibt, ist Kor­re­spon­dent des Chica­go Dai­ly Jour­nal und eben­so berühmt für seinen Erfind­ungsre­ich­tum wie für seine Zugaben zur Wahrheit. Als Drehbuchver­fass­er für fast alle Kul­tregis­seure des großen amerikanis­chen Kinos wird er später zur Hol­ly­wood-Leg­ende. Sein Name: Ben Hecht. Seine Zeitung schick­te ihn 1919 nach München, um über die unge­heuren Vor­fälle zu bericht­en.
Hecht behauptet, er habe Lan­dauer täglich inter­viewt. „Jedes bay­erische Kind im Alter von zehn Jahren ist dabei, Walt Whit­man auswendig zu ler­nen“, soll der Volks­beauf­tragte gesagt haben, „das ist der Eckpfeil­er meines neuen Erziehung­spro­gramms.“ Zweifel­los gab es auch andere: eine der ersten Amt­shand­lun­gen Lan­dauers war die Abschaf­fung der Prügel­strafe an Schulen.

III

Mr. Hecht war nicht die einzige ungewöhn­liche Verbindung Lan­dauers zur glam­ourösen Welt der Film­stu­dios. Mike Nichols, Regis­seur von Klas­sik­ern wie Wer hat Angst vor Vir­ginia Woolf, Die Reifeprü­fung oder Haut­nah wurde 1931 als Sohn von Brigitte Lan­dauer geboren. Und diese Frau war die Tochter von Gus­tav Lan­dauer und sein­er zweit­en Gat­tin Hed­wig Lach­mann.
Eine Liebe, die wie ein Film begann. Als hätte der Groß­vater einem Inter­view des Enkels gelauscht, das dieser ein­hun­dert­ne­un Jahre später gegeben hat­te. „Man muss die Liebe seines Lebens find­en!“ – diese Maxime hat­te Mike Nichols Nina Rehfeld von der Berlin­er Zeitung verkün­det.
Am 28. Feb­ru­ar 1899, zwanzig Jahre vor dem Ende, begeg­nete Gus­tav Lan­dauer in der Berlin­er Kun­st­ga­lerie Keller und Rein­er bei ein­er Ver­anstal­tung mit dem Lyrik­er Richard Dehmel ein­er Frau, deren Anblick ihn so gefan­gen­nahm, dass er es nicht wagte, sie anzus­prechen. Hed­wig Lach­mann, eine zier­liche Gestalt mit blau­gleißen­den Augen und fil­igra­nen, fast durch­sichti­gen Hän­den, war offen­bar Dehmels Beglei­t­erin. Umringt von Bewun­der­ern, par­lierte sie über jedes The­ma mit der gle­ichen Verve und Scharf­sichtigkeit, sei es Poli­tik oder Reli­gion, Poe­sie oder der neueste Stern am The­ater­him­mel. Noch in der gle­ichen Nacht begann Lan­dauer, ihr Briefe zu schreiben. Der erste enthielt eine ungeduldige Botschaft:
Wertes Fräulein, wer so vere­in­samt ist, wer sich so nach der Seele der Frau sehnt wie ich, wer eine so innige Zunei­gung gefasst hat wie ich zu Ihnen beim ersten Blick in Ihre Augen, der will nicht warten. (…)
Ich bitte Sie her­zlich: lassen Sie’s nicht schlimm kom­men.
Das Prob­lem war nur: er wusste nicht, wohin er seine Zeilen schick­en sollte. In einem Begleit­text an Hed­wig klagte er:
Im Adress­buch waren Sie nicht zu find­en, meine hiesi­gen Bekan­nten haben den Kürschn­er nicht, in den ver­schiede­nen Berlin­er Cafés, die ich um dessen­twillen auf­suchte, liegt es auch nicht auf, und zur Königlichen Bib­lio­thek war’s schon zu spät. Mor­gen gehe ich dahin, und finde ich Sie im Kürschn­er nicht, so muss ich’s mit dem Ein­wohn­er-Melde-Amt ver­suchen.
Erst Tage später erfährt er ihre Anschrift – aus­gerech­net von Richard Dehmel selb­st. Und so erre­ichen sie Sätze wie dieser:
Ich habe wieder, endlich wieder einen Men­schen, für den ich gewach­sen sein will.
(1.März).
Tags darauf geste­ht er ihr:
Mit einem Wort, wahr gesprochen: ich möchte Sie. Mit Ihnen reden und plaud­ern, Ihr Auge sehen, mich an ihrer Frische erfreuen, Ihr Fre­und sein kön­nen. Und Ihnen etwas sein kön­nen.
Die welt- und sprachge­wandte Frau - als Über­set­zerin von Alexan­der Petö­fi und Edgar Allan Poe hochgelobt - lässt sich vom Ton der Briefe verza­ubern, bleibt aber vor­sichtig. Am 14. März kommt es zum ersten Tre­f­fen.
Lan­dauer schreibt in der fol­gen­den Nacht:
Was soll ich noch mehr sagen? Ich weiß seit der Stunde, wo ich Sie gese­hen habe, daß ich Sie und mich gräulich bel­o­gen habe. Ich werde um Ihretwillen alles lassen, ob Sie sich mir neigen oder nicht. Ich wusste bis zu dieser Nacht nicht, wie unreif ich war. Ich bin eine Stufe höher gestiegen. Sie sind mit Leib und Seele mein Schick­sal.
Nur langsam nähert sich Hed­wig Lach­mann dem um vier Jahre jün­geren Mann an, der wegen sein­er anar­chis­tis­chen Posi­tio­nen meist mit einem Fuß im Gefäng­nis ste­ht und trotz der Zer­rüt­tung sein­er Ehe for­mal auch noch ver­heiratet ist. Die patri­ar­chalen Struk­turen bei­der Fam­i­lien und die gesellschaftlichen Zwänge ver­hin­dern zunächst ein gemein­sames Leben. Lan­dauers Zuver­sicht bleibt jedoch unge­brochen:
Das Wun­der­volle ist das let­zte Glück für mich, das höch­ste; soll es nicht sein kön­nen, dann begehre ich wahrlich keines mehr.
(…)
Ich habe das schöne Gefühl, weil Sie mir so sehr lieb sind, dass auch ich Ihnen tiefes Glück werde brin­gen kön­nen. Wir sind kein Paar, wir sind Pares. Wir sind nicht zwei arm­selige Hälften, denen nichts als die Lei­den­schaft gebi­etet, sich zu vere­ini­gen, und die dann doch immer auseinan­derk­laf­fen; wir sind zwei Eben­bür­tige, die – so glaube ich – zu einan­der wollen, um zusam­men zu gehen.
(10. Mai)
Zwei Eben­bür­tige, in der Tat. Lan­dauer schickt ihr – darin ehrgeizigen Poet­en von heute nicht unähn­lich – sehr bald eigene Werke. Unver­langt einge­sandte Manuskripte, wür­den es die Ver­leger in unser­er Zeit wohl nen­nen.
Die Erwiderung Hed­wigs ist ver­schollen, aber der Antwort­brief Gus­tavs strotzt nur so vor schalkhaften Neck­ereien. Offen­bar hat die Nov­el­le, die er ihr hat zukom­men lassen, der Gefährtin nur miss­mutige Zeilen ent­lockt.
Lan­dauer reagiert aber nicht belei­digt, son­dern in ein­er Weise aufgekratzt, dass man meinen möchte, jeglich­er intellek­tuelle Aus­tausch mit dieser Frau sei ihm ein Fest:
Und nun komme ich nach Hause, finde Ihren Brief, und der ist so kratzbürstig und unver­ständig, dass ich jubeln möchte! Denn ich freue mich, dass dieser Wider­stre­it mein­er starken Verehrung vor ihrem gefesteten, run­den, in sich geschlosse­nen Wesen nicht das Min­deste anhab­en kann, und mein­er treuen Anhänglichkeit – ich zwinge mich, mat­te Worte zu brauchen – erst recht nicht.
Daraus spricht gle­ichzeit­ig eine Hingabe an die geisti­gen Fähigkeit­en seines Gegenübers als auch eine gehörige Por­tion Selb­st­be­wusst­sein. Ein paar Zeilen weit­er heißt es:
Nun, hal­ten Sie’s nur nicht für Eit­elkeit, wenn ich mich Ihrem Urteil ganz und gar nicht beuge.
Im Fol­gen­den zitiert Lan­dauer Gle­ich­gesin­nte, die den fraglichen Tex­ten mehr abgewin­nen kon­nten, unter anderen Fritz Mau­th­n­er, und schlägt vor, Richard Dehmel als Schied­srichter einzuset­zen. Aber es muss geheim bleiben: Natür­lich wird kein­er von bei­den ihm über die Ver­an­las­sung zu dieser Bitte etwas mit­teilen. Ein­ver­standen?
Diese Ver­spieltheit, die den anderen auf die Schaufel nehmen kann und trotz­dem jede kri­tis­che Äußerung ern­sthaft erörtert, war eine der typ­is­chen seel­is­chen Übereinkün­fte zwis­chen den bei­den, eine geistige Spiel­regel, die zu brechen eine Nieder­lage bedeutet hätte. Am Ende des Briefes hört man Lan­dauer ger­adezu seufzen:
Uns bei­den kann wirk­lich nichts helfen als unsere Ehe!
(15. Mai)
Doch soweit ist es noch nicht. Im August 1899 muss Lan­dauer eine hal­b­jährige Haft wegen ver­leumderisch­er Belei­di­gung der Obrigkeit im Strafge­fäng­nis Tegel antreten. Aus der Anstalt schreibt er an Hed­wig:
… wie ich beglückt bin, dass Sie mir da sind. Wenn ich wieder frei werde, wird es fast ger­ade ein Jahr her sein, dass all mein Leben an Sie gebun­den ist.
Erst viele Monate nach dem Tod bei­der Väter, im Feb­ru­ar 1901, entschei­det sich Hed­wig Lach­mann für eine Zukun­ft mit Gus­tav Lan­dauer. In den Wäldern um Krum­bach schließen die bei­den ihr Herzens­bünd­niß, das bis zu Hed­wigs Tod andauern sollte. Für Gus­tav bis zu seinem eige­nen.

IV

1902 zieht das Paar nach Eng­land, find­et eine Woh­nung in Brom­ley, etwa 30 km von Lon­don ent­fer­nt. Die Nach­barschaft ist schillernd: Peter Kropotkin, Fürst und Anar­chist, wohnt ums Eck. Seine Schriften wird Lan­dauer später über­set­zen. Zwei Häuser weit­er lebt Fer­nan­do Tar­ri­da de Már­mol, eben­falls Anar­chist, der 1896 Spanien fluchtar­tig ver­lassen hat­te. Auch mit ihm fre­un­den sich Lach­mann und Lan­dauer an. Die illus­tre Umge­bung inspiri­ert bei­de; am Ende scheit­ert das Pro­jekt Lon­don am Geld. Im Früh­jahr 1902 kehren sie nach Deutsch­land zurück.
Nach der Schei­dung von sein­er ersten Frau heiratet Lan­dauer Hed­wig Lach­mann am 18. Mai 1903. Ein reich­es gemein­sames Werk entste­ht, Über­set­zun­gen von Balzac, Rabindranath Tagore, Sir Tomas Mal­o­ry. Lach­manns Nachdich­tung von Oscar Wildes Salome erscheint 1903. Richard Strauß inspiri­ert diese Fas­sung zu sein­er gle­ich­nami­gen Oper. „Die Melo­di­en rauscht­en in mir auf!“ schreibt er nach der Lek­türe. Am 9. Dezem­ber 1905 wird Salome an der Dres­d­ner Sem­per­op­er uraufge­führt.
Im sel­ben Jahr war auch Brigitte geboren wor­den, die zweite Tochter von Hed­wig und Gus­tav. Die Fam­i­lie lebt in Herms­dorf, einem Vorort Berlins, in kar­gen Ver­hält­nis­sen. Lan­dauer arbeit­et vorüberge­hend in ein­er Buch­hand­lung, ver­lässt jedoch bald die Stelle, da er sie als mas­sive Ein­schränkung sein­er Schrift­stellertätigkeit wahrn­immt. Er verd­ingt sich als Salonred­ner, was sein Fre­und Ste­fan Groß­mann so kom­men­tiert:
„Lan­dauer, geschaf­fen zum großen Uni­ver­sität­slehrer, musste die Fülle seines uni­versellen Wis­sens vor Damen auss­chüt­ten, die von Tee zu Tee klap­perten und plap­perten, wenn er mit Frau und Kindern nicht ganz ver­hungern wollte.“
Doch die lit­er­arische und die poli­tis­che Arbeit gedei­hen. Im Juni 1908 grün­det Lan­dauer den Sozial­is­tis­chen Bund. Dessen Zwölf Artikel schreibt er am 14. Juni nieder. Als Ziel der Bestre­bun­gen nen­nt Artikel 4 die Anar­chie im ursprünglichen Sinne: Ord­nung durch Bünde der Frei­willigkeit. Drei Jahre später erscheint der viel beachtete Aufruf zum Sozial­is­mus. Auch hier zeigt sich: Lan­dauers Konzept ist föder­al­is­tisch – die Anar­chis­ten wür­den sagen: syn­dikalis­tisch – angelegt: an die Stelle des zen­tral­is­tis­chen Staates solle ein Gemein­we­sen von Gemein­schaften von Gemein­den treten. Von kom­mu­nis­tis­chen Ide­olo­gien ist dieser Entwurf weit ent­fer­nt. Der Marx­is­mus ist der Philis­ter, und der Philis­ter ken­nt nichts Wichtigeres, nichts Großar­tigeres, nichts, was ihm heiliger ist als die Tech­nik und ihre Fortschritte. Für Lan­dauer hinge­gen wird der Umschwung nicht von den Philis­tern und Zeitgenossen und also nicht, was das­selbe heißt, von den gesellschaftlichen Prozessen besorgt, son­dern von den Ein­samen, Abgeson­derten, die eben darum Abgeson­derte sind, weil in ihnen Volk und Gemein­schaft wie zu Hause, wie mit ihnen geflüchtet sind.

V

Mike Nichols enthüllt im Inter­view mit der Berlin­er Zeitung weit­ere aufre­gende Facetten rund um seinen Groß­vater:
Sein bester Fre­und entkam, machte seinen Weg in die USA, nach San­ta Fe, änderte seinen Namen in B. Tra­ven und schrieb „Der Schatz der Sier­ra Madre“ – was für eine Akkli­ma­tisierung an ein neues Land! Ich glaube, das ste­ht stel­lvertre­tend für jene emi­gri­erten deutschen Juden, die Kün­stler waren und die Vere­inigten Staat­en ger­adezu aus­mal­ten, eine ganze Kul­tur schufen. Es ist eine Kul­tur wie in „Casablan­ca“ – alles Flüchtlinge, Flüchtlingsideen, Flüchtling­shu­mor: „Liebchen, which watch? – Ten watch. – Such much!“
Nun war jen­er B. Tra­ven, den Nichols als besten Fre­und Lan­dauers beze­ich­net, eine der geheimnisvoll­sten Fig­uren der Lit­er­aturgeschichte. In der aktuellen Lan­dauer-Biografie von 2020 wird er mit keinem Wort erwäh­nt. Bis heute ist seine wahre Iden­tität nicht zweifels­frei gek­lärt. Wahrschein­lich ist: unter dem Namen Ret Marut war er Her­aus­ge­ber ein­er der wider­spen­stig­sten Zeitschriften, die je das Licht der Münch­n­er Pressewelt erblickt hat­ten. 1917 erschien Der Ziegel­bren­ner zum ersten Mal, schmal und rot, mit dem Unter­ti­tel Kri­tik an Zustän­den und wider­wär­ti­gen Zeitgenossen. Da die deutsche Leser­schaft alles andere im Sinn hat­te, als sich ihre Kriegsver­her­rlichung durch paz­i­fistis­che Zwis­chen­rufe madig machen zu lassen, gren­zt es an ein Wun­der, dass die Pub­lika­tion die Zen­sur passieren kon­nte. Oskar Maria Graf, der 1919 mit der Rätere­pub­lik sym­pa­thisierte, ohne selb­st in Gefahr zu ger­at­en, erzählt dazu eine sein­er zahlre­ichen (und nicht immer beleg­baren) Anek­doten. Ret Marut habe der Behörde schlicht erk­lärt, bei sein­er Pub­lika­tion han­dle es sich um eine Mau­r­erzeitschrift, die sich mit Prob­le­men und Anliegen der Zun­ft beschäftige. Erst nach Bewil­li­gung habe der Autor die Texte aus­ge­tauscht. Während also die halbe Welt mit der Effizienz des Tötens beschäftigt war, schick­te Ret Marut an ein hand­ver­lesenes Pub­likum eine flam­mende Anti-Kriegs-Revue, die dem Furor der Fack­el von Karl Kraus in nichts nach­stand. „Nicht der Staat ist das Wichtig­ste“, kon­nte man im Ziegel­bren­ner lesen, „son­dern der Einzel­men­sch.“ Und: „Gedenkt der blu­ten­den Män­ner und Söhne!“

VI

Lan­dauer wen­det sich schon lange vor 1914 vehe­ment gegen die all­ge­gen­wär­tige mar­tialis­che Pro­pa­gan­da. Anfang 1911 veröf­fentlicht er einen Aufruf zum Gen­er­al­streik gegen die Kriegs­ge­fahr. Hält Reden, ver­sucht, Überzeu­gungsar­beit zu leis­ten. Er entwirft ein Flug­blatt, das aber vor Druck­le­gung von den Behör­den gestoppt wird. Sein Titel: Die Abschaf­fung des Krieges durch die Selb­st­bes­tim­mung des Volkes. Hed­wig ste­ht an sein­er Seite, teilt seine Überzeu­gung.
Als der Krieg los­bricht, wer­den auch bis dahin besonnene Geis­ter vom Taumel des Nation­al­is­mus erfasst. Selb­st der son­st so kri­tis­che Richard Dehmel ver­fällt ihm. Mit 51 Jahren meldet er sich frei­willig zum Mil­itär­di­enst und lässt sich stolz in Sol­date­nuni­form fotografieren. Hed­wig Lach­mann been­det daraufhin die Fre­und­schaft. „Das Kriegeride­al“, schreibt sie, „ist ein abgelebtes, geis­tent­blößtes, gespen­stis­ches, das in die mythol­o­gis­che Rumpelka­m­mer gehört, nicht in unser schönes, welt­freudi­ges, lieb­warmes Leben.“ Den Kriegshym­nen der Kol­le­gen stellt sie ihre Empathie mit den Opfern ent­ge­gen:

Preist ihr den Helden­lauf der Sieger, schmückt
Sie mit dem Ruhmeskranz, Euch dran zu wei­den –
Ich will indessen, in den Staub gebückt,
Erniedri­gung mit den Besiegten lei­den.
(…)
Weit lieber doch besiegt sein, als ver­führt
Von eitlem Glanz, und, wenn auch am Ver­schmacht­en,
Und ob man gle­ich den Fuß im Nack­en spürt –
Den Sieger und das Siegerglück ver­acht­en!

Nur ganz wenige Zeitgenossen vertreten noch diese Hal­tung. Auch der langjährige Ver­traute Fritz Mau­th­n­er hat sich auf die Seite der Patri­oten geschla­gen. Lan­dauer knüpft Verbindun­gen zum Bund Neues Vater­land, der bedeu­tend­sten in Deutsch­land ent­stande­nen Vere­ini­gung zur Völk­erver­ständi­gung. Ihr Ziel ist es, auf die Beendi­gung des Krieges hinzuar­beit­en. Eines der Grün­dungsmit­glieder lernt Lan­dauer in Berlin ken­nen: Albert Ein­stein.
Und ein alter Fre­und hält unver­brüch­lich an sein­er paz­i­fistis­chen Weltan­schau­ung fest: der öster­re­ichis­che Anar­chist und Dichter Erich Müh­sam. Die Fre­und­schaft wäre beina­he an einem Stre­it zer­brochen, der sich an einem Lieblings­the­ma bei­der Män­ner entzün­det hat­te: Die Liebe in befre­it­en Zeit­en. Während Müh­sam alle For­men der freien Liebe begrüßte und mit einem homo­sex­uellen Fre­und quer durch Europa reiste, regte sich in Lan­dauer ein ver­schüt­teter altväter­lich­er Geist und ver­lieh seinen Schriften zu Ehe und Fam­i­lie einen Anflug von Prüderie. Für ihn war die selb­st­gewählte, von gegen­seit­iger Liebe geprägte het­ero­sex­uelle Ehe, der freie Bund fürs Leben, das Maß aller Dinge. Das hät­ten Müh­sam (und andere lib­ertär denk­ende Men­schen in seinem Kreis) wohl mit einem Schmun­zeln zur Ken­nt­nis genom­men, doch Lan­dauer wurde, wenn es um Homo­sex­u­al­ität und Promiskuität ging, von einem big­ot­ten Engel gerit­ten und nan­nte diese For­men der Liebe eine kul­tur- und würde­lose Schweinerei. Seine eigene außere­he­liche Beziehung mit der Aktivistin Mar­garethe Faas-Hard­eg­ger hat­te er bei diesem Urteil allem Anschein nach aus­ge­blendet.
Trotz allem: die Män­ner ver­söh­nen sich, auch wenn Müh­sam sich eine Zeit­lang rar macht.
Eines Tages, so schildert es die Tochter Brigitte, ste­ht ein ver­wahrloster, „zer­lumpter“ Mann vor der Tür des Haus­es in Herms­dorf. „Ein Bet­tler“, ver­mutet sie. Als Lan­dauer des Mannes ansichtig wird, bricht er in Gelächter aus:
„Aber Brigitte, das ist doch der Müh­sam!“

VII

Wollte man jeman­dem bin­nen Sekun­den vor Augen führen, wer Erich Müh­sam war, man kön­nte ihm eine kleine Zeich­nung zeigen. Es ist ein Ein­trag in das Gäste­buch Artur Kutsch­ers, eines Lit­er­atur- und The­ater­wis­senschaftlers, in dessen Sem­i­naren neben Müh­sam auch Frank Wedekind oder Johannes R. Bech­er gern gese­hene Teil­nehmer waren.
Nichts als eine kleine Selb­stkarikatur. Doch in ihr bün­delt sich in ein paar Strichen der Schalk, die Selb­stironie und der Witz dieses Mannes, den Oskar Maria Graf beein­druckt so beschrieb:
Der dichte, zerzauste Schnur­rbart und die lan­gen Haare erweck­ten den Ein­druck, als sei sein Kopf viel zu groß und zu schw­er. Er sprach geschwind, außeror­dentlich bild­haft, mitunter sehr sarkastisch, und als er gegen die Beteili­gung des Arbeit­ers am Krieg und für die Ver­weigerung des Mil­itär­di­en­stes sprach, horchte ich auf.
Auch viele Porträts Müh­sams zeigen diesen markan­ten Kopf, das klas­sis­che Kon­ter­fei eines wilden Intellek­tuellen mit schar­fem Blick hin­ter dem Zwick­er. Doch das kleine Selb­st­por­trait? Nichts als Striche, alle leicht nach rechts geneigt, hinge­fet­zte Schraf­fierun­gen, oben die zu Berge ste­hen­den Bleis­tifthaare, unten der etwas heller zu Boden ragende, ein wenig heller gestrichelte Bleis­tift­bart. Dazwis­chen kein Raum für ein Gesicht, nur zwei kleine miteinan­der ver­bun­dene Kreise für die Brille und ein Punkt für den Mund. Die Sil­hou­ette des Kör­pers eine halbe, senkrecht ste­hende Ellipse, die mit ihrer oberen Krüm­mung die Schädeldecke bildet. Geze­ich­net Erich Müh­sam, 22.XI.12. Ein Schelm blickt uns an, kein­er, der sich selb­st zu ernst nimmt. Ein­er, der sich als Bänkel­sänger im Sim­pli­cis­simus wohlfühlt, nicht als staat­stra­gen­der Volks­beauf­tragter. Seine Gle­ich­gesin­nten benen­nt er schon 1906 in der Fack­el: Ver­brech­er, Land­stre­ich­er, Huren und Kün­stler – das ist die Bohème, die ein­er neuen Kul­tur die Wege weist.
Es existiert noch ein zweites Bild, das eine ver­gle­ich­bare Kraft ent­fal­tet, obwohl es sich von dem oben beschriebe­nen diame­tral unter­schei­det. Es stammt aus dem Jahr 1904. Auf der linken Bild­seite ergießt sich ein Wasser­fall von ein­er Anhöhe ins Tal, die Luft ist dun­stig. Ein junger Men­sch, Knabe oder Mäd­chen ist nicht klar erkennbar, hantiert mit einem Stock oder Speer, als wollte er etwas aus dem Wass­er fis­chen oder einen höher gele­ge­nen Ast erre­ichen. Daneben, mit ver­schränk­ten Armen, ein nack­ter, glatzköp­figer Mann. Rechts von den bei­den und weit­er im Vorder­grund erken­nt man einen Stapel Brennholz und darauf etwas, das der obere Teil eines Mühlrads sein kön­nte. Darauf sitzt, ruhig wie ein Frei­heit­sen­gel, die Beine übere­inan­dergeschla­gen, die Hände auf die Knie gelegt, ein bär­tiger Mann. Eben­falls nackt. Erich Müh­sam. Das Foto zeigt ihn in Ascona im Schweiz­er Tessin, genauer am Monte Ver­ità, ein­er nach syn­dikalis­tis­chen Prinzip­i­en geformten Lebens- und Arbeits­ge­mein­schaft. Gegrün­det hat­ten die Sied­lung die Brüder Gus­to und Karl Gräs­er; bald fol­gten ihnen namhafte Besuch­er auf den Berg, über dessen Bewohn­er immer aben­teuer­lichere Gerüchte kur­sierten. Fürst Peter Kropotkin kam auf Besuch – und Otto Gross, der ungestüme, geniale Psy­cho­an­a­lytik­er, der die Lehre Freuds mit den Reformideen Fouri­ers verknüpfte und für ein rev­o­lu­tionäres Matri­ar­chat kämpfte. Alle­samt schillernde, den Behör­den nicht ganz geheure Gestal­ten. Während des Krieges fan­den dort Wehr­di­en­stver­weiger­er und Flüchtlinge, Wider­stand­skämpfer und Bohemièns Unter­schlupf, von Hans Arp bis Emmy Hen­nings, von Hugo Ball bis Ernst Bloch. Das war genau die Umge­bung, die für einen wie Müh­sam anre­gend und belebend hätte wirken kön­nen. Rasch fre­un­dete er sich mit den Brüdern Gräs­er an, ver­sprach sog­ar, Karls Schriften her­auszugeben. Doch sein unsteter Geist ließ län­gere Aufen­thalte am sel­ben Ort nicht zu; manche sagen auch, die rein veg­e­tarische oder rohe Kost seien nicht ganz nach seinem Geschmack gewe­sen. Müh­sams Wan­der­schaft führt ihn schließlich mit­ten hinein in die Münch­n­er Kun­st­szene. Dort begin­nt er eine Lieb­schaft mit ein­er der erstaunlich­sten Frauen der dama­li­gen Zeit. Franziska Gräfin zu Revent­low hat mit allen Kon­ven­tio­nen gebrochen, sich vom reichen Eltern­haus los­ge­sagt, propagiert die freie Liebe und fordert für die Frauen wirtschaftliche Unab­hängigkeit, sex­uelle Emanzi­pa­tion und die Unab­hängigkeit von christlichen Moralvorstel­lun­gen. Diese Frau und der feuerköp­fige Anar­chist: Ein paar Wochen lang waren sie das Traumpaar der Münch­n­er Mod­erne.
Bei einem ver­schwörerischen Tre­f­fen im Hause des Lit­er­aturhis­torik­ers Carl Georg von Maassen lernt Müh­sam Zen­zl Elfin­ger ken­nen und heiratet sie im Sep­tem­ber 1915. Der Schrift­steller Mar­tin Ander­son Nexö beschreibt einen Besuch bei den bei­den:
In dem hohen Miet­shaus in der Münch­n­er Geor­gen­straße hausten hoch unter dem Him­mel als zwei freie Vögel Erich und Zen­zl Müh­sam. Ihr Geist war eben­so rev­o­lu­tionär wie sein­er.
Auch hier also: zwei Eben­bür­tige.

Dieser Text ist ein kurz­er Auszug eines Essays, der 2022 im Lim­bus-Ver­lag erscheinen wird.