Etwas liegt in der Luft

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Etwas liegt in der Luft, ein Stock­en, als glaubte kein­er mehr an kom­mende gute Zeit­en. Als würde jed­er Gedanke an ein­er dun­klen Wand ver­dor­ren. Als würde jedes Leben in erodiert­er Erde ver­löschen.

Wir tra­gen solche Bilder in uns, jed­er, der die Bilder der Krise kon­sum­iert, die in Echtzeit um die Erde jagen. Wir sehen diese Bilder, diese Bilder sehen uns, während wir mit Fre­un­den in schön beleuchteten Gast­gärten sitzen, in kli­ma­tisierten Hochgeschwindigkeit­szü­gen durch die Land­schaft jagen, während wir dig­i­tal über­all zugle­ich sind, und doch erfahrungsarm.

Krise war immer. Tod und Grausamkeit, Krieg und Elend waren immer. Doch so wenig Hoff­nung, so wenig Mor­gen, so wenig Auf­bruch wie jet­zt in diesem unserem müden Wes­teu­ropa waren lange nicht mehr. Oder ist ein solch­er Satz nur eine weit­ere von vie­len Mut­maßun­gen, halt­los wie alles in unser­er Zeit?
Halt­los, wo und für wen? Der West­en, unser West­en ist müde, sagte ich. Müdigkeit trübt den Blick. Denn draußen, weitab von unseren müden Augen, von den müden Augen der­er, die das Priv­i­leg haben, nicht so nah an der Gewalt der Ver­hält­nisse zu sein, daß sie deren Grausamkeit an ihrer eige­nen Haut zu spüren bekä­men (denn dann wären sie nicht müde, son­dern in Alarm­bere­itschaft) – denn draußen, wo Men­schen von der ganzen Wucht der Zeit­en­wende, die sich ger­ade vol­lzieht, getrof­fen wer­den, da bleibt keine Zeit für Müdigkeit.

Für unser dig­i­tales Auge scheinen viele Wel­tun­tergänge gle­ichzeit­ig stattzufind­en. Doch in der realen Welt, an den Rän­dern, wo ver­lorene Schat­ten über in der Hitze flim­mernde Ödzo­nen wanken, dort geschieht Wirk­lichkeit? Ja, aber auch diese schwank­enden Schat­ten ver­fol­gen über ihr Smart­phone live die schwank­enden Schritte ander­er Schat­ten am anderen Ende der Welt. Während­dessen sprechen irgend­wo in der Ersten Welt gegen ein kleines feines Hon­o­rar ein paar kluge Köpfe vor Mikro­fo­nen über die Kun­st des Scheit­erns, als wäre es der let­zte Schrei, die cool­ste Sache über­haupt, zu scheit­ern.

Schreiben: im eige­nen Kos­mos Ord­nung her­stellen, notierte ich. Doch kön­nte es nicht auch sein, daß Schreiben ein Weg ist, von sich selb­st abzuse­hen und sich der Welt da draußen hinzugeben, oder zumin­d­est dem, was sich auf unser­er Net­zhaut als Welt abbildet, als Aneig­nung von Welt.

Wenn Hegel die Wahrheit der Sinnlichen Gewißheit („Das Jet­zt ist die Nacht“) im Jahre 1806 noch in der Spi­rale des auf­steigen­den Geistes aufheben kon­nte, bis zum „absoluten Wis­sen“ in der „Schädel­stätte des absoluten Geistes“ – so bleibt uns Heuti­gen kaum noch das Stück­w­erk, die Trüm­mer dessen, was von der „Schädel­stätte“ übrig­blieb; nicht ein­mal mehr das, da doch das begrif­fliche Denken selb­st in Mißkred­it und Schieflage ger­at­en ist. Bleibt uns also das wort­lose Glotzen auf die schö­nen Schnapp­schüsse aus ein­er besseren Insta­gram-Welt, son­st nichts?

Neulich, spät nachts an ein­er Wiener Tankstelle, erzählte mir der griechis­che Tankwart von seinem Leben hier: „Ich bin seit vier Jahren hier. Ich muß sagen, alles funk­tion­iert her­vor­ra­gend, die Straßen­bah­nen fahren, die Autos bleiben bei Rot an der Ampel ste­hen. Aber son­st? In Deutsch­land, in Öster­re­ich kann man nicht leben, man wird schw­er­mütig! Bei mir zu Hause in Thes­sa­loni­ki ruft der Nach­bar schon von weit­em „Wie geht es Dir?“. Man nimmt Anteil aneinan­der, man küm­mert sich umeinan­der! Hier kannst Du nur ster­ben. Zwei junge Mäd­chen kom­men nachts um drei betrunk­en in meine Tankstelle. Ich frage: Wo sind die Eltern dieser Mäd­chen? Küm­mert sich nie­mand? Meine Kinder waren für zwei Monate in Wien, das hat ihnen gere­icht. Sie haben gesagt: „Papa, hier kann man nicht leben, wir gehen zurück nach Griechen­land.“ Und ich gehe jet­zt auch zurück, mir reicht es.“

In einiger Zeit, wenn sich der Staub des Jet­zt gelegt haben wird, wer­den wir diese Jahre klar­er sehen kön­nen. Freilich nützt uns das im Augen­blick der Krise nichts, und es ist uns auch wenig Trost zu wis­sen, daß jede Epoche ihre Krisen hat­te und Gen­er­a­tio­nen vor uns durch weit härtere Zeit­en gegan­gen sind. Doch waren diese Zeit­en damals auch von solch­er Unschärfe, von soviel aufgewirbel­tem Staub gekennze­ich­net? Ganz gewiß, nur die Art des Staubs hat sich verän­dert. Verän­dert hat sich vor allem die mul­ti­per­spek­tivis­che Präsenz von Sig­nalen aller Art, die auf jeden, der Zugang zum Inter­net hat ein­stür­men. Jed­er hat Zugriff auf Zeug­nisse, Post­ings und fake news aller Art. Es ist eine Kako­phonie der Aufgeregth­eit, eine per­ma­nente Über­s­teuerung, die davon ablenkt, daß hin­ter dieser Lärmkulisse tat­säch­lich Kräfte am Werk sind, die man in alten Zeit­en vielle­icht dämonisch genan­nt hätte. Hin­ter all dem Lärm um Gen­derg­erechtigkeit, Diver­sität und die Ret­tung des Weltk­li­mas drehen starke Kräfte (mit Unter­stützung von Net­zw­erken, die auch die sozialen Medi­en unter­wan­dern) am Rad der Geschichte.
Etwas liegt in der Luft. Kann das alles noch gut gehen? Das haben sich wahrschein­lich Men­schen jed­er Gen­er­a­tion gefragt, und während sie nach ein­er Antwort sucht­en, set­zten andere die Mark­steine, die dann die Welt aller bes­timmten.

Als Schreiber gehöre ich zu denen, die, um diese Welt auszuhal­ten, unter der Schranke des Sicht­baren durch­schlüpfen, mit einem Augen­schließen ein­tauchen in die andere Welt, in die Welt der inneren Bilder.