Man kann es nur falsch machen

Die sieben Todsünden der Literatur

Von

1. Sich entschuldigen

Entschuldigung, dass ich jetzt was sage. Also entschuldigen Sie, dass ich hier so das Wort ergreife, ich wollte hier nicht so hereinplatzen, ich wollte mich hier nicht so ausbreiten, aber das, was ich eben gesagt habe, war gar nicht so gemeint. Also das kam jetzt schärfer rüber, das wollte ich nicht so formuliert haben, man weiß ja, wie alles hier sofort falsch zugeordnet wird, also ich wollte mich nicht dieser einen Seite zugeschlagen wissen, ich wollte auch nicht die andere bedienen, Sie müssen das ja falsch auffassen, was ich hier sage. Ich muss Ihnen erklären, wie ich dazu komme, also das könnten Sie sonst in die falsche Kehle bekommen, durch die richtige, da spazieren nur immer die anderen, die, denen man zuhört, weil sie sich nicht immer erklären. Die, die gleich umkommen werden vor Lachen, wenn sie mir zuhören, aber das Lachen wird ihnen schon vergehen. Nein, wird es nicht. Wissen Sie, das war jetzt nicht so gemeint. Das kam jetzt ein bisschen scharf rüber, und scharf wollte ich schon mal gar nicht sein, eher unscharf, eher in der Unschärfe bleibend, zurück.

Der Lust am Text, jenem schönen Buch von Roland Barthes, das durch Generationen von Literaturstudierenden weitergereicht wurde, ist ein merkwürdiges Zitat des Philosophen Thomas Hobbes vorangestellt: „Die einzige Passion meines Lebens war die Angst.“ Merkwürdig schon aus dem Grund, weil es in der Folge gar nicht um die Angst als Passion geht, sondern eher im Gegenteil um die Überwindung jeder Angst, um die Kunst, sich nicht erklären, sich niemals entschuldigen zu müssen. Ich habe die Kunst immer sehr schlecht beherrscht, im Schriftlichen habe ich diesen Hang zur Entschuldigung zumindest teilweise abstreifen können, der speziell uns Frauen eintrainiert wird von klein an, im Mündlichen habe ich mich immer weiter entschuldigt, eine durch und durch verhaftete Geste. Kopf einziehen, ich habs ja nicht so gemeint, ich erkläre mich, ich zeige mein Tun her im Modus der Bereitschaft, mich stets und immer zu revidieren, mich anzupassen. Der Fluchtmodus eben. Im Schriftlichen kam ich dieser Kunst, mich nicht zu erklären weitaus näher, das Schriftliche war meine Rettung, durch das Schriftliche konnte ich auch jede Menge Mündliches ziehen. Es war sozusagen auch ein wenig dazu da, das Mündliche zu retten, es geradezurücken, nein, es wieder krumm zu machen, ganz wie man die Sache betrachten mag.

Eine kürzlich erfolgte ORF-Sendung mit dem Titel Punkt eins sollte mir das nochmal klar machen, „sehr viel bist Du in all den Jahren nicht weitergekommen in Sachen Entschuldigung und Selbsterklärung.“ – „Ja, ich lasse mir noch immer die verrücktesten Fragen stellen und versuche sie obendrein zu beantworten.“ Welche Konzepte meine Literatur biete, die Demokratie zu retten. Um ein Uhr mittags, kurz nach den Knödeln, dem veganen Schnitzel oder der kulinarischen Kaffeelösung. Weil keine Zeit bleibt. Mir bleibt ja nie Zeit. Die Zeit ist immer schon futsch, bevor ich loslege. Diese Radiosendung brachte mich dennoch innerlich auf Punkt eins, weil ich mich jener vagen politischen Welterklärung anheim gab, die von der sogenannt engagierten Literatur immer abgefragt wird und deren Ausübung nicht die Sache dieser Literatur sein kann, selbst wenn sie deren Antriebskraft bleibt. Also die Frage nach Aufklärung, Solidarität, Freiheit und somit auch nach der Möglichkeit, sich gemeinsam die Welt zu erklären, und in dieser zu koexistieren. Wie können wir die Demokratie retten, das europäische Projekt? Ist es nur noch ein Projekt der Eliten? Wie können wir der sozialen Spaltung und unseren Blasen entkommen, ja, der Hatespeech etwas entgegensetzen? Was tun angesichts der massiven ökologischen Krisen? Fragen, auf die es bereits ständig Antworten gibt, die zu wiederholen man mich aufmuntert. Schon das für künstlerische Äußerung übliche Streben nach Originalität wäre dabei verkehrt. Und die mich nach solchen Sendungen erreichenden Welterklärungsmails, Klugscheißerei, etwas Hass, aber auch freundlich gemeinte Zuschriften sind das Echo solch einer Übung. Plötzlich war es da, das sich mir erklärende Waldviertel, das sich mir eröffnende Tiroler Bergland, die mich angreifenden Vorarlberger Meldungen, ganz Österreich umgab mich plötzlich als Zuschrift und Korrektur, dass ich es falsch, aber nicht ganz so falsch gesagt hätte, oder komplett idiotisch sei, hirnrissig, ein willfähriges Werkzeug der Mächtigen, dumm wie Bohnenstroh, nein, sowas sagt man in Österreich nicht – fake news! Solche Zuschriften hätte es immer schon gegeben, erläutert man mir, das gehöre zum Job dazu. Mein Fehler war nur, dass ich darauf reagiert habe. Ja, da waren sie wieder, die Schienen der Selbsterklärung. Runter von dem Gleis!

Mark Twain zu Beginn von Huckleberry Finn: „Wer versucht, in dieser Erzählung ein Motiv zu finden, wird gerichtlich verfolgt; wer versucht, eine Moral darin zu finden, wird des Landes verwiesen; wer versucht, eine schlüssige Handlung darin zu finden, wird erschossen. Auf Befehl des Autors, durch G. G., Chef der Artillerie.“

2. Pläne einhalten

Das habe ich nie gemacht, darüber weiß ich nichts zu berichten …

3. Schärfer stellen, Unschärfe abstellen, Distanz verlieren (oder zu lange)

… also weiter im Text. Ja, wir befinden uns mitten in einem Wald der Legitimationsdiskurse! Und darin ruft der Ambassador der Wirklichkeit: „Schärfer stellen!“ Auch Bertolt Brechts Wahrheit war schon konkret und sie will es auch bleiben. „Wir müssen wissen, was Sie verdienen und womit Sie ihr Geld verdienen, Sie literarische Figur, Sie!“ – „Recht hat er, nur heraus damit.“ Er gibt es nicht heraus, weil er es nicht hundertprozentig weiß. Also nicht wirklich. Und sie weiß nur, wohin sie gehen muss, also welche Ansuchen sie schreiben muss, um Geld zu bekommen für ihre Tätigkeit. Und diese Figur da hat überhaupt keine Ahnung, woher ihre Miete kommen soll. Ja, genau, die mit den wuscheligen Haaren, Sie haben es schon geahnt, so jemand weiß immer nicht, wie die Miete reinkommt. – „Das ist doch ein Bäcker.“ – „Also, das hätte ich jetzt nicht gedacht.“ – „D.h. Brauerei, irgendwas mit Hefe.“ Während wir den beiden Stimmen zuhören, was ein Bäcker heute so ist oder sein kann und wo sein Bäckerdasein nun wirklich aufhört, und wie das ganze überhaupt zu finanzieren ist, spuken Literaturkritikerinnen in ihren Befunden über Genauigkeit, nein die Präzision von Texten durch die Szene, die mir vorschwebt. In besagten Kritiken wirkt es immer so, als meinten sie das Scharfstellen eines optischen Instruments, als wäre der Text das objekthafte Werkzeug, um etwas Dahinterliegendes zu sehen, mit einigen Mechaniken einstellbar. Ein Fernglas wie das in Pasolinis Saló oder die 120 Tage von Sodom herumgereichte Instrument zur Steigerung der Lüste. Das literarische Sichtfeld bleibt in dieser Vorstellung allerdings auf sicherer gleichbleibender Distanz.

Schärfe geht mit Unschärfe einher, das wissen die Optiker. Und dann gibt es noch diese Gruppe an Denkerinnen, die wie die australische Literatin und Theoretikerin McKenzie Wark sich aus einer marxistischen Perspektive in die Tradition einer „Tektakologie“, einer neuen Verbindung zwischen Naturwissenschaft und Geistes- und Sozialwissenschaft begeben, und über einen agentiellen Realismus nachdenken, während ich in den Unterhosen des Realismus da sitze und versuche, noch ins Gespräch zu kommen, also in die Erfahrungshaushalte der Menschen einzusteigen. Eine Tätigkeit, mit der ich selbst im Shutdown nicht aufhören kann, die sich aber als nicht sehr produktiv erweist. Gesprächsfuror, sowas ist immer auch ein Kurzschluss, aber auch ein Garant für sich verstellende Schärfegrade. Die Erfahrungshaushalte der Menschen haben keine Fenster, in denen man (schon gar nicht digital) von außen die Jalousien hochziehen kann, man kann nicht hineinsehen, weil man sich mit ihnen niemals im selben Raum befindet, „die Blindheit der Erfahrung als Ausweis ihrer Authentizität“ (Heiner Müller) ist kein einfach besuchbarer Gegenstand. Schärfe ist ein Verhältnis, eine Konstellation, eine Reibung unterschiedlicher Optiken. Sie benötigt Unschärfe, mit der man sich sicherlich aus allem rausreden kann. Diese sollte aber nicht zum Kaschieren der erzählerischen Faulheit, nicht zur Weltabgewandtheit dienen. Sie sitzt zwischen aktiv und passiv, zwischen abstrakt und konkret, zwischen Akteur und Umfeld, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Folge und Ursache … und das mitten in den Verwerfungen eines Misanthropozäns (Clover/Spahr).

Aber Moment! Jemand im Hintergrund murmelt gerade etwas undeutlich: „In der Demokratie kommen wir nicht um Wahlergebnisse herum, um Repräsentation und um Kompromisse.“ Aber die Literatur kann nicht nur mit den Repräsentanten verhandeln, wie McKenzie Wark in „Molekulares Rot“ verdeutlicht. Trotzdem, alleine die Distanz zu verlieren …

4. In die Verlängerung gehen, sich selbst unterbrechen

Über Distanzverlust habe ich gar nicht wirklich etwas gesagt, nichts, dabei gäbe es so viel zu sagen, aber ich komme gegenwärtig nicht raus aus dieser Situation mit …

Was verlängern wir hier – etwa die Wirklichkeit? Die eigenen Texte? Das Programm, das einem mitgegeben wurde. Neoliberale Mustervollstreckung, heteronormatives Programm – Wo fängt mein Unlearning an, wer ist mein Zimmerkollege dabei? Und mit wem mache ich überhaupt weiter, wenn das Weitermachen nicht abzustellen ist? Rolf Dieter Brinkmann hat uns schon weitermachen sehen in Westwärts 1&2, da hat er uns alle weitermachen sehen, zwei Seiten lang und diese zwei Seiten gehen weiter, denn wir sehen uns nur noch mehr weitermachen, jetzt vielschichtig, und es steht nur ein Kurzhörspiel eines Helge Schneider dagegen, jenes mit der Verkehrsdebattensendung irgendwelcher 80er Jahre, die in die Verlängerung gehen (Auto! Auto!) Ein Hörspiel, in dem er wirklich alle Stimmen beim Weitermachen nachmacht. Satirische Imitation ist heute ein heikle Praktik geworden, als Mann eine Frau, als Deutscher eine Italienerin (es ging um Sophia Loren), sowas geht nicht mehr. Doch die hilflose Deplaziertheit von Helge Schneiders Nachahmungsdienst bringt die ebenso hilflose Deplaziertheit in dieser typischen Ursprungsprogrammierung zum Erscheinen, und sein lowtec-hafter Irrsinn hebelt den innewohnenden Sexismus und Rassismus aus. Aber wir? Wir machen weiter.

Nennen wir es die breite Gegenwart, die wir fortsetzen, das macht manchmal auch die Theorie, und ich gebe zu, auch ich gehe ganz schön in die Verlängerung, zumindest in meinem Lebens- und Arbeitsbereich, meinen Produktionsvorgängen. Ich rede mich auf Zeitprobleme raus, d.h. auf meine Kinder, die mir Zeitprobleme verschaffen, das ist perfide. Ausgerechnet die, die die Zukunft darstellen, sollen schuld sein, dass ich sie vermassle. Schuld daran, dass ich jetzt erst einmal weitermache, denn ich muss sie ja großkriegen. Irgendwie müssen sie ja großzukriegen sein. Sie wachsen weiter, nach oben, nach unten und auch in alle Himmelsrichtungen, wird behauptet. Zukunft ist heute mehr ein Fehlen an Vorstellungskraft geworden als das Gegenteil.

5. Alles gesagt haben

Will ich hier ausreden? Will ich hier endlich einmal alles gesagt haben? Natürlich, sonst würde ich mich hier nicht zu Wort melden. Ich möchte das eine oder andere unterbringen, niemals aber wirklich alles gesagt haben. Jeder Text endet mit diesem Gefühl: Jetzt reichts aber wirklich. Um dann weiterzugehen in ein „daraus erwächst aber diese oder jene Frage“, ich möchte endlich die Bühne für mich, ich sitze mit meiner Literatur niemals in der Düsseldorfer Berger Kirche, die Johannes Stüttgen, ein Beuysschüler als Treffpunkt der Ringgespräche eingeführt hat, im Rahmen des „Arbeitskreises Direkte Demokratie“, wo eine andere Art miteinander zu sprechen kultiviert wird. Man lerne dort, dass das, was man so brennend sagen möchte, irgendwann von jemand anders gesagt werde, verriet man mir, man lasse sich aber auch ausreden. Das kann ich ganz und gar nicht glauben. Wenn ich spreche, wer spricht dann nicht? Wenn ich nicht spreche, wer sagt meine Sachen? Wie ist dieser Raum geregelt? Und was wird bei dem gleichzeitigen Sprechen der Literatur gehört? Wer hört zu? „Literatur als soziale Plastik“ lautet eine Überschrift in meinem Programm, unter der u.a. der Name Milo Rau steht, aber im Grunde führen zu wenig Linien aus seiner Arbeit zu mir, wenn ich ehrlich bin (eine zu umständliche Sünde, um sie hier anzuführen, vielleicht gar nicht sündenkatalogfähig?). Immer interessiere ich mich noch zu sehr für die Herrschaftssprachen und für Herrschaftswissen, immer noch zu wenig für die Widerstandsgesten, für die Seite der Unterdrückten. Also für den Ort, an dem das Drama seinen wahren Wohnsitz hat.

Dort wo ich mich aufhalte, herrscht dieses eine Gefühl vor: Endlich ausreden zu wollen. Und mitten dahinein platzt dann und wann der Gedanke, ob ich wohl abgehört werde. Vielleicht sage ich ja das Falsche, das, was mir dann auf die Füße fällt. (Zum Telefon greifen! Partnerländer sichern!) Der paranoische Gedanke, den Gilles Deleuze so wunderbar dekonstruiert hat, weiß genau, wann er sich einstellen muss. Paranoia ist die gesellschaftliche Antwort meiner misslingenden Subjektivierungsstrategie.

6. Abschreiben

Nein, nicht so, wie Sie das jetzt denken, also dass ich abschreiben würde, also Copyrightverbrechen, klar, da kommen Sie jetzt drauf, das ist so Ihre Welt … Nein, es geht um das Abschreiben der Möglichkeiten, Abschreiben der Zukunft, die enttäuschten Hoffnungen, und das sind ja nicht wenige. Das Abschreiben des öffentlichen Raums, wie es sich gerade herausstellt, findet statt. Schnell haben wir uns an das gewöhnt, was jetzt ist. Wenn nur die Kinderbetreuung stehen würde, wenn nur die Pflege der Alten stehen würde, dann gäbe man sich schon zufrieden. Erstmal. Ein paar Sportstätten bitte, aber nicht mehr. Dass (nicht nur) in diesem Land alle gut leben können sollten, den Gedanken des guten Lebens für alle, den habe ich eigentlich bereits abgeschrieben, ohne es zu wissen. „Der Geschichte ins Weiße im Auge zu sehen“, so Heiner Müller, ist immer noch eine zu erlangende, nicht abzuschreibende Fähigkeit.

Aber inmitten dieses Nachdenkens über das Abschreiben werde ich noch einmal von dem Gedanken meiner Abhörbarkeit unterbrochen. Etwas schwächer bereits: Wie abhörbar bin ich eigentlich? Noch nie soviel telefoniert wie in diesen Pandemiezeiten, aber wer ist noch alles mit in der Leitung? Und was sind das für Zoom-Räume, in denen wir uns begegnen – was davon erfasse ich nicht? Wer sitzt mir tatsächlich gegenüber in den blinden Kästchen? Der, dessen Name draufsteht? Vielleicht sind es viele? Der paranoische Gedanke weiß wirklich genau, wann er sich einstellen muss.

7. Zum Ernennungsminister werden, nein, immer kürzer werden, nein, Recht haben

Ich sagte doch bereits, die volle Gesundheit, also das Mehr an Gesundheit (mehr Gesundheit geht immer), das Plus, das wir hier erreichen können, also die ganze Gesundheit (also die will ich haben), das ginge nur wenn …Verdoppeln sie Ihre Gesundheit (setzen Sie auf mich), raus aus Ihrer Gesundheit können Sie nicht einfach so und sich in eine Krankheit hineinstehlen, deren Namen ich finden müsste, füllen Sie also alle Behältnisse Ihrer Gesundheit auf – Ich wünsche Ihnen ein fließendes Dasein im Gesundheitsbereich. Sie werden schon merken, wenn Sie krank sind, dann wird alles eben Gesagte Makulatur. Der, den es erwischt, sieht in jeder Rede über Gesundheit einen zynischen Angriff, das Nachdenken darüber vergeht sofort. Zerotoleranz für Keime. Zerocoronahashtag. Während wir mit dem Leben gegen das Leben argumentieren, und die einen und die anderen sich zu Wort melden, dass die eine oder andere zuerst geimpft werden sollte, stellt sich bei mir immer mehr die Überzeugung ein, dass ich in dieser Debatte nichts verloren habe. Ich möchte nicht entscheiden, wer zuerst geimpft wird, ich möchte nicht entscheiden, was das für eine Krankheit ist, ich möchte nicht entscheiden, welcher Quarantäneplan jetzt sinnvoller ist und welcher unsinniger ist. Ich kann es gar nicht und bin angewiesen auf die Entscheidungen anderer.

Nein, kein Ernennungsminister (männl.) werden. Dazu gehört auch: Nicht andauernd Dringlichkeitssitzungen auszurufen. Überall gibt es sie jetzt. Dringlichkeitssitzungen in Radiosendern, in Unternehmen, Regierungen, immer ist die Zeit weg, schon aufgebraucht, schon abgebaut, immer gibt es diesen internen und externen Druck, die Angst um die Arbeit, um die Gelder, und immer gibt es dazu die Feststellung einer fehlenden Debattenkultur. Und was kommt dabei heraus: „Um das lange Wort zu retten, müssen wir es kürzen.“ Hieß es z.B. bei der Radiodringlichkeitssitzung, wo man über Tagesinnenflächen, über Prime Time und Drive Time eines Mediums nachdachte. Das Fazit waren immer gewaltige Kürzungen im Kulturbereich.

Nein, kein Ernennungsminister werden. Dazu gehört allerdings auch: sich allzuschnell zum Opfer ausrufen oder jemanden als solches bezeichnen. Opfer-Täterspuk betreiben (Spucke meist dabei). Nazis, die andere schreiend als Nazis bezeichnen. Unvergessen diese sächsischen Szenen, in denen sich Pegida und Antifa gegenüberstehen und gegenseitig mit Nazirufen anschreien. Das war keine Symmetrie, (ich stelle nie Symmetrien her), das ist eine rechte Strategie, Sie wissen das. Die Symmetrien, die da immer wieder behauptet werden, kommen auch von Ernennungsministern. (Links wie rechts gebe es Extremismus usw.) Hufeisen werden geworfen und treffen die, die nicht ins Licht kommen.

Aber: Das Opfer muss angebetet werden, schreibt Elfriede Jelinek in ihrer Rechtfertigungsorgie „Schwarzwasser“, man muss Opfer werden. Dieser Mode, mit dem gefühlten Opferstatus zu argumentieren, während andere tatsächlich Opfer sind, ist am ehesten damit zu begegnen, dass Fürsprache zu einer Ermächtigung werden kann. „Ab jetzt wird zurückgelacht“?

Nein, nicht zum Ernennungsminister werden. Es ist ja nicht mehr zu überblicken, wer alles unter einem neuen Holocaust leidet. Doch die Achille-Mbembe-Debatte in unserem schönen Nachbarland, eine Hoheitsdebatte über den Genozidbegriff, lehrt auch, dass, neben dem üblich gewordenen Ausrechnen der Toten, nicht über kolonialen Terror zu sprechen ist, weil dieses Gespräch den Holocaust verharmlose. Die Vermehrung toxischer und sich verselbstständigenden Debatten erzeugen die Situation, in der alles, was ich sagen könnte, immer schon verkürzt ist. Literatur als Instanz der Verwicklung darf nicht in diese Verkürzung gehen, nicht mit hineingehen und in ihr verschwinden.

8. Den Selbstwiderspruch zelebrieren

Pech gehabt. Eine achte unter den sieben Todsünden gibt es nicht. Der achte Punkt wird also gestrichen. Und unterhalb dieses Striches lungern sie hier herum, die handelsüblichen Sünden niederer Temperatur: Einsprachigkeit. In der Horizontale bleiben, nur in die Vertikale gehen, den Wechsel zwischen Schärfe und Unschärfe nicht organisieren, ach, hatte ich ja schon, also mich wiederholen, einen Exorzismus betreiben und die Sache für erledigt halten, die Umstände nicht betrachten, den Rahmen nicht thematisieren, Kontextfragen manipulieren, ohne es zu wissen, nicht mit dem Gegenüber rechnen, Exploitation betreiben (das ist nun wirklich nichts Neues), nichts Neues sagen, nur Neues zu sagen behaupten. Keine Direkteinsätze zuzulassen, nur im Konjunktiv stecken bleiben, zuviel Hypotaxe, zuviel Parataxe. Dem Zweifel zu wenig oder zuviel Raum geben, kein tänzerisches Vermögen besitzen oder zuviel Tänzerisches – keine Kalibrierung des Blicks unternommen haben, die Selbstbefragung unter oder überschätzt haben. Sich überschätzen, sich unterschätzen, die falschen Partnerinnen suchen, Zusammenarbeiten ausschließen, Zusammenarbeiten übertreiben. Dem ersten Einfall folgen oder ihm gar nicht folgen, mit der Verkürzung der Dinge ständig argumentieren, am Ende immer kürzer werden wie hier (und die Skizzenhaftigkeit herausstellen), also nicht wirklich dran bleiben, zu sehr dran bleiben, sich auf Verweigerungsschienen befinden, sich nicht festmachen wollen, und so weiter und so fort – sagen Sie jetzt nicht: „alles nur eine Frage der Maßverhältnisse!“ Alles für eine Frage der Maßverhältnisse halten, denn die sind schon prekär geworden, immer im Rutschen.

Angst zu haben ist übrigens keine Sünde und schon gar keine Todsünde. Das ist mehr so eine Realität. Die Angst steht uns derzeit allen ins Gesicht geschrieben. Sich insofern am Alphabet der Ängste versuchen, vom panischen Aufflackern in den Augen des Schwarzwasser-Politikers, bis zur verzweifelten Suche der Notstandsmenschen, kann dennoch als Bewegung raus aus dem Sündenkatalog gesehen werden (wenn man denn rausmöchte), in dem ganz zuletzt, kleingedruckt, steht: Todsünden aufschreiben. Aber nicht so schlimm, wir sind in Österreich.